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Mannheimer Abendzeitung: Organ d. Deutschen Volkspartei in Baden — 1869

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No. 76 - No. 101 (1. April - 30. April)
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R. 79.









Organ der deutſchen Volkspartei in Baden.









Die „ Mannheimer Abendzeitung“ wird ~ mit Ausnahme der Sonnt
Anzeigen-Gebühr : die einſpaltige Petitzeile 3 kr.,

age und Festtage – täglich als Abendblatt ausgegeben. – Der Abonnementspreis vierteljährlich Ein Gulden, ohne Poſtauſſchlag
bei Lokalanzeigen 2 kr. Bestellungen bei der Expedition C 1 Nr. 15 in Mannheim und bei allen Poſtanſtalten.





MG U:



CTT III E

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D rc Landtags-Wahlen in Ungarn.

| Ueber Oeſterreich-Ungarn zieht sich eine drohende
Wolke zuſammen. Die Wahlen in Ungarn sind so aus-
ge:allen, daß der „Ausgleich“ anfängt zu wackeln. Die
Mehrheit der Deakpartei, welche die eigentliche miniſte-
rielle iſt, ſieht sich erschüttert, und es ist nur noch tie
Frage, ob sie um 40 oder 30 oder 20 Stimmen die
Oppoſition der beiden vereinigten Linken überragen wird.

Auch läßt. der Adler Deak den einen Flüg.l hängen,

gleichſam als habe ihm der wilde Jäger hineingeſchoſſen;
Graf Andrasſy spricht bereits von , Auflöſen“, sobald sich
Gefahr für den Ausgleich zeige; der „Pesther Lloyd“,
das deutſche Organ der Partei, wappnet ſich in kühner
Eutſchloſſenheit und redet dem entſchiedenſten Gebrauch der
Mehrheit das Wort. Graf Beuſt endlich sieht ſein Frie-
denswcerk im wilden Wogendrang ſchwanken und ſchau-
keln und den Schatlen von 1848 am Heiizonte herauf-
chweben.
Y Thaſſache iſt, daß die äußerſte Linke koſſuthiſch denkt
und rückſichtslos der Parole solgt, welche der ſchmollende
Erdiktator von Zeit zu Zeit ausgibt. Dieſe äußerste
Linke allein vermag nichts, als die reinmagyar ſchen Ko-
mitate aufzuwühlen und den Terrorismus gegen alles
Germatniſche wachzuhalten. Aber Thatſache iſt auch, daß
die mehr als doppelt so starke eigentliche Linke den Aus-
gleich mit Oesterreich nur ansieht als eine Brücke zu einer
Personalunion, und daß die äußerſte Linke die Per-
ſonalunion als Abſchlagszahlung auf die volle und ganze
Unabhängigkeit annimmt.

Die Perſonalunion wäre aber der Anfang des Endes,
jedenfalls der bitterſte Zankapfel zwiſchen den beiden
Reichshäiften. Sie bedingt Aufhebung der Delegationen,
der gemeinſamen Finanzen, Heeresmacht und auswärtigen
Politik. Dabei hat Cisleithanien mitzueden und würde
ſehr slark mitreden, und dann wäre es nicht mehr ein
despoliſcher Kaiſer und ein Miniſterium der Willkür, welche
der cdlcn Nation der Magyaren Gewalt anthäten, ſondern
zwei Völkerintcresen, die hart aufeinander ſtießcn und
leicht auf volksthümlichen Boden den Strauß von
1848 erneuern könnten.

Es iſt zwiſchen Oesterreich und Ungarn eben mehr im
Spiele als eine demokratiſche Frage, als ein Prinzip in-
nerer Freiheit; es handelt sich dort um den Beſtand Jelbſst,
um die Criſtenz eines antiruſſiſhen Bollwerks. Wilder
magyariſcher Freiheitssnn und eille Selbſiverherrlichung
genügen ta nicht; auch Verſtand und Klugheit will bei
dem Wirken sein.

Vir gehören, offen gesagt, nicht zu Denen, welche die
Auflöſung Oeſterreichs nicht erwarten können, welche in
all seinen Nationen und Natiönchen lauter Larven erblicken,
die ſich morgen zu fröhlichen Republiken entfalten werden,
grade so wenig als wir auf ruſſiſches Kommando die ſo-
fortige Zerſtüctelung der Türkei betreiben möchten. Die
Magyaren ſelbſt ſtehen sich bei ihrem Ratikalizmus völlig
im Lichte; sie zählen 4 Millionen Seelen, während die
Stephanskrone 15 Millionen umſchließt. Ti: 4 wie die an-
dern 11 Millionen bedürfen zum weitaus größten Theile

Z

Auf den letzten Augen.
Fortsetzung.)

: y if ftrticher, deſſen Zunge in Fluß gekommen war,
fuhr foit:

„Da iſt das gnädige Fräulein anderer Art, ganz wie
die gnädige Mama, still und lies mit den Leuten. Schade,
daß sie so übel daran ist.“

„Leidet sie an der Bruſt ?“

Der Kutſcher ſchüttelte den Kopf.

„Ich will es Ihnen lieber sagen, fuhr er nach einigem
Bedenken fort; denn erfahren werden Sie es ja do und
es könnte Sie schlimm überraſchen, wenn es Ihnen unvor-
bereitet time. Aber verrathen Sie mich nicht! Sie hat
die fallende Sucht.“

Henriette fühlte sich milleidig ergriffen. Sie hatte bei
dem Hofrath manche Crfahrungen über die traurigen Zu-
fälle epileptiſcher Leiden gemacht.

„So jung und reich und ſo unglücklich! seufzte ſie.
Wie alt iſt das gnädige Fräulein ?“

„Bweiundzwanzig,“ verſezte der Kulſscher.

ß: Fe ſo alt wie ich, dachte Henriette; laut ſette
inzu:

„Und da iſt keine Hilfe?“

Der Kutſcher warf den Kopf auf die Seite.

E





noch einer tüchtigen politischen und Schulbildung, und
diesen Erziehungskurſus abſolvirten sie am Besten in fried-
licher Entwicklung, angelehnt an ein großes Ganzes, wel-
ches sie mit dem vorgerückteren Westen im steten Zusam-
menhange hält. ' .

Stände Ungarn heute auf eigenen Füßen, so würde
es bald gar nicht mehr ſtehen. Im eigenen Heere würde
der Nationalitätenhader entbrennen, der nicht auf lange
durch die Brutalität der Stuhlrichter und die militärische
Exekution sich niederhalten ließe. Ein Chaos würde sich
über das ganze Land lagern, und nicht die Magyaren
dürften die Frucht der Neubildung genießen. Alles, was
östlich von Oesterreich loslöſt, fällt in die Anziehungs-
Sphäre des Panſlavismus, geht für deutsche Interessen
und deutſche Kultur verloren.

Koſſuth darf ſich freuen. Er hat lange genug mit
dem Cäsarismus gebuhlt und, wie man ſagt, nicht gratis.
Er hat zuerſt mit Bonaparte kabalirt, ſpäter und noch
jeßt mit Bismarck. Was dieſe beiden wollten, konnte nie-
mals etwas Gutes sein; in ihrem Intereſſe lag es nur,
Wirrwarr zu machen und dabei Zwecke zu verfolgen, die
weit über dem Geſichtskreiſe der bethörten Völker lagen.
Wie sollten die Cäsaren auch dazu kommen, eine haltbare
republikanische Föderation irgendwo anzuſtreben? Damit
aber ſchmeichelt Kossuth seinen lieben Getreuen!

Noch glänzt Ein Hoffnungsstrahl in dieser magyari-
schen Nacht: die beßre Einsicht der Führer des linken
Zentrums. Regierungsfähige Parteien sind nicht so ſchlimm,
als sie in der Opposition aussehen. Hat erſt Einer oder
der Andere von ihnen die Verantwortung für die Ge-
schicke des Landes auf ſich, ſo besinnt er sich vielleicht
auf das Vernünftige, in der Natur der Dinge Liegende.
Wir wollen’'s abwarten und ſchon Hrn. v. Bismarck zum
Trotz das Beſte hoffen.



Heil Dir im Defizit!

„Im Norden zu singen“ sagt Schiller. Cs iſt näm-
lich Zeit, das veraltete Lied vom Siegerkranz, welches
im Zollernſtaat die Schulkinder auswendig lernen miissen,
den Bcdürfniſſen des Tages gemäß umgzugestalten und
realpolitiſch zu verjüngen. Die Realität iſt ~ das De-
fizit, das moralische, über das sich streiten läßt, und das
finanzielle, welches in Ziffern vorliegt und von Niemand
mehr bestritten wird.

Schon ſseit lange, wie man weiß, ist in Preußen das
Defizit gewährleiſtet. Als es zuerſt im Gefo'ge des Mi-
litarismus auftrat, verkündete man ihm ein baldiges Ende.
Mit Deutſchlands Hilfe sollte es aus der Welt. Eine
gleichmäßige Vertheilung der Laſt auf alle Schultern, und
sie wird Niemanden drücken: Das waren so die Redens-
arten, mit denen man Preußens Machtsorderungen beſchö-
nigend ankündigte. Die gleichmäßige Vertheilung iſt da,
aber die Laſt iſt ſchwerer geworden und drückt Jeden:
Das iſt nach den Redensarten die Thatſache. Eine aber-
malige Konſstatirung großpreußiſcher Lügen! Wahrlich,
es iſt, als ob jede Wendung dieses Staates der Lüge im-
mer eine neue Verlogenheit an den Tag brächte. Jett ſpricht

„Unser alter Klaus , der Schäfer, der mehr versteht
als mancher Arzt und ſchon viele kurirt hat , meint, daß
er wohl helfen könnte. Aber Dem vertraut ſich die Herr-
ſchaft nicht an. Der Junker iſt ihm ſchon aufsäſſig, wenn
er beim Vieh weiter geht als seine Schafe. Vielleicht,
meint Klaus, daß es sich gäbe, wenn ſie heirathet.. Aber
dazu iſt wenig Aussicht."

„Iſt ihr Zuſtand ſo bedenllich ?“

„Nun , sonst wohl nicht, ſagte der Kutſcher mit be-
denklichem Kopfschütteln, und zögernd fuhr er fort! Mam-
ſell wiſſen nicht, daß der herrſchaftliche Hof Lehngut ist
und, weil es ein Mannslehen iſt, auf dem letten Augen-
paare steht, sobald der alie Herr Baron das Zeitliche

ſegnet. Die gnädige Frau weiß, daß das kränkliche Fräu-

lein keine goldenen Tage bei dem Junler haben wird,
drum möchte sie bei Zeiten für dasselbe sorgen, aber wer
will die Arme heirathen? sie erhält nichts als eine Ab-
findung, die nicht allzu hoch bemesscn sein wird. Freilich
gäbe das Gut schon mehr her, wenn der Junker wollte;
aber er will nicht.“

Der Kutscher unterbrach sich, um mit dem Ausrufe:
„Ei, wie im Plaudern der Weg schwindet! sich ordnungs-
mäßig zurecht zu setzen und die Pferde in eine Cinfahrt-
alle von hohen Kaſtanienbäumen zu lenken, die zum
herrſchaſstlichen Hauſe führte, während die verlaſſene Straße





von dem Defizit, von der Steigerung der Laſt kaum noch
Jemand in dem alten Preußen. Da ſchwiege man all'
Dergleichen am Liebſten todt. Aber Oetker in Kaſſel
mit der unheilbaren Preußenthorheit, Der sängt nun an
zu sprechen, klagt über ſpeziell heſſiſche Gelder, die zu
ſehr wenig hesſiſchen Zwecken verwendet würden, was ihm
natürlich nichts hilft. Nächstens werden noch Andere darx-
über sprechen: Reichstag, Zollparlament, Landtag. Alle
Drei werden singen nach der Melodie: Heil Dir im De-
fizit! Denn für alle drei, für jeden der drei hat der
unermüdliche Goldsucher vb. d. Heydt sein spezielles An-
liegen in Bereitſchaft. Das parlamentariſche Weſen in
Preußen ist eine Garküche, die mit Dampf kocht! Und
Bismarck-Heydt kocht gar in drei Töpfen raſch nach ein-
ander. Reicht das Gericht „Petroleum“ nicht, so hilft
die „Wechselſteuer“ aus dem zweiten Topfe aus, und

läßt die auch noch eine Leere, ſo müſſen „Börsenſtenueren.

„Tabacksſteuer“, „Anleihe“, ein Uebriges thun. In der
That, dieser kgl. preuß. Millitärsſtaat ist nicht gieriger als
der kgl. preuß. Fiskus erfinderiſch iſt, alſo ~ wan übe
die Jugend ein mit dem veränderten Text: „Heil Dir
im Defizit."



Politiſche Ueberſicht.
Mannheim, 3. April.

* Aus Frankreich wird gemeldet, daß die ſeit meh-
reren Tagen angekündigte bonarpartiſtiſche Broſchüre:
„Ein Brief an einen Wähler“ heute in Paris werde aus-
gegeben werden. Ueber die franzbſiſche Politik gegenüber
den Ereigniſſen von 1866 äußert ſich die Broſchüre, laut
einer bereits vorliegenden Slizzirung der betreffenden Stel-
len, in folgender Weiſe: „Die Achtung vor dem Nationa-
litätsprinzib mußte den Kaiser von einer bewaffneten Ein-
miſchung in Deulſchland abhalten. Cine Unterſtützung
und Vertheidigung der auf den Verträgen von 1815 ge-
gründeten alten deutſchen Verfaſſung war seine Ob-
liegenheit nicht. Von dem Augenblicke an, wo das fran-
zösiſche Interesse nicht bedroht ward, hatte er nicht mehr
nöthig, sich der Entwicklung neuer Geſchicke jenſeits des
Rheines zu widersſeßzen. Er intervenirte als Schiedsrichter
und ~ der Friede ward geſchloſſen." Wahrlich gut bes-
rechnete Worte. Appellation an den von der franzöſiſchen
Volksmasse gehegten Kultus des Nationalitätsſchwindels und
an die Entrüſtung über die Verträge von 1815 einerſeits –

Kitzel der nationalen Eitelkeit andererſeits durch die dem

französiſchen Kaiser zuertheilte Rolle eines „Schiedsrich-
ter“: all’ Dieß wird bei der Menge ſeines Eindrucks
nicht verfehlen. Die Schlußworte, die in ihrer unmittel-
baren Reihenfolge den Prager Frieden als eine Folle
napolconiſchen Gebotes erscheinen zu machen ſuchen, ſind
an Deutschland gerichtet. „Ich habe den Prager Frieden
diktirt: ich bin alſo auch deſſen Wächter und Wahrer“:
Das iſt die deutliche Uebersſezung der napoleoniſchen Er-
klärung.

Eine ähnliche Auffassung der Stellung Frankreichs
zum Prager Frieden wird faſt gleichzeitig mit der Pariſer
Broſchüre in einem offiziösüen Organe Italiens kundge-

den Zugang zu den Wirthschafts-Gebäuden bildete, an
denen entlang sie weiter verlief. An verſchiedenen Punk-
ten slan: en Leute , vor denen der Kutſcher ſein Gespräch
nicht fortzuſezen wagte. S

Die anderthalbhundert Schritte der Allee waren bald
zurückgelegt. Der Weg in den Hof ging unter einem
hohen Thore durch, über welchem das Wappen des Hau-
ſes oder vielmehr des Hofs in Steinmetarbeit angebracht
war, denn das Geschlecht der Besitzer, welches nach der
Mittheilung des Kutsſchers auf den letzten Augen ſtand,
führte kein besonderes Wappen, sondern ſein Adel haftete
an dem Gute.

Die ,„drei Disteln“ hatten manches Jahrhundert ge-
blüht, ohne wohl je eine so ſchmucke und kunſtreiche Dar-
ſtellung erfahren zu haben, als die jett über dem Ein-
fahrtthore prangte. Der Baron hatte sie bei der Geburt
seines Sohnes herrichten und die Vergoldung der Embleme
erſt kürzlich erneuern laſſen.

Henriette fuhr bei dem Anblicke des Wappens betroffen
zurück. Es war ihr, als hätte sie dasselbe ſchon in einer
bemerkenswerthen Weise gesehen, nur konnte ſie ſich nicht
entſinnen, wann und wo?

Das Anhalten des Wagens verhinderte ſie an weites
rem Nachdenken.




 
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