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Journal der Goldschmiedekunst: ill. Fachzeitschr. für Juweliere, Gold- u. Silberschmiede u. d. Bijouterie-Industrie ; Zentralorgan für d. Interessen dt. Juweliere, Gold- u. Silberschmiede .. — 30.1909

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Nr. 33
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Perthes, O.: Die Bedeutung des sogen. Kunsteinjährigen für unser Schulwesen
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https://doi.org/10.11588/diglit.55857#0308

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290

JOURNAL DER GOLDSCHMIEDEKUNST

No. 33

DIE BEDEUTUNG DES SOGEN. KUNSTEINJÄHRIGEN
FÜR UNSER SCHULWESEN.

Nach § 89 Abs. 6 der deutschen Wehrordnung
können junge Leute, die in einem Zweige der Wissen-
schaft oder Kunst, oder einer anderen, dem Gemein-
wesen zugute kommenden Tätigkeit sich besonders
auszeichnen, das Zeugnis für den einjährigen Militär-
dienst erhalten. Nicht erforderlich ist dazu die
Kenntnis fremder Sprachen und die wissenschaftliche
Bildung, welche auf höheren Schulen erworben wird.
Zweck dieses Aufsatzes ist, diesem Paragraphen
einen gröfzeren Einflufz auf unser Schulwesen
zu verschaffen, als er zurzeit hat. Deshalb gebe ich
zunächst die Ansichten, die sich mir in meinem
Beruf als Lehrer an einer höheren Lehranstalt auf-
gedrängt haben und wende mich an die Leser dieser
Zeitschrift, mich aus dem Kreise ihrer Erfahrungen
zu ergänzen, zu berichtigen oder auch mir ihre Zu-
stimmung auszusprechen, um dann gemeinsam nach
Mitteln zu suchen, dem erstrebten Ziele näher zu
kommen.
Dieser Paragraph bildet eine seltene Ausnahme
in unserem gesamten Berechtigungs wesen; die
meisten wertvolleren Berechtigungen, die der Staat
gewährt, sind an den Besuch einer höheren Schule
geknüpft. Dadurch werden alle änderen Bildungs-
wege als minderwertig gebrandmarkt und ein ge-
waltiger Druck auf die öffentliche Meinung ausgeübt,
so dafz auch in ihr das Mafz der höheren Schul-
bildung als der Mafzstab angesehen wird, nach dem
der Wert eines Menschen gemessen werden mufz.
Die Schule — so heifzt es — soll erst die allgemeine
Bildung und einen weiten Gesichtskreis geben, den
Menschen im Menschen bilden, dann erst soll die
Bildung für den einzelnen Beruf beginnen. Nun
liegen aber in der Arbeit in und für einen bestimmten
Beruf, in der eigentlichen Fachbildung viele wert-
volle, erziehende und den ganzen Menschen bildende
Kräfte, welche die Schulbildung nicht oder nicht in
dem Mafze hat und welche unserem Volke infolge
der Überschätzung der Schulbildung verloren gehen.
Die erziehende Kraft der Freude am Schaffen,
in vielen Berufsarten auch die der Freude am
Schönen, kommt bei der praktischen Arbeit viel
leichter und wirksamer zur Geltung als bei den
Schulen, die zunächst die allgemeine Bildung zu er-
streben beanspruchen.
Die praktische Arbeit ist, soweit sie über die ein-
fachste Arbeit des Fabrikarbeiters hinausgeht, ein
wirksames Mittel, den Trieb zum Wissen zu wecken,
da heute wohl jede Berufsart mehr oder weniger zu
ihrem vollen Verständnis Hilfswissenschaften voraus-
setzt; zugleich gibt sie Anschauungsmaterial
und Anknüpfungspunkte für den theoretischen

Unterricht, z. B. dem Lehrling eines Hufschmiedes
für die Anatomie eines Pferdes, bei der ihm erklärt
wird, weshalb das Pferd beim Beschlagen so oder
so behandelt werden mufz. Jetzt ist es oft so, dafz
viele Wissenschaften dargeboten werden, ehe das
rechte Verständnis für deren Wert da sein kann, und
ein mehr oder weniger stumpfes Pflichtbewufztsein
mufz die eigene Überzeugung von dem Wert des
zu Erlernenden ersetzen, daher dann die krampf-
haften Anstrengungen, durch ganze Bibliotheken die
Kunst zu lehren, wie man das Interesse der Schüler
weckt und Anknüpfungspunkte findet. Der um-
gekehrte Weg: erst praktische Arbeit, dann wissen-
schaftliche Begründung hat sich in den Kunst-
gewerbeschulen sehr gut bewährt, man vergleiche
z. B. den Bericht in den Nachrichten über die
preufzischen Kunstgewerbeschulen S. 87.
Vor allem aber, der Schüler, der in und durch
die praktische Arbeit gebildet wird, weifz, dafz von
seinem Fleifz und seiner Sorgfalt etwas für das
Wohl und Wehe anderer Menschen abhängt, er
fühlt sich im grofzen Getriebe der Welt als ein
kleines ■— wenn auch zunächst nur sehr kleines —
Rädchen, das aber doch in das grofze Getriebe mit
einzugreifen hat. Dieses Bewufztsein kann ein Lehr-
ling, der in der Werkstatt arbeitet, viel leichter haben,
als ein Schüler der höheren Schulen, der von der
Bedeutung seiner Arbeit oft keinen deutlicheren Be-
griff hat, als jene Tochter auf der höheren Töchter-
schule, die auf die Frage: „Weshalb lernt ihr Fran-
zösisch?" antwortete: „Damit wir, wenn wir einmal
Mütter sind, unseren Töchtern beim Lernen des
Französisch helfen können". Der Lehrling in der
Werkstatt kann daher auch viel eher den sittlichen
Wert der Arbeit erkennen, der vor allem darin be-
steht, dafz mit ihr den Mitmenschen gedient wird.
Es kann daher auch das Gefühl der persönlichen
Verantwortung viel leichter geweckt werden, als
bei dem Schüler der höheren Schulen, dem der Zu-
sammenhang seiner Arbeit mit den Aufgaben des
Lebens bei weitem nicht so deutlich ist.
Kommt nun noch hinzu, dafz der Zögling sich
aus eigener Neigung diesen Beruf gewählt hat, so
kann dies der Charakterbildung auch nur förderlich
sein. Ein Entschlufz, der auf Grund eigener Über-
legung mit Kraft und Ausdauer durchgeführt ist,
wirkt auf den ganzen Menschen wohltätiger, als eine
an sich vielleicht wertvollere Arbeit, die lediglich
auf den Befehl anderer getan wird, auch dann, wenn
dabei der Mensch in der Erfüllung der Pflicht ge-
übt wird. Es trifft sicherlich einen wesentlichen
Schaden unseres höheren Schulwesens, wenn
 
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