Journal der Goldschmiedekunst: ill. Fachzeitschr. für Juweliere, Gold- u. Silberschmiede u. d. Bijouterie-Industrie ; Zentralorgan für d. Interessen dt. Juweliere, Gold- u. Silberschmiede .. — 30.1909
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DOI issue:
Nr. 27
DOI article:Bindhardt, Georg: Über Stil und Geschmack
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~a JOURNAL DER GOLDSCHMIEDEKUNST ■
222
früher besass, zum grössten Teil eingebüsst. — Es bleibt
als alleiniger Faktor das selbständige Bürgertum.
In der sozialen Verfassung des Bürgertums von heute
und von früher besteht ebenfalls ein ganz wesent-
licher Unterschied. — Bei den Griechen und Römern
bestand das Bürgertum aus Geschlechtern, Patriziern,
die im Besitze der Rechte
waren, gegenüber dem rechtlosen
Plebejertum.
Im Mittelalter waren es äusser
den Patriziern die Zünfte, die
öffentlichen Einfluss hatten. Aber
auch hier war die jeweilige Stel-
lung des Einzelnen zur Gemeinde
durch bestimmte Gesellschaftsge-
setze fest geregelt.
Heute hat jeder einzelne Ein-
fluss auf die Staatsverfassung.
Aus Geschlechtern, Zünften und
Hörigen ist ein einheitliches freies
Bürgertum geworden, in dem jeder
auf Grund seiner persönlichen
Fähigkeiten sich eine Sonder-
stellung erringen kann.
Diese Gesellschaftsklasse, die,
nebenbei bemerkt, noch jung ist,
hatte bis jetzt nur vorwiegend
politische Interessen.
Die allgemeine Umwertung
ethischer Begriffe ist noch nicht
so weit gediehen, um Gesetz zu
sein. So lange dies nicht der Fall
ist, besteht auch noch nicht das Verlangen nach einer
Verherrlichung der Idee als bleibender Ausdruck im Kunst-
werk. Unsere Zeit stellt der Kunst noch keine Aufgaben
in einem bestimmten ethischen Sinne. Unsere moderne
Kunst empfängt den idealen Trieb aus sich selbst heraus:
sie arbeitet dementsprechend vorwiegend an dem Problem
der Form. Dieser Umstand hatte das eine Gute: die
Kunst wurde frei in Form und Idee.
Für den Künstler selbst ist es überflüssig, wohin die
Zeit führt. Die Grundlage für ihn, um selbstschöpferisch
zu werden, bleibt nicht die Richtung des Geschmacks,
sondern der Begriff des Formalen.
Stil im Sinne der Formenlehre, Stil ist die Über-
tragung der Naturform in eine dem Material entsprechende
Technik, um das Wort Sempers
noch einmal zu betonen. Material
und entsprechende Technik er-
scheinen so wesensverwandt, dass
es uns sonderbar vorkommen mag,
wie ein Material in einer ihm
nicht angepassten Technik jemals
verarbeitet, umgeformt werden
kann.
Um mich leicht verständlich zu
machen, will ich hier zu einem
Beispiel greifen.
Wenn ich eine Modellierung
anfertigen soll, die in Bronze oder
Hartmetall gegossen wird, so weiss
ich, dass man, um einen scharfen
Guss zu bekommen, die Form
bewegt detailliert halten muss.
Ich weiss ferner, dass der hand-
werkliche Wert eines Metallgusses
in dem Masse wächst, wie die
Form kompliziert wird. Es kommt
hinzu, dass Metall als sehr dichtes
Material anderen Gesetzen der
Schwere unterliegt wie z. B. Stein;
ich kann Metall dünn und frei
herausarbeiten, während ich bei dem Stein möglichst die
kompakte Masse erhalten muss. Alle diese Umstände
ermöglichen, bedingen zum Teil für Metall eine reich-
haltige und freie Modellierung. Es ist daher nicht ange-
passt, wie dies aber leider viel geschieht, ein modelliertes
Modell beliebig in Stein oder Metallguss ausführen zu
lassen. Es ist falsch, einer Form, die für Bronzeguss
bestimmt ist, eine durchaus glatte und geschlossene
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früher besass, zum grössten Teil eingebüsst. — Es bleibt
als alleiniger Faktor das selbständige Bürgertum.
In der sozialen Verfassung des Bürgertums von heute
und von früher besteht ebenfalls ein ganz wesent-
licher Unterschied. — Bei den Griechen und Römern
bestand das Bürgertum aus Geschlechtern, Patriziern,
die im Besitze der Rechte
waren, gegenüber dem rechtlosen
Plebejertum.
Im Mittelalter waren es äusser
den Patriziern die Zünfte, die
öffentlichen Einfluss hatten. Aber
auch hier war die jeweilige Stel-
lung des Einzelnen zur Gemeinde
durch bestimmte Gesellschaftsge-
setze fest geregelt.
Heute hat jeder einzelne Ein-
fluss auf die Staatsverfassung.
Aus Geschlechtern, Zünften und
Hörigen ist ein einheitliches freies
Bürgertum geworden, in dem jeder
auf Grund seiner persönlichen
Fähigkeiten sich eine Sonder-
stellung erringen kann.
Diese Gesellschaftsklasse, die,
nebenbei bemerkt, noch jung ist,
hatte bis jetzt nur vorwiegend
politische Interessen.
Die allgemeine Umwertung
ethischer Begriffe ist noch nicht
so weit gediehen, um Gesetz zu
sein. So lange dies nicht der Fall
ist, besteht auch noch nicht das Verlangen nach einer
Verherrlichung der Idee als bleibender Ausdruck im Kunst-
werk. Unsere Zeit stellt der Kunst noch keine Aufgaben
in einem bestimmten ethischen Sinne. Unsere moderne
Kunst empfängt den idealen Trieb aus sich selbst heraus:
sie arbeitet dementsprechend vorwiegend an dem Problem
der Form. Dieser Umstand hatte das eine Gute: die
Kunst wurde frei in Form und Idee.
Für den Künstler selbst ist es überflüssig, wohin die
Zeit führt. Die Grundlage für ihn, um selbstschöpferisch
zu werden, bleibt nicht die Richtung des Geschmacks,
sondern der Begriff des Formalen.
Stil im Sinne der Formenlehre, Stil ist die Über-
tragung der Naturform in eine dem Material entsprechende
Technik, um das Wort Sempers
noch einmal zu betonen. Material
und entsprechende Technik er-
scheinen so wesensverwandt, dass
es uns sonderbar vorkommen mag,
wie ein Material in einer ihm
nicht angepassten Technik jemals
verarbeitet, umgeformt werden
kann.
Um mich leicht verständlich zu
machen, will ich hier zu einem
Beispiel greifen.
Wenn ich eine Modellierung
anfertigen soll, die in Bronze oder
Hartmetall gegossen wird, so weiss
ich, dass man, um einen scharfen
Guss zu bekommen, die Form
bewegt detailliert halten muss.
Ich weiss ferner, dass der hand-
werkliche Wert eines Metallgusses
in dem Masse wächst, wie die
Form kompliziert wird. Es kommt
hinzu, dass Metall als sehr dichtes
Material anderen Gesetzen der
Schwere unterliegt wie z. B. Stein;
ich kann Metall dünn und frei
herausarbeiten, während ich bei dem Stein möglichst die
kompakte Masse erhalten muss. Alle diese Umstände
ermöglichen, bedingen zum Teil für Metall eine reich-
haltige und freie Modellierung. Es ist daher nicht ange-
passt, wie dies aber leider viel geschieht, ein modelliertes
Modell beliebig in Stein oder Metallguss ausführen zu
lassen. Es ist falsch, einer Form, die für Bronzeguss
bestimmt ist, eine durchaus glatte und geschlossene