Freitag, 17. September.
Organ der deulſchen Volkspartei in Baden.
Die „Mannheimer Abendzeitung“ wird ~ mit Ausnahme der Sonntage und Feſttage – täglich als Abendblatt ausgegeben. ~ Der Abonnementspreis vierteljährlich Ein Gulden, ohne Poſtauſſchlag
Anzeigen-Gebühr : die einſpaltige Petitzeile 3 kr., bei Lokalanzeigen 2 kr. Beftellungen bei der Expedition C 1 Nr. 15 in Mannheim und bei allen Poſtanſtalten.
E + §;{{;
Der Militarismus.
*) Seit lange richtet die Demokratie ihre Angriffe ge-
gen den Aufbau der riesigen Waffengewalt, welche der
Grundpfeiler des Syſtems iſt, welches gegenwärtig Europa
regiert und welche den Ruin aller Kultur und aller Frei-
heit herbeiführen muß. Wer es weiß, wie die Waffen-
gewalt ſchon mißbraucht wurde, wie oft schon ſie der
menſchlichen Teufelei zur siegreichen Angriffswaffe und zum
feſten Bollwérke gedient hat, muß die Beſtrebungen unter-
ſtüten, welche darauf hinausgehen, die jetzigen militäriſchen
Verhältnisse in jene Formen zu bringen, in welchen die
Wehrkraft jedes Landes für jeden Gewaltsmißbrauch un-
verführbar gemacht wird.
Noch mehr. Wer ſich ein klares Bild von dem Mi-
litärweſen in den europäiſchen Großſtaaten macht, wird
mit dem „Dresdener Nurier“ erkennen, es sei höchſte Zeit,
daß die Völker Europas in ihrer Geſammtheit ſich ernſt-
lich und unermüdlich der Frage bemächtigen, wie das
Krebsübel der ſte henden Heere und die damit ver-
knüpfte unerſ<h win gliche Steuerla ſt zu be-
seitigen ſeien.
Da bei den engen geschäftlichen Beziehungen der Na-
tionen Europa's, die in Folge des modernen Verkehrs-
weſens gar eine ſtaatliche Schranke mehr kennen, und
Angeſqichts der friedlichen und aufgeklärten Geiſtes - und
Gemüthsrichtung der Europäer feſt behauptet werden kann,
daß die Nationen nicht daran denken, ſich gegenseitig ab-
zuſchlachten, da andererseits auch der Blutdurst der euro-
päiſchen Regenten nicht so kannibaliſch groß ſein kann,
als man nach dem enormen Militäraufwande anzunehmen
hätte, ſo müssen andere Ursachen obwalten, welche das
Triebrad des militäriſchen Höllenapparats der ziviliſirten
Welt in Bewegung ſeten. :
Iſt vielleicht das ganze Militärwesen bloß ein Produkt
der Freude an dem bunten Soldatenſpiel? Auch Das
können wir im Grunde nicht annehmen, da wir die eu-
ropäiſchen Regenten nicht für so frivol halten wollen,
daß ſie für eine bloße Herrſcherpaſſion so enorme Gut-
und Blutſteuern erheben und die Blüthe der europäiſchen
Jugend nur zu Gladiatoren ſtempeln möchten.
Nein, die Gründe der Millitärwirthſchaft liegen tiefer.
Auch die Regenten wissen recht wohl, daß die Völker auch
ohne Waffen leben können und keine Luſt haben, ſich zu
befehden. Allein viele fürchten, daß ohne Gewaltmittel
ihre eigene Machtvollkommenheit und Herrlichkeit ein Ende
nehmen. Sie haben zum größten Theile nicht den Willen,
Das, was die Völker wollen, als maßgebend zu betrachten
und ihren Willen dem Gesammtwillen unterzuordnen.
Sie können ſich nicht entſchließgen, ſtatt Herrscher wirk-
liche Regenten zu werden. So lange aber diese Herr-
ſcher nicht die Intelligenz als die beste Stütze ihrer Throne
betrachten, so lange iſt es ganz natürlich, daß geistiger
Werth immer mehr zum Null herabgedrückt wird und daß
dieſe Staatswirthſchaft zuleßktt ganz in der Ka ſerne n-
wirthſchaft aufgeht.
Während die Herrschaft des Geiſtes und der Intelli-
genz den allgemeinen Wohlstand und die Würde der mensch-
lichen Geſellſchaft im Einzelnen und Ganzen heben würde,
iſt die Militär- und Kaſernenwirthſchaft ganz dazu an-
gethan, das Volk auszuſaugen, zu entnerven, zu demüthi-
gen und zu entſittlichen. Kurz, eine natürliche Folge der
phyſiſchen Gewaltherrſchaft und ihres Aufwandes iſt der
Pauperismus oder die Masſenarmuth, das Uebergewicht
der Geldherrſchaft und die damit verbundene allgemeine
îDemoraliſirunne.
Man glaube nicht, daß wir zu bewaffnetem Wider-
ſtand gegen solche Staatswirthſchaft aufreizen wollen. Wir
verwerfen die physiſche Gewaltanwendung ebenſo als be-
waffnete Revolution, wie als Kri g. Allein es gibt auch
eine geſetliche, geistige Revolution, ohne welche die menſch-
liche Geſellſchaft längst verthiert wäre. Cine ſolche geiſtige
Revolution iſt nöthig und unausbleiblich, wenn wir nicht
alle Errungenſchaften der Kultur in den Rauch der Ka-
sernen aufgehen lassen wollen.
Heiligſte Pflicht iſt es, gegen den immer größere Di-
mensionen annehmenden Militarismus und die damit ver-
knüpfte soziale Fäulniß auf's Entſchiedenſte Front zu ma-
chen. Diesem modernen Barbarenthum muß in ganz
Europa offen der Krieg erklärt werden – der Krieg mit
den Waffen des Geiſtes, mit den Spitzkugeln der Lettern
und bald wird ſich zeigen, welche Macht die würdigere
und nachhaltigere iſt. Ö
Politiſche Uebersicht.
Manndheim, 15. September.
* Sobald in Preußen, in diesem Lande der „Jn-
telligenz“ und des ,„deutſchen Berufes“ etwas wirklich
Deutſches , vorkommt, findet die offizielle Welt lauter
Haare und Haken darin. Alexander v. Humboldt gehört
der Nation und durch die Nation der Welt; da er aber
die preußiſche Welt mehrmals arg vor den Kopf ge-
ſtoßen, so gehört er eigentlich nicht zur „Intelligenz“ und
zum „Berufe“. Man errichtet ihm ein Denkmal, d. h.
man läßt es errichten, da man es nicht gut hindern kann;
aber man beſitzt nicht einmal die Schlauheit Bonapartes,
sich eines ſolchen Mannes zu bemächtigen und gewaltſam
Beschlag darauf zu legen, wie es zu Paris mit Beranger
geſchah. Kein König, kein Ministerpräsident, kein Kultus-
minister war bei der Grundſteinlegung anwesend! Ober-
bürgermeiſter Seidel hielt die Feſtrede! Was weiß ein
Seidel von Humboldt's wissenschaftlicher Größe ? Den
großen Bürger, der stets für „Sr. Majeſtät Oppoſition"
ſtimmte, ließ er bei Seite. Wozu alſo Seidel? Von der
ganzen offiziellen Welt figurirte nur der alte Narr Wra n-
g el dabei. „Humboldt und Knak“ ist gewiß bezeichnend;
aber „Humboldt und Wrangel“ ist mindestens eben ſo
schön. Doch aus dem Hintergrunde trat das kr o n prinz-
liche Paar hervor; ein Telegramm wies auf die ,libe-
rale“ Zukunft Großpreußens hin, das war für die Natio-
nalliberalen von der Zweiseelen-Theorie. „Es ist ja möglich,
sagte Herr v. Bismarck, daß einmal eine liberale Regie-
rung kommt!“ Alle Kronprinzen ſind bekanntlich liberal,
wie alle Prätendenten äußerst liberal!
Dem preuß iſchen Landtage soll alsbald nach seiner
Eröffnung der Entwurf einer Nr eis ord nung vorgelegt
werden. Offiziös wird der Entwurf als von großen par-
teiloſen Gesichtspunkten ausgehend und auf eine Organi-
sation wirklicher Selbſtverwaltung zielend geschildert. Durch
beſſere Gläser als die offiziöſen betrachtet, dürfte sich die
Sache etwas anders verhalten.
In Frantkr eich beſchäftigt man sich weniger mehr
mit der Krankheit des Kaiſers, als mit Dem, was nach
dem Kaiser kommen wird. Und hiebei stellt der „Rappel“
die zeitgemäße Frage, was die Armee thun werde. Der
„Rappel“ iſt der Zuversicht, daß die Armee nicht mehr
ein willenloſes Werkzeug sei, bereit, auf das Kommando
irgend eines Generals Hand an die Souveränetät des
Volkes zu legen; das genannte Blatt giebt vielmehr der
Ueberzeugung Ausdruck, daß, wenn jemals das Wort der
Entscheidung an die Armee übertragen werden ſollte, diese
antworten werde: Es lebe das Volk!
In D unda lk in Irland fand am Sonntag eine
Massenkundgebung zu Gunsten der noch in Haft befind-
lichen Fenier statt, bei welcher nicht weniger als 20,000
Perſonen anwesend waren. Zu Ruheſtörungen kam es nicht,
im Gegentheil waren die Vorgänge durchaus parlamen-
tariſcher Natur und die verſchiedenen Reden in einem der
Regierung gegenüber respektvollen und versöhnlichen Tone
gehalten.
Deutſchlande.
* Karlsruhe, 15. Sept. Es war Anregung ge-
geben, dem zum Mitgliede der erſten Kammer ernannten
Oberbürgermeister unserer Stadt einen Fackelzug zu brin-
gen. Das vorgestern erfolgte Ableben der Frau Fürstin
von Fürstenberg, Tante des Großherzogs, hat aber ~
so meldet die „Bad. Ldsztg."“ ~ die „Bürgersſchaft be-
ſtimmt, vorerſt von der beabsichtigten Freudenbezeugung
Umgang zu nehmen.“
Der Hr. Abg. Hoff aus Mannheim ſoll als der
Aelteſte unter den Abgeordneten der zweiten Kammer er-
mittelt sein und somit als Alterspräsident die Verhand-
lu der Kammer bis nach erfolgter Präsidentenwahl
eiten.
Nach Anordnung großh. Kriegsminisſteriums werden
die militärpflichtigen Volksſchulkandidaten des Jahrgangs
1869 zur Ableiſtung ihrer sechswöchigen Uebungszeit auf
den 1. Oktober d. J. einberufen.
© Baden, 15. September. Bei einer dahier
wohnenden ruſſiſchen Herrſchaftt aus St. Petersburg ist
folgende Meldung eingetroffen: „Die verbreiteten Nach-
richten über den Gesundheitszuſtand des Kaisers von
Rußland, welche zu vielen Beunruhigungen Anlaß gaben,
ſind grundlos. Das Cine iſt wahr, daß der Monarch
in Livadia von Melancholie befallen ſich tagelang weigerte,
irgend Jemand zu sehen ; aber dieſer Zuſtand iſt nicht
sehr von dem gewöhnlichen verschieden und wurde blo-
durch eine Verkältung verſchlimmert."“
* Aus Baden, 16. Sept. In der Liſte der Herren,
welche der Großherzog in die erſte Kammer berufen,
fehlen die Namen zweier Männer, die seit Jahren in der
erſten Kammer Sitze eingenommen. Es ſſind dieß die
Herren Dr. Bertheau in Mannheim und Fabrikant Faller
in Lenzkirch. Der erste iſt durch seine geſchwächte Ge-
ſundheit, der zweite durch geschäftliche Rückſichten gehin-
dert, an den Verhandlungen der Kammer theilzunehmen.
So berichtet die Karlsruher Zeitung, indem sie mit Zu-
verſicht ausspricht, „daß Beide nach wie vor für die na-
tionale und liberale Sache eintreten würden." Im Ganzen
macht die öffiziöse Auslaſſung der „Karlsr. Ztg.“ doch
immer den Eindruck, als solle ſie das Pfläſterchen sein auf
eine Wunde.
An die jetzige Zuſammenſezung der erſten Kammer
knüpft die nationals-konſervative „Warte“ die Hoffnung,
„Daß die konservative Färbung stärker hervortreten werde.“
Darauf deuten dem genannten Blatte nicht blos die
Namen der beiden Präſidenten, Herren v. Mohl und De. M
Weizel, sondern es faßt auch die Wahl des Geheimrath
Dr. Herrmann in Heidelberg in diesem Sinne auf. Die
Persönlichkeit und Vergangenheit dieses Kriminaliſten und
Kirchenrechtslehrers läßt die „Warte“ nicht erwarten, daß
Herrmann, wie es den andern ins Land gerufenen Ge-
lehrten begegnet iſt, seiner konservativen Vergangenheit
untreu werde. Seine Stimme werde namentlich in den
| Fragen, die das Verhältniß des Staates zur Kirche be-
treffen von Gewicht sein . . . Wenn wir berechtigt wären"
der „Warte“ irgend welche offiziööe Beziehungen zuzu-
schreiben, ſo würden wir aus ihrer Bemerkung folgern,
die Ernennung des Hrn. Herrmann ſtehe zu der Heidel-
berger Universſitätswahl in innerem Zuſammenhange und
das „Gewicht“ des Herrn Herrmann habe für Hrn.
Bluniſchli die Bedeutung eines „Gegengewichts.“
„Vielleicht geht die Geschichte der Entwicklung unseres
Vaterlandes –~ d. h. die Verpreußung des Südens
den leiſen, faſt unhörbaren Tritt weiter, den sie in der
lezten Zeit angenommen hat.“ So meint die nationalli-
berale „Heidelb. Ztg.,“ und es hat den Anschein, daß
ihr die „leiſe, faſt unhörbare" Verpreußung Badens ge-
rade nicht unangenehm wäre. Sie weiß die „Umſtände“"
zu würdigen und den ,Verhältnissen“ Rechnung zu tragen.
Ebenſo gut könne aber auch plötlich wieder eine Kata-
ſtrophe über Europa hereinbrechen . . . und da, für
dieſen Fall hält es die „Heidelb. Ztg.“ für besonders
erforderlich, daß die nationale Partei auf ihrem Plate,
daß sie gerüſtet sei, für den Fall, „daß große Ereignisse
mit Sturmesgewalt auftreten und die deutſche Frage in
Fluß bringen.! Wann wieder „Blut und Elſen“ ihre
Rolle spielen, dann will die national-liberale Partei mit
„Entſchloſſenheit handeln,“ und in dieſer Voraussicht
richtet das Heidelberger nationalliberale Organ einen
Mahnruf an die Nationalliberalen im Norden, sich doch
enger an die Kollegen im Süden anzuſchließgen . ... Die
Frage, von welcher Seite, vom Süden oder Norden, dr
Anstoß zur Verwirklichung „deutscher Einheit“ auszugehen
habe, will man ja gerne als eine offene behandeln. Aber
kein Anlaß liege vor, die nationalliberale Partei im Nor-
den und Süden getrennt zu halten! Die Kollegen im
Norden haben, wie es den Anschein gewinnt, des Bluts
und des Eiſens genug . . , und wenn nicht Alles trügt,
wird der Lock- und Mahnruf der Heidelberger Bismärckerei
ungehört verhallen. f Ö
Ein anderes nationalliberales Organ ergeht ſich eben-
falls in einem Nothſchrei. Es iſt dieß die „Tauber“.
Sie wittert Morgenluft. Die Ultramontanen und ex-
tremen Demokraten sinnen auf Umſturz. In Bayern,
wo der Landtag zu Anfang Oktober eröffnet wird, da
hätte die ultramontane Partei die Absicht, zur Zeit des
Oktoberfeſtes ihre Schaaren gläubiger Bauern zu einer
Demonstration nach München zu dirigiren und den König
zu nöthigen, das Ministerium Hohenlohe fallen zu laſſen
und sich den Ultramontanen in die Arme zu werfen.
Wäre aber einmal hier der Anstoß erfolgt und der Anfang
gemacht, ſo würde die Bewegung leicht weiter getragen
und mit Hilfe des Preußenhaſſes eine allgemeine Bewe-
gung hervorgerufen, der namentlich auch die Handwerkss
gesellen und Arbeiter zu Hilfe kommen würden .. . .
Entſetlicht Dem gegenüber dürften die Freunde der wahren
Freiheit durchaus nicht erlahmen und sich nicht einschlä-
fern laſſen, und bedürfe es daher der fortgeſezten ener-
gischen Thätigkeit, um das ganze Volk möglichſt um die
186898.
dzeitung.
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Organ der deulſchen Volkspartei in Baden.
Die „Mannheimer Abendzeitung“ wird ~ mit Ausnahme der Sonntage und Feſttage – täglich als Abendblatt ausgegeben. ~ Der Abonnementspreis vierteljährlich Ein Gulden, ohne Poſtauſſchlag
Anzeigen-Gebühr : die einſpaltige Petitzeile 3 kr., bei Lokalanzeigen 2 kr. Beftellungen bei der Expedition C 1 Nr. 15 in Mannheim und bei allen Poſtanſtalten.
E + §;{{;
Der Militarismus.
*) Seit lange richtet die Demokratie ihre Angriffe ge-
gen den Aufbau der riesigen Waffengewalt, welche der
Grundpfeiler des Syſtems iſt, welches gegenwärtig Europa
regiert und welche den Ruin aller Kultur und aller Frei-
heit herbeiführen muß. Wer es weiß, wie die Waffen-
gewalt ſchon mißbraucht wurde, wie oft schon ſie der
menſchlichen Teufelei zur siegreichen Angriffswaffe und zum
feſten Bollwérke gedient hat, muß die Beſtrebungen unter-
ſtüten, welche darauf hinausgehen, die jetzigen militäriſchen
Verhältnisse in jene Formen zu bringen, in welchen die
Wehrkraft jedes Landes für jeden Gewaltsmißbrauch un-
verführbar gemacht wird.
Noch mehr. Wer ſich ein klares Bild von dem Mi-
litärweſen in den europäiſchen Großſtaaten macht, wird
mit dem „Dresdener Nurier“ erkennen, es sei höchſte Zeit,
daß die Völker Europas in ihrer Geſammtheit ſich ernſt-
lich und unermüdlich der Frage bemächtigen, wie das
Krebsübel der ſte henden Heere und die damit ver-
knüpfte unerſ<h win gliche Steuerla ſt zu be-
seitigen ſeien.
Da bei den engen geschäftlichen Beziehungen der Na-
tionen Europa's, die in Folge des modernen Verkehrs-
weſens gar eine ſtaatliche Schranke mehr kennen, und
Angeſqichts der friedlichen und aufgeklärten Geiſtes - und
Gemüthsrichtung der Europäer feſt behauptet werden kann,
daß die Nationen nicht daran denken, ſich gegenseitig ab-
zuſchlachten, da andererseits auch der Blutdurst der euro-
päiſchen Regenten nicht so kannibaliſch groß ſein kann,
als man nach dem enormen Militäraufwande anzunehmen
hätte, ſo müssen andere Ursachen obwalten, welche das
Triebrad des militäriſchen Höllenapparats der ziviliſirten
Welt in Bewegung ſeten. :
Iſt vielleicht das ganze Militärwesen bloß ein Produkt
der Freude an dem bunten Soldatenſpiel? Auch Das
können wir im Grunde nicht annehmen, da wir die eu-
ropäiſchen Regenten nicht für so frivol halten wollen,
daß ſie für eine bloße Herrſcherpaſſion so enorme Gut-
und Blutſteuern erheben und die Blüthe der europäiſchen
Jugend nur zu Gladiatoren ſtempeln möchten.
Nein, die Gründe der Millitärwirthſchaft liegen tiefer.
Auch die Regenten wissen recht wohl, daß die Völker auch
ohne Waffen leben können und keine Luſt haben, ſich zu
befehden. Allein viele fürchten, daß ohne Gewaltmittel
ihre eigene Machtvollkommenheit und Herrlichkeit ein Ende
nehmen. Sie haben zum größten Theile nicht den Willen,
Das, was die Völker wollen, als maßgebend zu betrachten
und ihren Willen dem Gesammtwillen unterzuordnen.
Sie können ſich nicht entſchließgen, ſtatt Herrscher wirk-
liche Regenten zu werden. So lange aber diese Herr-
ſcher nicht die Intelligenz als die beste Stütze ihrer Throne
betrachten, so lange iſt es ganz natürlich, daß geistiger
Werth immer mehr zum Null herabgedrückt wird und daß
dieſe Staatswirthſchaft zuleßktt ganz in der Ka ſerne n-
wirthſchaft aufgeht.
Während die Herrschaft des Geiſtes und der Intelli-
genz den allgemeinen Wohlstand und die Würde der mensch-
lichen Geſellſchaft im Einzelnen und Ganzen heben würde,
iſt die Militär- und Kaſernenwirthſchaft ganz dazu an-
gethan, das Volk auszuſaugen, zu entnerven, zu demüthi-
gen und zu entſittlichen. Kurz, eine natürliche Folge der
phyſiſchen Gewaltherrſchaft und ihres Aufwandes iſt der
Pauperismus oder die Masſenarmuth, das Uebergewicht
der Geldherrſchaft und die damit verbundene allgemeine
îDemoraliſirunne.
Man glaube nicht, daß wir zu bewaffnetem Wider-
ſtand gegen solche Staatswirthſchaft aufreizen wollen. Wir
verwerfen die physiſche Gewaltanwendung ebenſo als be-
waffnete Revolution, wie als Kri g. Allein es gibt auch
eine geſetliche, geistige Revolution, ohne welche die menſch-
liche Geſellſchaft längst verthiert wäre. Cine ſolche geiſtige
Revolution iſt nöthig und unausbleiblich, wenn wir nicht
alle Errungenſchaften der Kultur in den Rauch der Ka-
sernen aufgehen lassen wollen.
Heiligſte Pflicht iſt es, gegen den immer größere Di-
mensionen annehmenden Militarismus und die damit ver-
knüpfte soziale Fäulniß auf's Entſchiedenſte Front zu ma-
chen. Diesem modernen Barbarenthum muß in ganz
Europa offen der Krieg erklärt werden – der Krieg mit
den Waffen des Geiſtes, mit den Spitzkugeln der Lettern
und bald wird ſich zeigen, welche Macht die würdigere
und nachhaltigere iſt. Ö
Politiſche Uebersicht.
Manndheim, 15. September.
* Sobald in Preußen, in diesem Lande der „Jn-
telligenz“ und des ,„deutſchen Berufes“ etwas wirklich
Deutſches , vorkommt, findet die offizielle Welt lauter
Haare und Haken darin. Alexander v. Humboldt gehört
der Nation und durch die Nation der Welt; da er aber
die preußiſche Welt mehrmals arg vor den Kopf ge-
ſtoßen, so gehört er eigentlich nicht zur „Intelligenz“ und
zum „Berufe“. Man errichtet ihm ein Denkmal, d. h.
man läßt es errichten, da man es nicht gut hindern kann;
aber man beſitzt nicht einmal die Schlauheit Bonapartes,
sich eines ſolchen Mannes zu bemächtigen und gewaltſam
Beschlag darauf zu legen, wie es zu Paris mit Beranger
geſchah. Kein König, kein Ministerpräsident, kein Kultus-
minister war bei der Grundſteinlegung anwesend! Ober-
bürgermeiſter Seidel hielt die Feſtrede! Was weiß ein
Seidel von Humboldt's wissenschaftlicher Größe ? Den
großen Bürger, der stets für „Sr. Majeſtät Oppoſition"
ſtimmte, ließ er bei Seite. Wozu alſo Seidel? Von der
ganzen offiziellen Welt figurirte nur der alte Narr Wra n-
g el dabei. „Humboldt und Knak“ ist gewiß bezeichnend;
aber „Humboldt und Wrangel“ ist mindestens eben ſo
schön. Doch aus dem Hintergrunde trat das kr o n prinz-
liche Paar hervor; ein Telegramm wies auf die ,libe-
rale“ Zukunft Großpreußens hin, das war für die Natio-
nalliberalen von der Zweiseelen-Theorie. „Es ist ja möglich,
sagte Herr v. Bismarck, daß einmal eine liberale Regie-
rung kommt!“ Alle Kronprinzen ſind bekanntlich liberal,
wie alle Prätendenten äußerst liberal!
Dem preuß iſchen Landtage soll alsbald nach seiner
Eröffnung der Entwurf einer Nr eis ord nung vorgelegt
werden. Offiziös wird der Entwurf als von großen par-
teiloſen Gesichtspunkten ausgehend und auf eine Organi-
sation wirklicher Selbſtverwaltung zielend geschildert. Durch
beſſere Gläser als die offiziöſen betrachtet, dürfte sich die
Sache etwas anders verhalten.
In Frantkr eich beſchäftigt man sich weniger mehr
mit der Krankheit des Kaiſers, als mit Dem, was nach
dem Kaiser kommen wird. Und hiebei stellt der „Rappel“
die zeitgemäße Frage, was die Armee thun werde. Der
„Rappel“ iſt der Zuversicht, daß die Armee nicht mehr
ein willenloſes Werkzeug sei, bereit, auf das Kommando
irgend eines Generals Hand an die Souveränetät des
Volkes zu legen; das genannte Blatt giebt vielmehr der
Ueberzeugung Ausdruck, daß, wenn jemals das Wort der
Entscheidung an die Armee übertragen werden ſollte, diese
antworten werde: Es lebe das Volk!
In D unda lk in Irland fand am Sonntag eine
Massenkundgebung zu Gunsten der noch in Haft befind-
lichen Fenier statt, bei welcher nicht weniger als 20,000
Perſonen anwesend waren. Zu Ruheſtörungen kam es nicht,
im Gegentheil waren die Vorgänge durchaus parlamen-
tariſcher Natur und die verſchiedenen Reden in einem der
Regierung gegenüber respektvollen und versöhnlichen Tone
gehalten.
Deutſchlande.
* Karlsruhe, 15. Sept. Es war Anregung ge-
geben, dem zum Mitgliede der erſten Kammer ernannten
Oberbürgermeister unserer Stadt einen Fackelzug zu brin-
gen. Das vorgestern erfolgte Ableben der Frau Fürstin
von Fürstenberg, Tante des Großherzogs, hat aber ~
so meldet die „Bad. Ldsztg."“ ~ die „Bürgersſchaft be-
ſtimmt, vorerſt von der beabsichtigten Freudenbezeugung
Umgang zu nehmen.“
Der Hr. Abg. Hoff aus Mannheim ſoll als der
Aelteſte unter den Abgeordneten der zweiten Kammer er-
mittelt sein und somit als Alterspräsident die Verhand-
lu der Kammer bis nach erfolgter Präsidentenwahl
eiten.
Nach Anordnung großh. Kriegsminisſteriums werden
die militärpflichtigen Volksſchulkandidaten des Jahrgangs
1869 zur Ableiſtung ihrer sechswöchigen Uebungszeit auf
den 1. Oktober d. J. einberufen.
© Baden, 15. September. Bei einer dahier
wohnenden ruſſiſchen Herrſchaftt aus St. Petersburg ist
folgende Meldung eingetroffen: „Die verbreiteten Nach-
richten über den Gesundheitszuſtand des Kaisers von
Rußland, welche zu vielen Beunruhigungen Anlaß gaben,
ſind grundlos. Das Cine iſt wahr, daß der Monarch
in Livadia von Melancholie befallen ſich tagelang weigerte,
irgend Jemand zu sehen ; aber dieſer Zuſtand iſt nicht
sehr von dem gewöhnlichen verschieden und wurde blo-
durch eine Verkältung verſchlimmert."“
* Aus Baden, 16. Sept. In der Liſte der Herren,
welche der Großherzog in die erſte Kammer berufen,
fehlen die Namen zweier Männer, die seit Jahren in der
erſten Kammer Sitze eingenommen. Es ſſind dieß die
Herren Dr. Bertheau in Mannheim und Fabrikant Faller
in Lenzkirch. Der erste iſt durch seine geſchwächte Ge-
ſundheit, der zweite durch geschäftliche Rückſichten gehin-
dert, an den Verhandlungen der Kammer theilzunehmen.
So berichtet die Karlsruher Zeitung, indem sie mit Zu-
verſicht ausspricht, „daß Beide nach wie vor für die na-
tionale und liberale Sache eintreten würden." Im Ganzen
macht die öffiziöse Auslaſſung der „Karlsr. Ztg.“ doch
immer den Eindruck, als solle ſie das Pfläſterchen sein auf
eine Wunde.
An die jetzige Zuſammenſezung der erſten Kammer
knüpft die nationals-konſervative „Warte“ die Hoffnung,
„Daß die konservative Färbung stärker hervortreten werde.“
Darauf deuten dem genannten Blatte nicht blos die
Namen der beiden Präſidenten, Herren v. Mohl und De. M
Weizel, sondern es faßt auch die Wahl des Geheimrath
Dr. Herrmann in Heidelberg in diesem Sinne auf. Die
Persönlichkeit und Vergangenheit dieses Kriminaliſten und
Kirchenrechtslehrers läßt die „Warte“ nicht erwarten, daß
Herrmann, wie es den andern ins Land gerufenen Ge-
lehrten begegnet iſt, seiner konservativen Vergangenheit
untreu werde. Seine Stimme werde namentlich in den
| Fragen, die das Verhältniß des Staates zur Kirche be-
treffen von Gewicht sein . . . Wenn wir berechtigt wären"
der „Warte“ irgend welche offiziööe Beziehungen zuzu-
schreiben, ſo würden wir aus ihrer Bemerkung folgern,
die Ernennung des Hrn. Herrmann ſtehe zu der Heidel-
berger Universſitätswahl in innerem Zuſammenhange und
das „Gewicht“ des Herrn Herrmann habe für Hrn.
Bluniſchli die Bedeutung eines „Gegengewichts.“
„Vielleicht geht die Geschichte der Entwicklung unseres
Vaterlandes –~ d. h. die Verpreußung des Südens
den leiſen, faſt unhörbaren Tritt weiter, den sie in der
lezten Zeit angenommen hat.“ So meint die nationalli-
berale „Heidelb. Ztg.,“ und es hat den Anschein, daß
ihr die „leiſe, faſt unhörbare" Verpreußung Badens ge-
rade nicht unangenehm wäre. Sie weiß die „Umſtände“"
zu würdigen und den ,Verhältnissen“ Rechnung zu tragen.
Ebenſo gut könne aber auch plötlich wieder eine Kata-
ſtrophe über Europa hereinbrechen . . . und da, für
dieſen Fall hält es die „Heidelb. Ztg.“ für besonders
erforderlich, daß die nationale Partei auf ihrem Plate,
daß sie gerüſtet sei, für den Fall, „daß große Ereignisse
mit Sturmesgewalt auftreten und die deutſche Frage in
Fluß bringen.! Wann wieder „Blut und Elſen“ ihre
Rolle spielen, dann will die national-liberale Partei mit
„Entſchloſſenheit handeln,“ und in dieſer Voraussicht
richtet das Heidelberger nationalliberale Organ einen
Mahnruf an die Nationalliberalen im Norden, sich doch
enger an die Kollegen im Süden anzuſchließgen . ... Die
Frage, von welcher Seite, vom Süden oder Norden, dr
Anstoß zur Verwirklichung „deutscher Einheit“ auszugehen
habe, will man ja gerne als eine offene behandeln. Aber
kein Anlaß liege vor, die nationalliberale Partei im Nor-
den und Süden getrennt zu halten! Die Kollegen im
Norden haben, wie es den Anschein gewinnt, des Bluts
und des Eiſens genug . . , und wenn nicht Alles trügt,
wird der Lock- und Mahnruf der Heidelberger Bismärckerei
ungehört verhallen. f Ö
Ein anderes nationalliberales Organ ergeht ſich eben-
falls in einem Nothſchrei. Es iſt dieß die „Tauber“.
Sie wittert Morgenluft. Die Ultramontanen und ex-
tremen Demokraten sinnen auf Umſturz. In Bayern,
wo der Landtag zu Anfang Oktober eröffnet wird, da
hätte die ultramontane Partei die Absicht, zur Zeit des
Oktoberfeſtes ihre Schaaren gläubiger Bauern zu einer
Demonstration nach München zu dirigiren und den König
zu nöthigen, das Ministerium Hohenlohe fallen zu laſſen
und sich den Ultramontanen in die Arme zu werfen.
Wäre aber einmal hier der Anstoß erfolgt und der Anfang
gemacht, ſo würde die Bewegung leicht weiter getragen
und mit Hilfe des Preußenhaſſes eine allgemeine Bewe-
gung hervorgerufen, der namentlich auch die Handwerkss
gesellen und Arbeiter zu Hilfe kommen würden .. . .
Entſetlicht Dem gegenüber dürften die Freunde der wahren
Freiheit durchaus nicht erlahmen und sich nicht einschlä-
fern laſſen, und bedürfe es daher der fortgeſezten ener-
gischen Thätigkeit, um das ganze Volk möglichſt um die
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dzeitung.
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