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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 2.1910

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4. Heft
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Graul, Richard: Die französische Kunstausstellung der Berliner Akademie
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https://doi.org/10.11588/diglit.24116#0148

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DIE FRANZÖSISCHE KUNSTAUSSTELLUNG DER BERLINER AKADEMIE

ließen fich die Damen am liebften in glatten oder einfach geftreiften Kleidern und mit Stroh-
hüten malen. Zu diefer bürgerlichen Schlichtheit gefeilt fich zuweilen einige Affektation
und, wenn es fich um fittenbildliche Darftellungen mit braver Moral handelt, eine Neigung
zur Rührfeligkeit. Idyllifche Landfchaftsbilder werden beliebt. Diefer Wandel des Gefchmacks
äußert fich wie in der Mode so auch im Kolorit, in der Farbenftimmung der Bilder, deren
Tendenz im allgemeinen auf eine kühlere und lichtere und möglichft Ton in Ton gehal-
tene Farbigkeit hinzielt. Die bunte Heiterkeit, die theatralifche Manier der älteren in der
Schule Bouchers und der Vanloo groß gewordenen Generation erfcheint veraltet. Es ift
eine Ausnahme, wenn der weitaus talentvollfte Schüler Bouchers, wenn Fragonard den
Zufammenhang mit der koloriftifchen Tradition Watteaus aufrecht erhält und, dank feiner
guten Beziehungen zu dem radikalen David, bis über die Konventszeit hinaus am arifto-
kratifchen Gefchmack des ancien regime fefthalten kann. Die Watteaufchen Farbenvifionen
liegen Fragonard im Sinn; technifch betrachtet behandelt er fie zuweilen in einer Manier,
die an den modernen Impreffionismus erinnert. Aber zu dem die Farben gleichfam zer-
legenden Vortrag kommt noch etwas, das meift überfehen wird: eine aus dem Studium
Rembrandts gezogene Kompofition, die dasHelldunkel Rembrandts in hellere Tonlagen trans-
poniert. Wenn Fragonard ein Bild Rembrandts, wie die heilige Familie von 1645 in St.
Petersburg, kopiert, dann zeigt er die Szene im Zauber ftrahlend heller Harmonien. Auch
Fragonards flüffige und oft impetuofe Technik, felbft )eine Art zu fkizzieren, zu zeichnen,
hat manches mit dem Verfahren Rembrandts gemein. Ganz fein eigen ift aber fein füd-
ländifches Temperament. Gute Beifpiele feiner gefchmackvollen Virtuofität find die Leferin
(Nr. 138, Dr. Tuffier), dann der Pafcha, dem Zirkaffierinnen zugeführt werden — in der
Anlage und Lichtführung doch rembrandtifch — (49, Dr. Jean Charcot), der Befuch bei
der Amme (142, Louis Stern, Paris) und die zwei luftigen Spielgefellfchaften in duftigen
und flüchtig hingemalten Parklandfchaften (314 und 320, Graf Pillet-Will).

Im Gegenfaß zu dem Farbenzauberer Fragonard, der über die Wirklichkeit des Ge-
fehenen hinausträumt, verfolgte in aller Zurückgezogenheit Jean-Baptifte Chardin ein
anderes, fchlichteres Ideal. Aus innerer Ergriffenheit für den farbigen Reiz alltäglicher
Umgebung, wie ihn fein merkwürdig klares und feines Künftlerauge empfindet, weiß er
die allereinfachften Vorwürfe: Stilleben, bürgerliche Genrefzenen mit mehr Treue und
Wärme zu fchildern als irgendeiner feiner Zeitgenoffen. Nach rückwärts reichen feine
künftlerifchen Ahnen bis auf die Gebrüder Le Nain und auf die Niederländer wie Vermeer.
Aber vom Standpunkt modernfter Kunft betrachtet erfcheint er wie ein verheißungsvoller
Vorläufer impreffioniftifcher Kunft. Denn er geht ganz felbftändig zu Werke, er erfindet
fich eine eigene Malweife, die mofaikartig möglichft ungebrochene Farbtöne neben und
gegeneinander feßt, ähnlich wie das Courbet, Leibi verfuchten und wie es gewiffe Münchner
noch tun. Mit Überlegung und in langfamer Arbeit ging er ans Werk, aber feine wiffen-
fchaftlich fachliche Methode hat der warmen Empfindung für den farbigen Tonreiz und
der gefchloffenen Harmonie keinen Abbruch getan. Das gegebene Genre für diefe alle
Improvifation ausfchließende Kunft bildet das Stilleben und die zuftändliche Schilderung
häuslicher Vorgänge. In Bildern kleinen Formates erreicht er die beften Wirkungen; fo-
wie er zu größeren Formaten greift, wie in dem Bilde der Brieffieglerin von 1737 oder
in dem Zeichner von 1733 — Nr. 303,304 aus dem Befiß des Kaifers — dann tut er fich
fchwer. Aber in den kleinen Bildern, auf denen er uns die Vorgänge in der Küche fchil-
dert (298, 301, 305, 308) oder den jungen Herren vor feiner Gouvernante zeigt (313) —-
diefe alle aus der Galerie Liechtenftein — ift er ein ganz großer Maler, der würdige
und felbftändige Rivale des Delfter Vermeer.

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