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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 14.1900

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24. Heft
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Bethusy-Huc, Valeska: Wanderndes Volk, [9]: Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.22226#0571

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380 MODERNE KUNST.

die ganze Welt ver- Jutta nahm die beiden Urenkel auf die Kniee und sprach deutsch zu ihnen,

streut — das war „Wo gefällt es Euch nun am allerbesten?" fragte sie.

früher nicht so, da Und die beiden Stimmchen antworteten gleichzeitig:

blieb man sich „Bei de frantösisse Drossmama!"

räumlich näher." Um Madame Stenas Lippen flog ein stolzes Lächeln.

„Es giebt eben „Sehen Sie, so stirbt der sogenannte ,Nationalitätenhass' bei uns am Familien-

heutzutage keine sinn," sagte sie.

Entfernungen Liska sass mit verträumten Augen da. Diese ganze internationale Häus-

mehr," meinte Ma- lichkeit machte einen besonderen Eindruck auf sie. Immer musste sie denken,
dame Stena, „im ob das Haus von Hardys Chef wohl dem der Mutter glich, und noch eine Frage
Hause kann man regte sich in ihr: ob in diesem Hause wohl eine Tochter sei? Diese Vor-
seine Kinder doch Stellung, die ihr bis dahin nie gekommen war, hatte in Madame Stenas Hause
nicht behalten, und etwas Beunruhigendes für sie. Gespannt horchte sie auf, als die alte Dame
muss man ihnen erzählte, ihr Sohn in Russland schreibe in so besonders anerkennender Weise
einmal schreiben, über den jungen Grafen Holkwitz, in dem er einen ebenso zuverlässigen als
so ist es am Ende tüchtigen Mitarbeiter gefunden habe, und den er dauernd an seine Unter-
gleich, ob man den nehmungen zu fesseln hoffe. Aber von einer Enkelin im Hause dieses Sohnes
Brief nach Russ- sprach sie nicht!

land oder Italien XVII.

adressiert. Die Nach Weihnachten führten Geschäftsangelegenheiten den russischen Stena

Hauptsache ist nur, nach Schlesien und Hardy begleitete ihn. Er bat um einen kurzen Urlaub um
dass ein Mittel- Hugo in Tannwald besuchen zu können.

punkt für alle „Das können Sie bequem von meinem Bruder Andre aus machen," sagte

existiert!" Herr Stena, aber es wäre mir lieb, wenn Sie sich vorher in Andres Fabriken

Und sie er- umsähen — der Betrieb ist zwar ein anderer als bei uns, aber man soll keine
zählte, wie sie Gelegenheit vorübergehen lassen, bei der es etwas zu lernen giebt."

als vierzig- „Gewiss, Herr Stena, das ist mein Prinzip auch, wie Sie wissen," erklärte

1 ährige Frau die Hardy.

Heimat ver- Er musste lächeln, wenn er daran dachte, dass er jetzt als Gast zu AndriS

lassen habe, in Stena führe und wenn daneben die Erinnerung in ihm auftauchte, wie er als
der sie bis dahin flotter Primaner, der von künftigen Korpsherrlichkeiten träumte, zuerst hatte
gelebt, um ihrem von Hassos „Kompagnon" sprechen hören. Es war bei einem Liebesmahl der
F. Müller-Munster: Alte und neue Zeit. Manne zu folgen, Dragoner gewesen, zu dem Hugo ihn mitgenommen hatte, und bei dem „man"

der seine Elsasser Spinnereien verkauft hatte, aus Furcht, nach dem Kriege diese Kompagnieschaft Flassos absurd und gewagt gefunden hatte. In Hardys
von 1870 preussisch werden zu müssen. Ohren klang der Ton noch nach, in dem von „einem gewissen Herrn Stena"

„Wir kamen hierher, um in der Nähe unserer Mailänder Spinnereien zu gesprochen wurde,
sein," sagte Madame Stena, denn ich wollte nicht in Mailand selbst bleiben und Acht Tage später brachte Andre" Stenas Equipage ihn nach Schloss Tann-

mein Mann wollte nicht Italiener werden. So liessen wir uns in der Schweiz wald. Als Hardy dort nach zweistündiger Waldfahrt eintraf, während welcher
naturalisieren und ich schuf uns hier eine neue Heimat, denn das Heimat- hundert Jugend-und Kindheitserinnerungen in ihm wach geworden waren, standen
gefühl zu geben und zu pflegen, das ist Frauensache in unserer wanderlustigen ein paar leichte Jagdwagen vor dem Schloss, und der Diener, der den Wagen-
Zeit, in der Erwerb und Beruf sich an keine Grenzen mehr binden." schlag öffnete, meldete: „Die Herrschaften sässen beim Jagdfrühstück, würden
„Und wurden Sie wirklich hier heimisch?" fragte die Gräfin, „mir kommt in einer halben Stunde wieder aufbrechen, und Hardy möchte sich schnell an-
dieses Alveno manchmal vor wie ein grosser Schlammfang, in dem allerlei kleiden, um sich anzuschliessen — so habe der Herr Graf es bestimmt."
hängen blieb, was nicht ins klare Wasser gehört!" »Die Jagdsachen liegen schon in Herrn Grafens Zimmer bereit," setzte der
Madame Stena lachte. alte Diener mit einem Protektionslächeln hinzu.

„Es giebt überall gute Menschen, man muss sie nur zu finden wissen und Hardy hatte seine Jagdausrüstung in Tannwald gelassen, da er sich sagte,

was kümmert es mich, wenn mein linker Nachbar als Sklavenjäger reich wurde dass er sie in seiner jetzigen Stellung nicht brauchen würde, und es mutete ihn
und mein rechter, weil er den Vizekönig von Aegypten betrog? Ich besuche an, als ob er mit dem ersten Schritt in die alte Heimat auch einen anderen
sie nicht — das ist alles! Hier bin ich zu Hause und alle meine Kinder wissen, Menschen anzuziehen habe, als der alte Diener, an dem die zwei Jahre seit
dass sie eigentlich hierher gehören, aber nachdem wir unser altes Vaterland Hardys letztem Hiersein spurlos vorüber gegangen waren, ihm von den „Jagd-
aufgegeben hatten, musste es jedem unserer Kinder
frei stehen, sich ein neues zu suchen. Mein ältester
Sohn übernahm nach dem Tode meines Mannes die
Mailänder Fabriken, der zweite ging nach Russland,
der dritte nach Schlesien, meine Töchter verheirateten
sich in Frankreich und der jüngste, mein Nest-
häkchen, assoziierte sich dem Mailänder Bruder. Den
hoffe ich Ihnen nächstens vorstellen zu können."

Durch die Thür des Gartensaales kamen die
beiden Urenkelchen und drängten ihre Köpfe an
Madame Stenas Knie.

Sie strich über die blonden Scheitel.

„Da sehen Sie nun, diese beiden da sind kleine
Deutsche, denn meine beiden Enkeltöchter heirateten
deutsche Männer, und die Kleinen haben alle Ursache,
mit ihren Vätern zufrieden zu sein. Aber deutsche
Urenkel sind ein komisches Resultat für Leute, die
das Elsass verliessen um nicht deutsch werden zu
müssen! Dafür habe ich es mir auch längst ab-
gewöhnt, mir die Welt durch verschiedenfarbige
Schlagbäume abzugrenzen, und die Babies da sind
gerade so herzig, ob sie nun die Wacht am Rhein
oder die Marseillaise zirpen. Sie müssen nur schon
in der Kinderstube lernen, dass weder das eine noch
das andere Lied etwas Böses bedeutet."

Nun drängte auch die übrige Kinderschar auf die
Veranda und es war ein hübsches Bild die Greisin,
von den blond- und braunlockigen Enkeln umringt,

unter den rankenden Rosen sitzen zu sehen. p, Müller-Münster: Katzenquadrille.
 
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