Mittwoch, 16. Juni.
HF 140.
Manuuheimer
bendzeituug
Organ der deulſchen Volkspartei in Baden.
1869.
Die „Mannheimer Abendzeitung" wird ~ mit Ausnahme der Sonntage und Festtage – täg
Anzeigen-Gebühr : die einſpaltige Petitzeile 3 kr., bei Lokalanzeigen 2 kr.
lich als Abendblatt ausgegeben. – Der Abonnementzpreis vierteljährlich Ein Gulden, ohne Poſtauſſchlag
Beſtellungen bei der Expedition 0 1 Nr. 15 in Mannheim und bei allen Poſtanſtalten.
LE
Emilio Caſtelar.
9 Was macht die Rede dieſes Mannes vom 20. Mai
zu einem ſolchen Ereigniß? Warum erblicken Hundert-
tauſende darin ihres Herzens wahrſte und feurigste Ueber-
eugung ? |
; Liegt der Zauber bloß in der Schönheit der Dittion,
in den wunderbaren rhetoriſchen Wendungen, wie sie in
Deutschland gänzlich erſtorben sind, und nur noch hin
und, wieder bei Jules Favre auftauchten? Zum Theil
wohl, aber ganz nicht. Muthet uns dieſer Mann Jo
wohlthätig an, weil er ein Spanier iſt, weil er aus der
gänzlich verwilderten iberischen Cinſamkeit herausredet,
gleich einem armen Prediger des Berges ? Iſt unſer Bei-
fall die beſchämende Antwort auf die ſkeptiſche Frage:
„Was kann aus Nazareth Gutes kommen ?" Beigetragen
hat allerdings dieser Umstand , aber er löſt das Räthſel
nicht.
Zwei Dinge sind es, die dem beredten Spanier alle
Herzen erobert haben : in erſter Linie die glückliche Ver- j
bindung von Wisſenſchaſt und Begeisterung, die innige
Verſchmelzung von Geſchichte und Ideal. Wie dieses Feuer
herumlodert um den mächtigen geschichtlichen Stoff , wie
dieſe Vergleiche der enthuſiaſtiſchen Idee dienen! Wie
Das packt, wenn die Schweiz mit Savoyen verglichen,
wenn die eng li ſch e Staatsverfaſſung analyſirt wird,
wenn die Vortrefflichkeit. der „demotratiſchen Schule“ ſich
an der Richtigkeit ihrer Prophezerhungen aus juüngſter Zeit
bewährt, wenn endlich: die ganz e <riſtliche Welt-
ge ſchichte, die 18 Jahrhunderte, im Strome der Beredt-
ſamkeit an uns vorrüberauſchen!
„An einer einzigen . Idee zehrt ein ganzes Jahr-
hundert. ; HW gt
An der politiſchen Einheit der Welt zehrte das erſte
Jahrhundert; an der ſtoiſchen Idee das zweite; an der
alexandriniſchen das dritte; an der Ertlärung des chriſt-
lichen Dogmas das vierte ; an dem Auftreten des germa-
niſchen Elementes das fünfte; an der Verſchmelzung des
letzteren mit den römiſchen Traditionen in der Kirche das
sechste; an der Aufzwingung des orientaliſchen Elementes
durch die arabiſchen Krummſäbel das siebente; an dem
Racenkampfe, dem Chaos, aus welchem die künftigen Na-
iionalitäten allmählich ausscheiden, das achte; an dem Er-
löſchen des römiſchen Reiches, der Gründung der politi-
ſchen Macht der Päpſte und dem Erscheinen des Feuda-
lismus das neunte; an der religiöſen Schreckensherrſchaft
das zehnte; an dem Kampfse zwiſchen der weltlichen und
der geiſtlichen Macht und dem Siege Hildebrand's das
elſte; an den Kreuzzügen der letzten großen theotratiſchen
und den erſten großen Anstrengungen der weltlichen Ge-
walten das zwölſte; an dem Aufblühen des weltlichen
und dem Teſtamente des theotratſchen Elementes das drei-
zehnte; an dem Siege der Könige über die Theoktratie
und den Feudalismus durch Hervorrufung des Bürger-
ihums das vierzehnte; an der Umgestaltung unseres Pla-
neten durch die Buchdruckerkunſt, der Magnetnadel,
der Verbreitung des Schießpulvers, der epiſchen Fahrt der
Portugieſen nach dem Oſten und dem mythiſchen Zuge
der Spanier nach Amerika das fünfzehnte; an der Wieder-
erlangung der Gewissensfreiheit durch die Reformation
das sechszehnte; an der Emanizipation der Vernunft und
der Philoſophie durch den westphälischen Frieden das
ſiebenzehnte; an dem Kampfe der Enchklopädiſten gegen
allcs Verrottee und den Revolutionen in Amerika und
Frankreich das achtzehnte ; an der Union der Denctratie,
welche durch die Revolutionen, und der Freiheit , welche
durch die Wissenſchaft erstanden, das neunzehnte Jahr-
hundert, welches berufen iſt, den europäischen Staatenver-
ein zu gründen und mit dieser leuchtenden Formel der
Zukunft die Zivilitation der Welt zu krönen !"
Das Zweite, was die wunderbare Wirkung der Rede
erklürt, ist die glückliche Einheit von romaniſchem und
germaniſchem Wesen , von romaniſcher Allgemeinheit
_ und germanischem Individualismus. Caſtelar wehrt zwar
aus Beſcheidenheit den Vergleich mit Viktor Hugo und
Lamartine von ſich ab und behauptet, kein Poet zu ſein.
Als ob man in Proſa nicht dichteriſch jein könnte! Er
hat aber allerdings das hohe franzöſiſche Pathos in sich,
welches ganze Geschichts- und Menſchheitsperioden in
wenigen Antitheſen zu erörtern liebt,, wenngleich er den
Hugo'ſchen Bombaſt durchaus vermeidet.
î „Die Monarchie iſt für mich die ſoziale Ungerechtig-
keit und für mein Vaterland die politiſche Reaktion; die
Republik iſt sür mich die soziale Gerechtigkeit und für
mein Vaterland die politiſche Freiheit. Die republikanische
Idee, die Sie Alle durchdringt, gleicht jedoch bei Ihnen
dem wärmenden Sonnenſtrahle, der auf die traurigen,
für immer geſchloſsſenen Wimpern des Blinden fällt, und
obwohl eine Idee sich niemals klarer herausstellte und
lräftiger geltend machte, geht die Republik hier dennoch
einer Niederlage entgegen.“.
Oder: „Meine Herren ! Vor wenigen Tagen erſt hat
der Ausspruch meines verehrten Freundes Orenſe, ,daß
auch die Republit ihre Propheten hat“, Ihr ungläubiges
Lächeln hervorgerufen, und doch beweisen dicſe Zweifel
nur, daß Sie die Geſellſchaſt, in welcher Sie leben, nicht
kennen. Wie die Zeit drei Epochen, wie der Gedanke
drei Formen , so hat die Geſellſchaft drei Parteien: die
der Priester, das ist die Partei der Erinnerungen; die der
Staatsmänner , d. i. die Partei der Konſervativen , und
die der Propheten und Märtyrer, d. i. die republitanische
artei. “
y Aber der Individualiſt schlummert nur in ihm und
erhebt rechtzeitig ſein Haupt. Er braucht nur auf die
Völkerwanderung zu kommen , vom Unterschiede der
Gothen und Angelsachsen zu reden, ſo glaubt man
den reinen Germanen zu hören.
„Als die Völker des Nordens herankamen, brachten sie
einen Theil der byzantiniſchen Verderbtheit mit; ſo grün-
deten die Gothen bei uns ein wahrhaft byzantiniſches
Reich. Aber die Sachſen , barbariſcher, individueller und
unabhängiger, hatten in England die Republik gegründet,
denn ihre Könige waren Häuptlinge der Stämme, und
diese waren föderaliſtisch, denn, meine Herren, die Repu-
hliken sind die urſprünglichſte, aber auch die vollendetſte
Regierungsform ; sie nehmen denselben Verlauf wie alle
ziviliſatorischen Institutionen, wie alle ewigen Wahrheiten,
und daher, von den Sachſen nämlich, ſtammten für Eng-
land drei große Dinge: die Sicherheit des häus-
lichen Herdes, die Juri und das Eingreifen des
Volkes in das öffentliche Leben.“
Und so möchten wir ihm zum Troſte sagen: dieser
Geiſt lebt noch, trotz aller deuiſchen ,„bureautratiſchen
Omnipotenz“, und die Vereinigten Staaten von Europa
werden die ,„militäriſche autokratiſche Koalition“ in Mittel-
europa ni < t auf ihrem Wege finden, wie Caſtelar be-
fürchte. Beim Krähen des Hahns verſchwinden ſolche
Spuckgeſtalten.
Das Ergreifendste bleibt aber der Schluß der Pracht-
rede, ein Schluß, der auch noch auf andere Männer paßt
als auf die 70 oder 60 Kertesmitglieder zu Madrid,
ein Schluß, der dreifach in jedem Herzen wiederhallt , je
monotoner das Gerede von der „Opportunität", je
tödtender das ,Rechnungtragen“ unserer Halblinge auf
jede reine Empfindung seit Jahr und Tag gewirkt hat.
„Meine Herren, ich ſchließe, weil ich ermüdet bin
und die Kammer es noch mehr sein wird, und weil Sie
die Republik, die Sie gründen könnten, nicht gründen
wollen; hätten Sie es gethan, wäre uns die große Na-
tion verpflichtet worden, aus deren Hauptſtadt nun die
Marseillaiſe in mächtigem Chore ertönt. Sie werden mich
Träumer nennen, aber Traum nannten die alten Phari-
säer die Einigung des Menſchengesſchlechtes in der Religion;
Traum war das Chriſtenthum, Traum nannten die letz-
ten Gelehrten des Mittelalters die Idee Chriſtoph Colum-
bus’ und die Entdeckung einer neuen Welt; Traum
nannten die Aristokraten das Erſtehen der Demokratie,
und ein Traum war zuerſt im Jahre 1789 die Prokla-
mirung der Menschenrechte. Nun nennen auch Sie uns
„Träumer“ ! Aber der Blitzſtrahl, der Blitſtrahl, der die
Eichen der alten Monarchien zerſplittern wird, wird nicht
ausbleiben, und dann werden Sie kommen müsſen, um
mit eigenen Händen den Baum der neuen Nationalität
aufzurichten, und in ſeinen Stamm werdenSie eingraben
müssen die Namen der ſechszig Männer, die hier gegen
die Könige votiren werden, eingraben mit der Aufschrift :
„Den Verkündern der Zukunft, den Gründern der Re-
publik in Spanien.“ ;
Politiſche Uebersicht.
Mannheim, 15. Juni.
* Während an erheblichen politischen Tagesneuigkeiten
heute vollſtändiger Mangel ist, zeichnen sich in der gestern
durch den Telegraphen auszugsweise mitgetheilten amtlichen
Erklärung des Pariser Regierungsblattes bereits, faſt
greifbar, die Dinge, die wir demnächſt aus Frankreich
zu hören bekommen werden. Kaum ganz verhallt ſind
die Rufe, die dem ſchuldbewußten Mörder der Republik
den, wohl nie ganz zur Ruhe zu bringenden, Schreckens-
gedanken an den Tag der Abrechnung wachgerufen haben,
und schon werden die Straßentumulte ~ denen die Bedeu-
tung einer revolutionären Bewegung nicht beigemessen
werden kann, die kein Sturm, sondern höchſtens einer der
Winde waren, wie sie Stürmen vorangehen ~+ zur Höhe
eines Komplotts hinaufgeſchraubt , eine „gewiſſe" Partei
als der Verſchwörer, die demokratische Preſſe als der Mit-
schuldige bezeichne. Das Sicherheitsgeseß wird seine
Schuldigkeit thun. Den Deportationsſchiffen nach Cayenne
und Lambesſa steht reiche Fracht; der unabhängigen
Presſe stärkere Bedrängniß bevor. Was vor 16 Jahren
nach dem Dezemberverbrechen gut that: wird es auch nach
den Wahlen des Jahres 1869 gut thun ? Inzwischen
iſt ein neu Geschlecht herangewachſen ; abgewendet vom
Verfolger ihrer Eltern steht die Jugend; die Balken, wo-
mit der Imperator sein von innerer Fäulniß zerfreſſenes
Gebäude zu stüten wähnt, können ~ wir hoffen, ſie
werden – unter ihrem Sturze den Baumeiſter begraben.
Im Zollparlam ent hat gestern die Vorberathung
der Vorlage über die Abänderungen des Zollvereinstarifes
begonnen. So weit die bisher vorliegenden Berichte über
die Verhandlungen reichen, ist aus diesen nur hervorzu-
heben, daß der Präfident Delbrück im Namen des Zoll-
hundesrathes je d e Zollermäßigung von der Bewilligung
der Petroleumſteuer abhängig machte. Im vorigen Jahre
iſt diese Steuer mit 149 gegen 86 Stimmen abgelehnt
worden, und auch dießmal ſcheint ihr dieß Schickſal bevorzu-
ſtehen, so viele Mühe ſich auch die preußiſche Regierung
ſchon darum, um sodann dem Reichstag die Bewilligung
der Gassteuer mit einiger Aussicht auf Erfolg ansinnen
zu können, zu ihrer Durchsetzung gibt.
Eine Korreſpondenz der „Danziger Zeitung“ aus
Bromberg bringt einen recht eklatanten Beitrag zum Ka-
pitel der preußischen Schulregulative, indem ſie
in erſchrecender Weiſe den Ausfall der Prüfung im Ma-
rienberger Lehrerseminar schildert, wobei ſich nach allen
Richtungen hin eine Unwissenheit kundgegeben hat, wie man
ſie kaum in Rußland , geſchweige denn im Staate , der
ſich den Staat der Intelligenz nennen läßt und auch wohl
ſelbſt ſo nennt, erwarten dürfte. Die Zeitung mißt die
Schuld mit vollem Recht theils der unzureichenden Be-
soldung der Volkslehrer bei, wodurch nur ſchwachbegabte
Köpfe für die Schule gewonnen würden, theils aber auch,
und wohl mit noch mehr Recht, dem vom Unterrichts-
ministerium begünſtigten hyperorthodoren Geiſle, der das
Heil der Schule lediglich im Schooß der Kirche ſucht, der
den Regulativen die Bedeutung eines Evangeliums beilegt
und allen freieren geiſtigen Strömungen entſchieden ent-
gegentritt. Diese hierarchiſche Richtung, die bereits überall
die herrſchende iſt, bedient ſich vorzugsweise gern unan-
taſtbarer frommer Redensarten, die in ein heiliges Halbduntel
gehüllt sind. So iſt in einem von der Prüfungsbehörde
des genannten Lehrerſeminars ausgeſtellten Zeugnisse zu
lesen: „daß der Kandidat ſich als hervorragend tüchtiger
Lehrer erweiſen werde, vorausgeſezt, daß er es nicht
unterläßt, sich ſtets unter die Gunst des heiligen Geistes
zu stellen.“ Als fleiſchgewordenen heiligen Geiſt wird er
wohl den frommen Lokalgeiſtlichen anzuſehen haben. , Aber
nicht bloß das niedere Schulweſen läuft..bei dieser ſou-
veränen Herrſchaft der Orthodoxie Gefahr“, fügt das
Blatt bei, „ſondern auch die Wisfenſchaft überhaupt, die zu
ihrem Gedeihen sich der freien Bewegung nicht entäußern
darf. Stahl hat einmal gesagt: die Wiſſenschaft muß
umkehren. Er hatte Recht ~– wenn auch nicht in seinem
Sinne, denn es iſt wohl Zeit , daß ſie umkehre , d. h.
zu dem Standpunkte zurückkehre , den ſie unter dem Mi-
nisterium Altenstein einnahm, in dem ein Johannes
Schulße und ein Süvern ſo ſegensreich wirkten. Jett
läuft sie offenbar Gefahr, ihren wiſſenſchaftlichen Charatter,
d. h. ihren philosophischen Auf- und Ausbau einzubüßen
und zu einem Konglomerat innerlich unverbundener Lehren
herabzuſinken. Kant und Fichte , Schelling und Hegel
ſind fast vergesſſene Namen, die man durch Knack und
Konsorten schwerlich erſeßgen wird." Einem künftigen
Proteſtantentage von Worms ſei dieſer Pfa hl im eige-
nen Fleiſche zu geneigter Beachtung empfohleae.
In Heſſen große That der Bismärcker. In einer
1800 Unierſchriften zählenden Petition wird der Groß-
herzog gebeten, „ſo schnell als möglich in den Nordbund
einzutreten, “ um dem haltloſen Zuſtande des Großherzog-
thums ein Ende zu machen. Dieser Vorgang wird den
Bismärckern in Baden nicht Ruhe lassen und vielleicht
daß die „Mannheimer 130“ den Beruf in ſich tragen,
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i!
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Manuuheimer
bendzeituug
Organ der deulſchen Volkspartei in Baden.
1869.
Die „Mannheimer Abendzeitung" wird ~ mit Ausnahme der Sonntage und Festtage – täg
Anzeigen-Gebühr : die einſpaltige Petitzeile 3 kr., bei Lokalanzeigen 2 kr.
lich als Abendblatt ausgegeben. – Der Abonnementzpreis vierteljährlich Ein Gulden, ohne Poſtauſſchlag
Beſtellungen bei der Expedition 0 1 Nr. 15 in Mannheim und bei allen Poſtanſtalten.
LE
Emilio Caſtelar.
9 Was macht die Rede dieſes Mannes vom 20. Mai
zu einem ſolchen Ereigniß? Warum erblicken Hundert-
tauſende darin ihres Herzens wahrſte und feurigste Ueber-
eugung ? |
; Liegt der Zauber bloß in der Schönheit der Dittion,
in den wunderbaren rhetoriſchen Wendungen, wie sie in
Deutschland gänzlich erſtorben sind, und nur noch hin
und, wieder bei Jules Favre auftauchten? Zum Theil
wohl, aber ganz nicht. Muthet uns dieſer Mann Jo
wohlthätig an, weil er ein Spanier iſt, weil er aus der
gänzlich verwilderten iberischen Cinſamkeit herausredet,
gleich einem armen Prediger des Berges ? Iſt unſer Bei-
fall die beſchämende Antwort auf die ſkeptiſche Frage:
„Was kann aus Nazareth Gutes kommen ?" Beigetragen
hat allerdings dieser Umstand , aber er löſt das Räthſel
nicht.
Zwei Dinge sind es, die dem beredten Spanier alle
Herzen erobert haben : in erſter Linie die glückliche Ver- j
bindung von Wisſenſchaſt und Begeisterung, die innige
Verſchmelzung von Geſchichte und Ideal. Wie dieses Feuer
herumlodert um den mächtigen geschichtlichen Stoff , wie
dieſe Vergleiche der enthuſiaſtiſchen Idee dienen! Wie
Das packt, wenn die Schweiz mit Savoyen verglichen,
wenn die eng li ſch e Staatsverfaſſung analyſirt wird,
wenn die Vortrefflichkeit. der „demotratiſchen Schule“ ſich
an der Richtigkeit ihrer Prophezerhungen aus juüngſter Zeit
bewährt, wenn endlich: die ganz e <riſtliche Welt-
ge ſchichte, die 18 Jahrhunderte, im Strome der Beredt-
ſamkeit an uns vorrüberauſchen!
„An einer einzigen . Idee zehrt ein ganzes Jahr-
hundert. ; HW gt
An der politiſchen Einheit der Welt zehrte das erſte
Jahrhundert; an der ſtoiſchen Idee das zweite; an der
alexandriniſchen das dritte; an der Ertlärung des chriſt-
lichen Dogmas das vierte ; an dem Auftreten des germa-
niſchen Elementes das fünfte; an der Verſchmelzung des
letzteren mit den römiſchen Traditionen in der Kirche das
sechste; an der Aufzwingung des orientaliſchen Elementes
durch die arabiſchen Krummſäbel das siebente; an dem
Racenkampfe, dem Chaos, aus welchem die künftigen Na-
iionalitäten allmählich ausscheiden, das achte; an dem Er-
löſchen des römiſchen Reiches, der Gründung der politi-
ſchen Macht der Päpſte und dem Erscheinen des Feuda-
lismus das neunte; an der religiöſen Schreckensherrſchaft
das zehnte; an dem Kampfse zwiſchen der weltlichen und
der geiſtlichen Macht und dem Siege Hildebrand's das
elſte; an den Kreuzzügen der letzten großen theotratiſchen
und den erſten großen Anstrengungen der weltlichen Ge-
walten das zwölſte; an dem Aufblühen des weltlichen
und dem Teſtamente des theotratſchen Elementes das drei-
zehnte; an dem Siege der Könige über die Theoktratie
und den Feudalismus durch Hervorrufung des Bürger-
ihums das vierzehnte; an der Umgestaltung unseres Pla-
neten durch die Buchdruckerkunſt, der Magnetnadel,
der Verbreitung des Schießpulvers, der epiſchen Fahrt der
Portugieſen nach dem Oſten und dem mythiſchen Zuge
der Spanier nach Amerika das fünfzehnte; an der Wieder-
erlangung der Gewissensfreiheit durch die Reformation
das sechszehnte; an der Emanizipation der Vernunft und
der Philoſophie durch den westphälischen Frieden das
ſiebenzehnte; an dem Kampfe der Enchklopädiſten gegen
allcs Verrottee und den Revolutionen in Amerika und
Frankreich das achtzehnte ; an der Union der Denctratie,
welche durch die Revolutionen, und der Freiheit , welche
durch die Wissenſchaft erstanden, das neunzehnte Jahr-
hundert, welches berufen iſt, den europäischen Staatenver-
ein zu gründen und mit dieser leuchtenden Formel der
Zukunft die Zivilitation der Welt zu krönen !"
Das Zweite, was die wunderbare Wirkung der Rede
erklürt, ist die glückliche Einheit von romaniſchem und
germaniſchem Wesen , von romaniſcher Allgemeinheit
_ und germanischem Individualismus. Caſtelar wehrt zwar
aus Beſcheidenheit den Vergleich mit Viktor Hugo und
Lamartine von ſich ab und behauptet, kein Poet zu ſein.
Als ob man in Proſa nicht dichteriſch jein könnte! Er
hat aber allerdings das hohe franzöſiſche Pathos in sich,
welches ganze Geschichts- und Menſchheitsperioden in
wenigen Antitheſen zu erörtern liebt,, wenngleich er den
Hugo'ſchen Bombaſt durchaus vermeidet.
î „Die Monarchie iſt für mich die ſoziale Ungerechtig-
keit und für mein Vaterland die politiſche Reaktion; die
Republik iſt sür mich die soziale Gerechtigkeit und für
mein Vaterland die politiſche Freiheit. Die republikanische
Idee, die Sie Alle durchdringt, gleicht jedoch bei Ihnen
dem wärmenden Sonnenſtrahle, der auf die traurigen,
für immer geſchloſsſenen Wimpern des Blinden fällt, und
obwohl eine Idee sich niemals klarer herausstellte und
lräftiger geltend machte, geht die Republik hier dennoch
einer Niederlage entgegen.“.
Oder: „Meine Herren ! Vor wenigen Tagen erſt hat
der Ausspruch meines verehrten Freundes Orenſe, ,daß
auch die Republit ihre Propheten hat“, Ihr ungläubiges
Lächeln hervorgerufen, und doch beweisen dicſe Zweifel
nur, daß Sie die Geſellſchaſt, in welcher Sie leben, nicht
kennen. Wie die Zeit drei Epochen, wie der Gedanke
drei Formen , so hat die Geſellſchaft drei Parteien: die
der Priester, das ist die Partei der Erinnerungen; die der
Staatsmänner , d. i. die Partei der Konſervativen , und
die der Propheten und Märtyrer, d. i. die republitanische
artei. “
y Aber der Individualiſt schlummert nur in ihm und
erhebt rechtzeitig ſein Haupt. Er braucht nur auf die
Völkerwanderung zu kommen , vom Unterschiede der
Gothen und Angelsachsen zu reden, ſo glaubt man
den reinen Germanen zu hören.
„Als die Völker des Nordens herankamen, brachten sie
einen Theil der byzantiniſchen Verderbtheit mit; ſo grün-
deten die Gothen bei uns ein wahrhaft byzantiniſches
Reich. Aber die Sachſen , barbariſcher, individueller und
unabhängiger, hatten in England die Republik gegründet,
denn ihre Könige waren Häuptlinge der Stämme, und
diese waren föderaliſtisch, denn, meine Herren, die Repu-
hliken sind die urſprünglichſte, aber auch die vollendetſte
Regierungsform ; sie nehmen denselben Verlauf wie alle
ziviliſatorischen Institutionen, wie alle ewigen Wahrheiten,
und daher, von den Sachſen nämlich, ſtammten für Eng-
land drei große Dinge: die Sicherheit des häus-
lichen Herdes, die Juri und das Eingreifen des
Volkes in das öffentliche Leben.“
Und so möchten wir ihm zum Troſte sagen: dieser
Geiſt lebt noch, trotz aller deuiſchen ,„bureautratiſchen
Omnipotenz“, und die Vereinigten Staaten von Europa
werden die ,„militäriſche autokratiſche Koalition“ in Mittel-
europa ni < t auf ihrem Wege finden, wie Caſtelar be-
fürchte. Beim Krähen des Hahns verſchwinden ſolche
Spuckgeſtalten.
Das Ergreifendste bleibt aber der Schluß der Pracht-
rede, ein Schluß, der auch noch auf andere Männer paßt
als auf die 70 oder 60 Kertesmitglieder zu Madrid,
ein Schluß, der dreifach in jedem Herzen wiederhallt , je
monotoner das Gerede von der „Opportunität", je
tödtender das ,Rechnungtragen“ unserer Halblinge auf
jede reine Empfindung seit Jahr und Tag gewirkt hat.
„Meine Herren, ich ſchließe, weil ich ermüdet bin
und die Kammer es noch mehr sein wird, und weil Sie
die Republik, die Sie gründen könnten, nicht gründen
wollen; hätten Sie es gethan, wäre uns die große Na-
tion verpflichtet worden, aus deren Hauptſtadt nun die
Marseillaiſe in mächtigem Chore ertönt. Sie werden mich
Träumer nennen, aber Traum nannten die alten Phari-
säer die Einigung des Menſchengesſchlechtes in der Religion;
Traum war das Chriſtenthum, Traum nannten die letz-
ten Gelehrten des Mittelalters die Idee Chriſtoph Colum-
bus’ und die Entdeckung einer neuen Welt; Traum
nannten die Aristokraten das Erſtehen der Demokratie,
und ein Traum war zuerſt im Jahre 1789 die Prokla-
mirung der Menschenrechte. Nun nennen auch Sie uns
„Träumer“ ! Aber der Blitzſtrahl, der Blitſtrahl, der die
Eichen der alten Monarchien zerſplittern wird, wird nicht
ausbleiben, und dann werden Sie kommen müsſen, um
mit eigenen Händen den Baum der neuen Nationalität
aufzurichten, und in ſeinen Stamm werdenSie eingraben
müssen die Namen der ſechszig Männer, die hier gegen
die Könige votiren werden, eingraben mit der Aufschrift :
„Den Verkündern der Zukunft, den Gründern der Re-
publik in Spanien.“ ;
Politiſche Uebersicht.
Mannheim, 15. Juni.
* Während an erheblichen politischen Tagesneuigkeiten
heute vollſtändiger Mangel ist, zeichnen sich in der gestern
durch den Telegraphen auszugsweise mitgetheilten amtlichen
Erklärung des Pariser Regierungsblattes bereits, faſt
greifbar, die Dinge, die wir demnächſt aus Frankreich
zu hören bekommen werden. Kaum ganz verhallt ſind
die Rufe, die dem ſchuldbewußten Mörder der Republik
den, wohl nie ganz zur Ruhe zu bringenden, Schreckens-
gedanken an den Tag der Abrechnung wachgerufen haben,
und schon werden die Straßentumulte ~ denen die Bedeu-
tung einer revolutionären Bewegung nicht beigemessen
werden kann, die kein Sturm, sondern höchſtens einer der
Winde waren, wie sie Stürmen vorangehen ~+ zur Höhe
eines Komplotts hinaufgeſchraubt , eine „gewiſſe" Partei
als der Verſchwörer, die demokratische Preſſe als der Mit-
schuldige bezeichne. Das Sicherheitsgeseß wird seine
Schuldigkeit thun. Den Deportationsſchiffen nach Cayenne
und Lambesſa steht reiche Fracht; der unabhängigen
Presſe stärkere Bedrängniß bevor. Was vor 16 Jahren
nach dem Dezemberverbrechen gut that: wird es auch nach
den Wahlen des Jahres 1869 gut thun ? Inzwischen
iſt ein neu Geschlecht herangewachſen ; abgewendet vom
Verfolger ihrer Eltern steht die Jugend; die Balken, wo-
mit der Imperator sein von innerer Fäulniß zerfreſſenes
Gebäude zu stüten wähnt, können ~ wir hoffen, ſie
werden – unter ihrem Sturze den Baumeiſter begraben.
Im Zollparlam ent hat gestern die Vorberathung
der Vorlage über die Abänderungen des Zollvereinstarifes
begonnen. So weit die bisher vorliegenden Berichte über
die Verhandlungen reichen, ist aus diesen nur hervorzu-
heben, daß der Präfident Delbrück im Namen des Zoll-
hundesrathes je d e Zollermäßigung von der Bewilligung
der Petroleumſteuer abhängig machte. Im vorigen Jahre
iſt diese Steuer mit 149 gegen 86 Stimmen abgelehnt
worden, und auch dießmal ſcheint ihr dieß Schickſal bevorzu-
ſtehen, so viele Mühe ſich auch die preußiſche Regierung
ſchon darum, um sodann dem Reichstag die Bewilligung
der Gassteuer mit einiger Aussicht auf Erfolg ansinnen
zu können, zu ihrer Durchsetzung gibt.
Eine Korreſpondenz der „Danziger Zeitung“ aus
Bromberg bringt einen recht eklatanten Beitrag zum Ka-
pitel der preußischen Schulregulative, indem ſie
in erſchrecender Weiſe den Ausfall der Prüfung im Ma-
rienberger Lehrerseminar schildert, wobei ſich nach allen
Richtungen hin eine Unwissenheit kundgegeben hat, wie man
ſie kaum in Rußland , geſchweige denn im Staate , der
ſich den Staat der Intelligenz nennen läßt und auch wohl
ſelbſt ſo nennt, erwarten dürfte. Die Zeitung mißt die
Schuld mit vollem Recht theils der unzureichenden Be-
soldung der Volkslehrer bei, wodurch nur ſchwachbegabte
Köpfe für die Schule gewonnen würden, theils aber auch,
und wohl mit noch mehr Recht, dem vom Unterrichts-
ministerium begünſtigten hyperorthodoren Geiſle, der das
Heil der Schule lediglich im Schooß der Kirche ſucht, der
den Regulativen die Bedeutung eines Evangeliums beilegt
und allen freieren geiſtigen Strömungen entſchieden ent-
gegentritt. Diese hierarchiſche Richtung, die bereits überall
die herrſchende iſt, bedient ſich vorzugsweise gern unan-
taſtbarer frommer Redensarten, die in ein heiliges Halbduntel
gehüllt sind. So iſt in einem von der Prüfungsbehörde
des genannten Lehrerſeminars ausgeſtellten Zeugnisse zu
lesen: „daß der Kandidat ſich als hervorragend tüchtiger
Lehrer erweiſen werde, vorausgeſezt, daß er es nicht
unterläßt, sich ſtets unter die Gunst des heiligen Geistes
zu stellen.“ Als fleiſchgewordenen heiligen Geiſt wird er
wohl den frommen Lokalgeiſtlichen anzuſehen haben. , Aber
nicht bloß das niedere Schulweſen läuft..bei dieser ſou-
veränen Herrſchaft der Orthodoxie Gefahr“, fügt das
Blatt bei, „ſondern auch die Wisfenſchaft überhaupt, die zu
ihrem Gedeihen sich der freien Bewegung nicht entäußern
darf. Stahl hat einmal gesagt: die Wiſſenschaft muß
umkehren. Er hatte Recht ~– wenn auch nicht in seinem
Sinne, denn es iſt wohl Zeit , daß ſie umkehre , d. h.
zu dem Standpunkte zurückkehre , den ſie unter dem Mi-
nisterium Altenstein einnahm, in dem ein Johannes
Schulße und ein Süvern ſo ſegensreich wirkten. Jett
läuft sie offenbar Gefahr, ihren wiſſenſchaftlichen Charatter,
d. h. ihren philosophischen Auf- und Ausbau einzubüßen
und zu einem Konglomerat innerlich unverbundener Lehren
herabzuſinken. Kant und Fichte , Schelling und Hegel
ſind fast vergesſſene Namen, die man durch Knack und
Konsorten schwerlich erſeßgen wird." Einem künftigen
Proteſtantentage von Worms ſei dieſer Pfa hl im eige-
nen Fleiſche zu geneigter Beachtung empfohleae.
In Heſſen große That der Bismärcker. In einer
1800 Unierſchriften zählenden Petition wird der Groß-
herzog gebeten, „ſo schnell als möglich in den Nordbund
einzutreten, “ um dem haltloſen Zuſtande des Großherzog-
thums ein Ende zu machen. Dieser Vorgang wird den
Bismärckern in Baden nicht Ruhe lassen und vielleicht
daß die „Mannheimer 130“ den Beruf in ſich tragen,
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