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Die Werkstatt der Kunst: Organ für d. Interessen d. bildenden Künstler — 4.1904/​1905

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Heft 41
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Inwiefern können Kunstwerke unzüchtig sein?
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https://doi.org/10.11588/diglit.42122#0561

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s^eäakteur: i)emrrck Slemback.

IV. Jakrg» ^ §)ekt 41. ^ io. Juli 190Z.

Inwiefern können Kunstwerke un^ücktig sein?

Unter dieser Überschrift ist in dem kürzlich er-
schienenen 37. Bande der „Entscheidungen des Reichs-
gerichts" in Strafsachen ein bemerkenswertes Er-
kenntnis enthalten. Es handelt sich, wie der „Dresd.
Anz." mitteilt, um die Herstellung von Ansichtspost-
karten, die nackte, üppige Frauenkörper darstellen, die
sämtlich nach Gemälden des pariser Salons
angefertigt sind. Ein Berliner Händler, der diese
Postkarten feilhielt, war aus ß des Strafgesetz-
buches unter Anklage gestellt, aber von der Straf-
kammer freigesprochen worden.
Die Abbildungen sind von der Strafkammer
in erster Linie daraufhin geprüft worden, ob sie als
„Kunstwerke" gelten können, und diese Eigenschaft
ist zunächst den Originalen, weil sie im Pariser-
Salon ausgestellt waren, zugesprochen worden. Dar-
aus ergab sich der Strafkammer die Folgerung, daß
der Vorwurf unzüchtig zu sein, der auf die Ori-
ginale als Kunstwerke nicht anwendbar sei, auch
gegen die Nachbildungen nicht erhoben werden
könne. — Die reichsgerichtliche Entscheidung wendet
sich zunächst gegen die Auffassung der Strafkammer,
das Reichsgericht habe schlechtweg anerkannt, daß
bei einem „Kunstwerk" der Begriff des Unzüchtigen
nicht anwendbar sei. „Davon kann keine Rede sein,
daß jedes Werk der Kunst schon deshalb, weil
es überhaupt eiue Kunsttechnik aufweist und künstle-
rischen Zielen nachgeht, dein Bereiche des Unzüch-
tigen entrückt sein müsse. Lin Kunstwerk in des
Wortes höchster Bedeutung wird freilich nicht un-
züchtig sein, wohl aber gibt es unzüchtige Werke
der Kunst." Das Reichsgericht verlangt die Unter-
suchung, ob bei den Abbildungen die Darbietung
des grob Sinnlichen durch die vorherrschende künst-
lerische Zdee dermaßen in den Hintergrund gedrängt

wird, daß das normale Scham- und Sittlichkeits-
gefühl des Beschauers nicht verletzt wird, und wendet
sich gegen die Ansicht, daß die Frage dahin zu for-
mulieren sei, ob lediglich der geschlechtliche Anreiz
der Zweck der Reproduktion gewesen sei. Einerseits
sei die Absicht, künstlerischen Genuß zu bereiten, mit
der Absicht, die Lüsternheit anzureizen, keineswegs
unvereinbar, andererseits könnten die Zwecke dessen,
der die Reproduktionen fertigte, und dessen, der sie
dem Publikum darbiete, durchaus verschiedeu sein,
und endlich komme es überhaupt nicht sowohl dar-
auf an, ob mit der Darbietung der Zweck verfolgt
werde, die Lüsternheit anzureizen, als vielmehr dar-
auf, ob die Darstellung geeignet sei, das Scham-
gefühl zu verletzen, und ob der Verbreiter das Be-
wußtsein davon habe. Zn dem vorliegenden Falle
handelt es sich um die Massenherstellung von An-
sichtspostkarten und um ihre Verbreituug zu eiuem
billigeu Preise, die uicht den Zweck habe, einen Ein-
blick in die französische Kunst zu gewähren. „Unter
diesen Umständen", so schließt das Urteil des Reichs-
gerichts, „war zu prüfen, ob nicht dieselben Dar-
stellungen, die, als Originalgemälde im pariser Salon
dargeboten, keinen Anstoß erregt haben mögen, in
ihrer nunmehrigen Gestalt als Postkartenbilder, die
auf der Straße jedem vorübergeheudeu ohne Unter-
schied des Alters, des Geschlechts und der Bildung
zur Schau uud zum Kaufe feilgehalten werden, ge-
rade im Hinblick auf diese Art ihrer Darbietung
den Charakter unzüchtiger Abbildungen angenommen
haben."
Die Sache wurde unter Aufhebung des frei-
sprechenden Urteils zur nochmaligen Verhandlung
an die Strafkammer zurückverwiesen. Die Entschei-
dung ist von weittragender Bedeutung.
 
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