Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 4.1912
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https://doi.org/10.11588/diglit.25673#0580
DOI issue:
14. Heft
DOI article:Fortlage, Arnold: Die internationale Ausstellung des Sonderbundes
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DIE INTERNATIONALE AUSSTELLUNG DES SONDERBUNDES
Äbb. 2. VÄN GOGH, Eifenbahnkrücke
[o umfaffenden Weife — wie es bisher in Deutfchland noch nicht der Fall ge-
wefen, und wies auch wohl nicht wieder möglich fein wird — den Reichtum diefer
Kunftoffenbarung; man erkennt die innigen Beziehungen zu vorhandenen Werten, zu
Daumier (etwa in den grotesken Kartoffeleffern und ähnlichen) und über diefen hinaus
zu Millet, in dem er die Bafis einer primitiven Volkskunft fand, Vorlagen gewiffer-
maßen für Bildniffe der Menfchheit, der unter dumpfem Druck Dahinlebenden. — Die
malerifche Tradition, wie fie dem Sohne des Landes, das einen Franz Hals fein
nannte, mitgegeben war, erfcheint bereichert durch Delacroix, verfeinert durch die Ein-
flüffe der Impreffioniften (auch Monticellis), um fchließlich noch von Cezanne edelfte
Anregung zu empfangen. Und nun entftanden die für van Gogh charakteriftifchen
und ergreifenden Tafeln in langer Reihe, Landfchaften, Stilleben, Porträts, erfchütternd,
beraufchend. Man fieht’s, hier ringt ein Neues fich los, und man verfteht auch, warum
der Schöpfer zum Märtyrer werden mußte. Zwar fein Glaube an eine dämonifche
Schöpferkraft, die begnadeten Menfchen gegeben, um andere Menfchen zu beglücken,
verließ ihn nicht, der geleitete ihn zu Äußerungen einer Kraft, die immer Schönheit
ift. Hell klingt der Farbe Zaubergewalt, und zu der Heftigkeit, gefchmackvollen Kom-
bination und quantitativen Verteilung der Farbmaffen kommt eine ausdrucksreiche Aus-
geftaltung des Linienfpiels; und es entwickelt fich bei ftetem Verfolgen des Prinzips
der Vereinfachung gleichzeitig eine Pracht, die faft über alle früher erreichte Wirkung
des Staffeleibildes hinausgeht. Gleichartig neben den rein artiftifchen Werten ftehen
in der Kunft van Goghs die pfychifchen, und als eine von den Perlen, in denen beide
Momente vereinigt find, verdient die „Arleferin“ hervorgehoben zu werden, die Frau
mit dem rätfelhaften Blick, den man kaum auffängt, und den man doch nie wieder
vergißt. Die Farben find in dem hier abgebildeten Exemplar noch fchöner als in den
verfchiedenen Varianten und fo disponiert: vor gelbem Grunde ftü^t das indigofarbene
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Äbb. 2. VÄN GOGH, Eifenbahnkrücke
[o umfaffenden Weife — wie es bisher in Deutfchland noch nicht der Fall ge-
wefen, und wies auch wohl nicht wieder möglich fein wird — den Reichtum diefer
Kunftoffenbarung; man erkennt die innigen Beziehungen zu vorhandenen Werten, zu
Daumier (etwa in den grotesken Kartoffeleffern und ähnlichen) und über diefen hinaus
zu Millet, in dem er die Bafis einer primitiven Volkskunft fand, Vorlagen gewiffer-
maßen für Bildniffe der Menfchheit, der unter dumpfem Druck Dahinlebenden. — Die
malerifche Tradition, wie fie dem Sohne des Landes, das einen Franz Hals fein
nannte, mitgegeben war, erfcheint bereichert durch Delacroix, verfeinert durch die Ein-
flüffe der Impreffioniften (auch Monticellis), um fchließlich noch von Cezanne edelfte
Anregung zu empfangen. Und nun entftanden die für van Gogh charakteriftifchen
und ergreifenden Tafeln in langer Reihe, Landfchaften, Stilleben, Porträts, erfchütternd,
beraufchend. Man fieht’s, hier ringt ein Neues fich los, und man verfteht auch, warum
der Schöpfer zum Märtyrer werden mußte. Zwar fein Glaube an eine dämonifche
Schöpferkraft, die begnadeten Menfchen gegeben, um andere Menfchen zu beglücken,
verließ ihn nicht, der geleitete ihn zu Äußerungen einer Kraft, die immer Schönheit
ift. Hell klingt der Farbe Zaubergewalt, und zu der Heftigkeit, gefchmackvollen Kom-
bination und quantitativen Verteilung der Farbmaffen kommt eine ausdrucksreiche Aus-
geftaltung des Linienfpiels; und es entwickelt fich bei ftetem Verfolgen des Prinzips
der Vereinfachung gleichzeitig eine Pracht, die faft über alle früher erreichte Wirkung
des Staffeleibildes hinausgeht. Gleichartig neben den rein artiftifchen Werten ftehen
in der Kunft van Goghs die pfychifchen, und als eine von den Perlen, in denen beide
Momente vereinigt find, verdient die „Arleferin“ hervorgehoben zu werden, die Frau
mit dem rätfelhaften Blick, den man kaum auffängt, und den man doch nie wieder
vergißt. Die Farben find in dem hier abgebildeten Exemplar noch fchöner als in den
verfchiedenen Varianten und fo disponiert: vor gelbem Grunde ftü^t das indigofarbene
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