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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 14.1900

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12. Heft
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Emanuel Reicher
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https://doi.org/10.11588/diglit.22226#0303

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MODERNE KUNST.

191

»manuel Reichel*.

-- [Nachdruck verboten.]

\ enige Bühnenkünstler wird es geben, die ihre Kunst so unpersön-
lich, so ausschliesslich aufs Allgemeine gerichtet erfassen, wie
^ Emanuel Reicher es heute thut. Nicht, dass er immer so gedacht
und empfunden hätte. Der junge, hochbegabte Künstler hat mit gutem Recht
seinen persönlichen Ehrgeiz besessen. In seinem Streben, für sich selbst das
Höchste zu erreichen, lag jener gesunde Egoismus, den die Jugend haben
muss, um vorwärts zu kommen. Dass heut dem reifen Mann die Grund-
stimmung seines Wesens eine andere geworden ist, dass ihm heut die Dar-
stellungspflicht über der Darstellungsfreude steht, dass er weit intensiver
in die künstlerische und soziale Hebung des gesamten Schauspielerstandes
sich versenkt als in die Aufgaben, die sich um seine eigene Person
gruppieren, hat seine manigfachen Ursachen.

Die zwei vornehmlichsten scheinen mir zunächst in dem tiefen sitt-
lichen und künstlerischen Ernst zu liegen, mit dem Reicher die Aufgabe
des Schauspielers nicht nur erfasst, sondern auch beurteilt und gewürdigt
wissen will, und ferner in dem ausgesprochen pädagogischen Element, das
ihm von je im Wesen gesteckt und sich mit den Jahren und den Erfahrungen
immer mehr herausgeschält hat.

Es ist keine Redensart und keine Koketterie, sondern aus dem Stand
seiner heutigen Auffassung herausgewachsen, wenn er in völliger Ruhe und
Abgeklärtheit davon spricht, dass es ihm eine grosse Freude machen würde,
wenn er heut dazu käme, im Deutschen Theater den Lear zu spielen, dass
es ihm aber eine weit grössere Genugthuung gewähren würde, einen anderen
Werdenden und Lernenden so weit zu bringen, dass er den Lear in der
ihm klar vor Augen stehenden Vollkommenheit bewältigt, und zwar in dem
Stil, den die heutige Bühnenkunst erfordert, die wohl in der Verkörperung
der Modernen weit vorgeschritten ist, dem klassischen Drama aber noch
vieles schuldig bleibt. Auch darin empfindet Reicher richtig. Man kann
heut Ibsen und Hauptmann nicht nur spielen, sondern man spielt diese
beiden modernen Riesen auch mit vollem Bewusstsein in dem neuen Dar-
stellungsstil, den sie bedingen und erfordern, während den klassischen Meister-
werken gegenüber noch immer suchend umhergetappt wird. Der alte Stil
ist überwunden, der neue aber, dessen Aufgabe es sein wird, den psycho-
logischen Gehalt der Charaktere vollständiger zu durchdringen und zu
erschöpfen als es bisher der Fall gewesen ist, ohne dabei den Schwung der
Sprache zu vernachlässigen oder gar in einen übelangebrachten Naturalismus
der Rede zu verfallen, hat sich noch nicht durchgerungen.

AVie impulsiv mitten in der Ausübung der eigenen künstlerischen Thätig-
keit das pädagogische Element aus Reicher hervorzubrechen imstande ist,
möge ein kleines Geschehnis beweisen. Gelegentlich der Aufführung eines
Murgetschen Bohemestückes im Lessingtheater, hatte Reicher die längere
Rede seiner Partnerin mit einem ebenfalls nicht ganz kurzen Satz zu beant-
worten; er aber brachte den Satz nicht und erst auf wiederholtes Anschlagen
des Souffleurs besann er sich darauf, dass er die Replik noch schuldig sei.
Das Publikum und ein grosser Teil der Presse hat ihm nachträglich diese
kleine Stockung als Gedächtnisfehler oder Folge ungenügenden Memorierens
angerechnet, während der Grund zu dieser momentanen Unterbrechung einzig
darin lag, dass die betreffende Schauspielerin ihren Satz so überraschend
hübsch gesprochen, dass Reicher darüber ganz vergessen hatte, er stehe
hier nicht als Hörer und kritisierender Pädagoge, sondern als ausübender
Künstler.

Das Märchen von den Gedächtnisfehlern und dem mangelnden Memorieren
geht Reicher übrigens schon seit einer geraumen Reihe von Jahren nach.
Es entstand zu der Zeit, als er im Residenztheater als einer der ersten die
realistische Spielweise stärker zu betonen begann und sich von der rheto-
rischen, schön hinfliessenden Redeweise befreite. Naturgemäss befremdete
das Stockende, Zögernde, die ungewohnten Gedankenstriche und Pausen, die
den Fluss der Sprache unterbrachen. Die ganze Spielweise war so neu,
wirkte — so wie sie wirken soll — nicht mehr als fremdes, eingelerntes,
sondern als momentane Improvisation, dass das Vorurteil weit und dauernd
um sich griff, Reicher habe seine Rollen nicht inne, seine Rede sei eine
im Augenblick frei erfundene, er halte sich nur im allgemeinen an den
roten Faden, der durch das Dichtwerk geht.

Niemand der sich eingehender und ernsthafter mit Emanuel Reicher
beschäftigt hat, wird an dieses Märchen glauben. Wohl aber trifft es zu,
dass es dem Künstler beim Studium und auf den ersten Proben schwer
wird, sich genügend auf den mechanischen Teil seiner Aufgabe zu kon-
zentrieren. Leicht und wiederholt geschieht es ihm da, dass die Gedanken
von der Wortform ab, in den Inhalt der Rolle hineinschweifen und sich
dort verlieren, so lange er an einer darzustellenden Gestalt feilt und modelt,
so lange er noch nicht mit ihr fertig, noch nicht eins mit ihr geworden ist.
Und selbst dann zieht ihn die Ausarbeitung des Ganzen — nicht dass er
etwa Regisseurpflichten zu erfüllen hätte — häufig von seiner persönlichen
Aufgabe ab, bis das Gesamtbild zu möglichster Volkornnienheit gediehen Ferdinand Lepcke: „Ueberrascht."
 
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