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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 14.1900

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20. Heft
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Stimmungen
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325

Hmmungen.

Selma Dicbloss-Kempnetr.

---•---- [Nachdruck verboten.]

brotlose Kunst. Sclma sollte „Schneidern" lernen, das war etwas reelles
und konnte einmal einen ordentlichen Batzen abgeben. Selma wurde
[n den eleganten, mit allen Trics des modernen Komfort ausgestatteten also zu einer Schneiderin in die Lehre gebracht, und zwar zu einer Frau
Räumen einer Künstlerwohnung im Westen Berlins wurde zu Beginn Hcntschel in der Schönhauser Strasse. Das Unglück wollte, dass der
dieses eisigen Aprilmondes ein fünfzigster Geburtstag gefeiert. Mann dieser Schneiderin Musikdirektor und Klavierlehrer war, und die

Im allgemeinen werden fünfzigste Geburtstage von unseren Künst- kleine Selma insgeheim bei ihm statt bei seiner Frau in eine Art von
lerinnen ungern oder stark verspätet begangen. Hier war weder das eine Lehre ging. Hauptsächlich beschränkte sie sich aber darauf, während die
noch das andere der Fall. Selma Niklass-Kempner wurde am zweiten April Schneiderin zu ihren Kunden wanderte um Anproben abzuhalten, die anderen
nachweisbar fünfzig Jahre alt, und die Freude und herzliche Liebenswürdig- Lehrmädchen mit ihrem Frühstück zu bestechen, damit sie ihre Arbeit
keit mit der sie ihre zahlreichen Gäste begrüsste, Hess nicht darauf schliessen, übernahmen, während sie sich ans Klavier setzte und ihnen stundenlang
dass ihr dieser Festabend so zu sagen über den Kopf fort oktroyiert Lieder sang. Lange währte dieses musikalische Schneiderintermezzo nicht,
worden wäre, und dass sie ihren Fünfzigsten lieber in stiller Zurück- denn ehe sie einen Stich nähen gelernt, brachten ihre Wohlthäterinnen sie
gezogenheit vertrauert hätte. Das einzige, das vielleicht einen Schatten zu Jenny Meyer ans Sternsche Konservatorium, an dem sie heut als erste
über diesen Abend warf, war der Gedanke der gastfreien, liebenswürdigen Meisterin wirkt, in die Lehre.

Wirtin, trotz der prächtigen Musik- und Gcsellschaftsräume ihres neuen Nach drcieinhalbjährigem Studium wurde sie vom „alten Engel", der

Heims, nicht die gesamte ausgedehnte Schar ihrer Freunde und Verehrer damals die Krollschc Oper durch den Winter führte, während er gewöhn-
bei sich begrüssen zu können. Dazu hätte nun freilich keine Privatwohnung lieh nur Sommerspielzeit hatte, für das laufende Jahr mit der damals für
ausgereicht, das Hess sich an der Depeschen- und Blumenfülle erkennen, eine Anfängerin ganz ungewöhnlichen Gage von tausend Thalern enga-
die nicht allein aus Berlin hereingeflutet kam, giert. — Von Berlin ging Sclma Kcmpncr an die

sondern auch von Kunststätten Grüsse und Aachener, Augsburger und Leipziger Oper, und

Wünsche brachte, an denen die Sangesmeisterin von dort nach Rotterdam, wo sie durch zehn

gewirkt, che sie vor sieben Jahren nach Berlin, p; S Jahre der gefeierte Liebling des Publikums

der Ausgangsstätte ihres Wirkens, wieder <v-J und der Kritik war, und trotz ihrer angestrengten

zurückgekehrt war. Blumen und elektrische Imjßt" jfl Thätigkeit bei der Oper noch eine grosse

Grüsse brachten eine Fülle lieber Erinnerungen Anzahl von Unterrichtsstunden erteilte,

mit, und mit den Gestalten und Gesichten die '..fäBBft^ik 111 Rotterdam lernte sie ihren Gatten, Pro-

mit ihnen kamen, stieg -<> manches halbver ■ JHm^DH^ft :: l< ssor Nicklass, kennen, und sagte, um ihm

gessene Bild wieder auf. ' . m nach Wien folgen zu können, nach einer Ab-

Die auf der Höhe ihrer Kunst und ihrer f'W schiedsfeier, die an aufrichtiger Wärme und Ver-

Lehrmeistcrschaft stehende Frau mochte sich an V? ^f * ß chrung ihres gleichen suchte, der Bühne Valct.

jenem Abend inmitten des Glanzes der sie um- MwSF/ ■ I Frau hat sie sich nur noch dem Konzert-

gab, auch ihrer traurigen armseligen Kindheit :. ^K?"NHpEVfrfl Wk gesang und dem Unterrichten gewidmet. Acht

und ersten Jugend erinnern, in der der Durst ^✓Ql V^t m Jahre lang hat sie in Wien als erste Meisterin

und Iii ng>-! i i "v: : ' Ki usl schon . am Wiener Konservatorium gewirkt, und unter

gross in ihr gewesen und niemand war, der ihn ,1 IfHjffr Im " jjBKBäBm'' anderen die heut an erster Stelle wirkenden

stillen wollte. Ein heiteres Moment in diesen , "■,Künstlerinnen, Louise von Ehrenstein, Lotte

Erinnerungen spielt derUmstand, dass die ersten Kussmitsch, die Damen Lederer und Michalek,

Worte des kleinen kränklichen Mädchens, das die in Mannheim wirkende Henriette Dima, das

mit vier Jahren überhaupt erst zu sprechen Dresdener Hofopernmitglied Fräulein Fröhlich

begann, „Robert, Robert, mein Geliebter" waren, u. s. w. ausgebildet.

die sie von ihrer Schwester, die gerade Meyer- In Berlin setzt Frau Nicklass-Kempner ihr

beers Oper besucht hatte, hörte. — Schon an =———------—■- Lehrmeisteramt mit unermüdeter Treue und nie-

dem winzigen Schulmädchen fielen Wohllaut Frau selma Nicklass-Kempner. mals rastender Energie fort. Es scheint schier

und Süssigkeit der Stimme auf, aber niemand dachte daran, konnte, wie unbegreiflich, welch eine Arbeitslast die Schultern dieser Frau tragen,
die Verhältnisse lagen, darandenken, die arme kleine Selma in der Musik Fünfundsechzig Schülerinnen im Sternschen Konservatorium, dazu eine
ausbilden zu lassen. In dem Wohlthätigkeitsinstitut in Berlin, in dem sie oft wechselnde Zahl von Privatschülerinnen, so dass zumeist acht bis zehn
erzogen wurde, ward einigen der Mädchen Klavierunterricht erteilt. Da lag Unterrichtsstunden auf einen Tag fallen. Dabei ist sie die zärtlichste
sie oft mit Thränen in den Augen auf der Schwelle vor dem verschlossenen Mutter ihrer vier begabten Kinder, von denen sie ihren ältesten Sohn,
Paradies und lauschte mit wehmütigem Neid auf den Unterricht, der da Siegfried, einen dreizehnjährigen, eminent musikalischen Knaben, schon
drinnen erteilt wurde und an dem sie nicht teilhaben konnte. So war sie vier- heut als ihren besten Begleiter rühmt.

zehn Jahre alt geworden, bis das Schicksal ein Einsehen mit ihr hatte. Bei Ein Liederabend der Nicklass-Kempner ist ein Fest für das musika-

ciner Schokolade, die eine Wohlthäterin der Anstalt den grösseren Zöglingen lische Berlin. Ihr selbst bieten diese Abende ein grosses, reines Glück,
gab, wurden die Kinder gefragt, ob keines von ihnen etwas deklamieren Auf jedes Lied, das sie singt, freut sie sich wie ein Kind, nur in erhöhter
oder singen könne, da wurde von ihren Genossinnen, denen sie im Laufe Potenz, denn es ist die Freude des Gebens, die sie beseelt. In ihrem Konzert-
der Jahre so manches Lied gesungen, die kleine Kempner in den Vorder- repertoir bevorzugt sie ausser Brahms, dem ihre ganze Seele zu eigen, vor-
grund geschoben, und ohne jemals auch nur eine Stunde Klavierunterricht nchmlich Peter Cornelius, Richard Strauss und Adalbert von Goldschmidt,
genossen zu haben, setzte Sclma sich ans Klavier und sang Lied auf Lied, . Obenan stehen die Namen dieser modernen Meister auch beim Unter-
bis den Veranstalterinnen des kindlichen Festes die Thränen in die Augen richten, nachdem die Lernenden in die Klassiker eingeführt worden sind,
traten und der feste Vorsatz zum Ausdruck kam, für die Ausbildung dieses Wie schon betont: ein Liederabend der Nicklass-Kempner ist ein

seltenen Talentes zu sorgen. Bevor diese Absicht aber ausgeführt werden Fest. Eine intimere, nicht zu vergessende Feierstunde aber ist es, wenn
konnte, fand noch ein kleines Intermezzo statt. Die vierzehnjährige Selma sie in ihrem Heim mit ihrer süssen, durch Jahre und Arbeit unberührten
sollte verdienen. Dass dieser angenehme Umstand durch die Kunst zu er- Stimme, mit ihrem unvergleichlichen Vortrag Lied auf Lied singt, Auge
zielen sei, wollte denen, die über das Geschick des Mädchens zu be- in Auge mit ihrem vergötterten Knaben, dessen junge, werdende Kunst
stimmen hatten, nicht in den Sinn. Gesang war ihnen ohne weiteres eine sich zärtlich und gedankenvoll zugleich der reifen der Mutter einschmiegt.

ßora Duncker,

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XIV. 20. IV.
 
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