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Journal der Goldschmiedekunst: ill. Fachzeitschr. für Juweliere, Gold- u. Silberschmiede u. d. Bijouterie-Industrie ; Zentralorgan für d. Interessen dt. Juweliere, Gold- u. Silberschmiede .. — 30.1909

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Nr. 27
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Bindhardt, Georg: Über Stil und Geschmack
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https://doi.org/10.11588/diglit.55857#0239

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1909 JOURNAL DER GOLDSCHMIEDEKUNST Ma -221

Über Stil und Geschmack.
Von Georg Bindhardt.

Was ist Stil? Nach Semper die Übertragung der
Naturform in eine dem Material entsprechende Technik.
Damit wäre der formale Begriff Stil eigentlich erklärt.
Stil in geschichtlichem Sinne bezeichnet die jeweilige
Epoche einer bestimmten Geschmacksrichtung.
Das Verlangen nach einem einheitlichen Stil oder Ge-
schmack ist in unserer jetzigen Kunstbewegung schon
oft zum Ausdruck gekommen. Im Interesse der Kunst und
der Industrie besteht allenthalben der Wunsch nach einer
stabilen Ausdrucksform. Das Goutieren alter Stilarten,
alter Geschmacksrichtungen kann unser modernes Bedürfnis
nie ganz befriedigen. Für
den Künstler ist die Auf-
gabe, im Geschmack einer
früheren Zeit zu arbeiten,
undankbar, weil er seine
eigene Natur dabei nicht
entfalten kann.
Für die Industrie ist
aus der Stilfrage eine
Modefrage geworden, die
mit jeder Saison wechselt,
neue Muster erfordert und
die Modelle des ver-
gangenen Jahres schon
wieder wertlos macht.
Das Publikum wird
beim Kauf eines kunstge-
werblichen Gegenstandes
vielfach durch die momen-
tane Mode und nicht durch
die Frage nach der Qua-
lität bestimmt.
Wir haben seit 1900
durch Künstler wie van de
Velde, Eckmann, Olbrich,
Behrens usw. ein voll-
ständiges Umwerten tradi-
tioneller Formen erlebt, um
bis heute, nach 9 Jahren,
schon wieder Empire,
Biedermeier und Rokoko
durchgemacht zu haben,
wenigstens soweit es das
industrielle Erzeugnis be-
trifft.
Die Vorbedingungen,
unter denen eine neue
Geschmacksrichtung auf-
tritt, die treibenden Kräfte,
die ihr ein Auswachsen
und eine gewisse Dauer
verleihen, sind klar und
bestimmt immer erst nach

der betreffenden Periode zu erkennen. — Wir haben in
der Kunstgeschichte 4 bedeutende Zeitalter, wo die
Aristokratie einer einzelnen Persönlichkeit dem Kunstleben
ihres Volkes Richtung gab. Es ist dies die Zeit des
Perikies, des Augustus, des Papstes Julius II. und Lud-
wig XIV.
Wir haben auch Zeiten, wo das Aufblühen eines ein-
zelnen Gemeinwesens der Kunst dauernd Aufgaben stellte;
ich nenne in diesem Sinne Florenz und Nürnberg.
Die dritte und bedeutendste Förderin und Einfluss
besitzende Macht war zu allen Zeiten die Kirche.
Die Aristokratie, das
selbständige Bürgertum und
die Kirche bedienten sich
der Kunst zu ihrer Ver-
herrlichung. Sie stellten
Aufgaben, die von einem
bestimmten Grundgedan-
ken beseelt waren; dieser
Grundgedanke musste in
jeder neuen Form zum
Ausdruck kommen. Das
einzelne Kunstwerk durfte
nur ein Rhythmus sein in
dem gewaltigen Gedicht,
das die Zeit ihrem eigenen
Ruhme schrieb.
Das Kunstschaffen er-
hielt einheitliche Form, ein
bestimmter Geschmack war
Gesetz geworden, die Zeit
hatte ihren Stil.
Wie ist es damit heute?
Wenn wir nach den
vorgenannten treibenden
Kräften sehen, Aristokratie,
Bürgertum und Kirche, so
steht eines fest: die Kirche
hat in ihrer momentanen
Verfassung auf die Kunst
keinen Einfluss. Die Auf-
gaben, die sie stellt, sind
kaum neu zu nennen. Sie
verlangt heute noch Aus-
drucksformen, die mit
unserem allgemeinen Kunst-
empfinden nicht mehr über-
einstimmen, abgesehen von
ganz wenigen Ausnahme-
fällen.
Die Aristokratie hat
durch die moderne Staats-
verfassung die dominie-
rende Stellung, welche sie
 
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