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Journal der Goldschmiedekunst: ill. Fachzeitschr. für Juweliere, Gold- u. Silberschmiede u. d. Bijouterie-Industrie ; Zentralorgan für d. Interessen dt. Juweliere, Gold- u. Silberschmiede .. — 30.1909

DOI issue:
Nr. 23
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Leipheimer, Hans Dietrich: Forderungen im modernen Kunstgewerbe, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.55857#0204

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AS 23

186

Forderungen im modernen Kunstgewerbe.
Von Hans Dietrich Leipheimer, Darmstadt.

Es soll hier von Dingen der Kunst die Rede sein
und da wäre zunächst zu fragen, was ist die Kunst? —
Kunst ist Natur gesehen durch ein Temperament, wieder-

um Natur sind aber nur möglich in einem Zustand innerer
Ruhe des Künstlers selbst und äusserer Ruhe der ganzen
Lebenssphäre, in welcher er lebt. Wir sehen deshalb die

gegeben durch vollendete Handge-
schicklichkeit unter denkbar grösster
Rücksichtnahme auf das Material.
Die Kunst aller Völker und aller
Zeiten geht auf die Natur zurück,
ganz gleich in welcher Form nach
Material und Ausdehnung sie auf-
tritt. Selbst wenn wir, um irgend
ein Beispiel zu nennen, den Cölner
Dom betrachten, so ist seine Ge-
samterscheinung in ihrer gewaltigen
Grösse genau ebenso auf die Natur
zurückzuführen, wie alle die vielen
Einzelerscheinungen, aus denen sich
die Gesamtheit zusammensetzt. Die
Gesetze der Statik, nach denen sich
der Aufbau vollzieht, die tektoni-
schen Gesetze, welche ihn gestalten,
sind Naturgesetze oder bauen sich
auf solchen auf, und wiederum
gehen alle Schmuckgebilde der ver-
schiedensten Kunstzweige, welche
wir als Glasfenster, Schnitzwerk,
Gitter, Gewebe oder Metallgeräte
den Dom schmückend ausgestalten
sehen, immer auf Naturformen zu-
rück. Ein Verlassen der Natur ist
dem Künstler nicht erlaubt. Alle
Gefühle, welche in die Sphäre des
Edlen, Erhabenen oder auch nur
Angenehmen gehören, kann er nur
auslösen durch Kunstwerke, welche
nicht im Widerspruch zur Natur
stehen. Nur wenn er etwas Unbe-
kanntes, etwa die Hölle bevölkern
und ausgestalten will, kann er zu
Gebilden der Phantasie greifen,
welche dann den Eindruck des
Grauenhaften oder wenigstens des
Grotesken machen. Aber selbst hier
erweisen sich die Schranken der
Natur als unübersteiglich, denn
wenn wir genau zusehen, sind diese
Gebilde letzten Endes verzerrte oder
kombinierte Natur. — Je näher der
Künstler der Natur steht, je mehr
er ihte geheimnisvoll wirkenden
Gesetze erfasst oder doch ahnt,
desto Grösseres wird er schaffen
können. Solche innigen Beziehungen



Silbergetriebener Pokal
mit Serpentinsockel unb
Halbebelsteinen besetzt

erhabensten Kunstwerke immer in
Zeiten entstehen, welche auf längere
Perioden hin eine bestimmte Ab-
geschlossenheit der Lebensformen
zeigen.
Das beste Beispiel ist die Gotik,
welche nächst dem antik-griechi-
schen Stil den vollendetsten Stil
darstellt, den wir kennen. Der Ideen-
kreis der damaligen Zeit war durch
das schroffe kirchliche Regiment
in enge Fesseln gebannt, jeder Ver-
such einer Bereicherung des Ideen-
kreises wurde im Keime erstickt.
So war eine Periode gleichmässiger
Ruhe gesichert, alle nach Ausdruck
ringenden Kräfte waren von selbst
auf das Gebiet der Empfindung ge-
lenkt und kamen zum Niederschlag
in der Form der Kunst. In der
Renaissance dagegen tritt die welt-
liche Macht an die Stelle der geist-
lichen; der Gürtel ist gesprengt, die
Zeiten der Sesshaftigkeit und Be-
schränktheit auf geistig engstem
Raum sind vorbei. Die Anregungen
von aussen sind geradezu über-
mächtig, und indem der Gedanke
sich müht sie zu verarbeiten, ge-
winnt er mehr und mehr die Ober-
hand und drängt die Empfindung
zurück. Nicht mehr naiver Ausdruck
einer Seele voll ungestillter Sehn-
sucht ist die Kunst, sie erhält nun
durch bewusste gedankliche Spe-
kulation eine Aufgabe, nämlich die
Zweckform zu schmücken. Von
jetzt an können wir von ange-
wandter Kunst sprechen, im Gegen-
satz zur freien Kunst, und in diesem
Sinne soll der Ausdruck „Kunst“
hier gebraucht werden.
Der entfesselte Gedanke lässt
nunmehr mit seiner immer treibenden
Kraft die Ruhe, welche wir als not-
wendig zur Bildung eines Stiles von
innen heraus erkannt haben, nicht
mehr aufkommen, die Renaissance
vermag der eilenden Zeit nicht mehr
zu folgen und nimmt daher die
 
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