Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 3.1911
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https://doi.org/10.11588/diglit.24118#0357
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9. Heft
DOI Artikel:Schuette, Marie: Alte Spitzen: Die Spitzen-Ausstellung im Leipziger Kunstgewerbe-Museum
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ÄLTE SPITZEN — die spitzen-äusstel-
LUNG IM LEIPZIGER KUNSTGEWERBE-MUSEUM
Mit 12 Abbildungen, davon 3 auf Tafeln Von MÄRIE SCHUETTE
Es ift immer eine heikle Sache, über Dinge reden und fchreiben, über die nichts
recht feftfteht: Bei den Spieen geht die Unficherheit foweit, daß nicht einmal eine
eindeutige Terminologie vorhanden ift, und daß die Kenner der verfchiedenen Nationen
mit dem gleichen Ausdruck die verfchiedenften Spißenarten und Techniken bezeichnen.
Hier Klarheit und gegenfeitiges Verftändnis zu fchaffen, wäre eine dankbare und kleine
Nebenaufgabe für einen kunfthiftorifchen Kongreß, auch wenn die Spiße nur ein be-
fcheidenes Gebiet im Reiche der Kunft einnimmt. Aus der Stickerei hat fie fich zu
einem felbftändigen Kunftgewerbe heraufgearbeitet, das mit der Weberei in enger Be-
ziehung fteht und mehr noch als diefe der Mode untertan ift. Man hat fich gewöhnt,
fie allein für fich, aus diefem Zufammenhang herausgelöft zu betrachten, was für die
Erkenntnis ihrer technifchen Entwicklung von Vorteil gewefen fein mag; das Wefen
und den Reiz der Spiße aber, das können die alten Spißenrefte allein nicht mehr
kundtun, dafür find die Porträts der Gefellfchaft des 17., 18. und 19. Jahrhunderts die
einzig glaubwürdigen Zeugen. In diefer Erwägung find der Leipziger Spißenausftellung
eine ganze Reihe von Kupferftichporträts angegliedert worden, die wenigftens für das
17. Jahrhundert ein gutes Bild von den zu jener Zeit in den Niederlanden, in Frank-
reich, Deutfchland und Schweden modernen Spißen geben. Diefe Nebeneinanderftellung
zeigt, daß die Klöppelfpiße in den Niederlanden und in Deutfchland geläufig war, während
die Nähfpiße — als Point gros de Venise — den bevorzugten Schmuck der franzc-
fifchen Hofgefellfchaft bildete. Die Porträts des Königs und feiner Großen mit diefen
Spißenkravatten ftammen aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, und man muß
annehmen, daß diefe im Charakter typifch venezianifche Spiße franzöfifches Fabrikat
darftellt: keinesfalls hat Colbert, der Reformator und eigentliche Begründer der franzö-
fifchen Spißeninduftrie, ausländifche Spißen für feinen perfönlichen Gebrauch verwendet
Diefer Fall zeigt, mit wie wenig Sicherheit wir über die Herkunft einer Arbeit reden
können. Die Benennungen find meift lokal, bezeichnen aber einen Spißentyp, wie er
wahrfcheinlich zuerft an jenem betreffenden Orte gearbeitet worden ift. Für die früheften
Spißen find bemerkenswerterweife diefe lokalen Bezeichnungen nicht üblich, man fpricht
von Reticellafpißen, punti in aere, aber die in den Modellbüchern der Zeit vor-
kommenden lokalen Benennungen find heute außer Kurs.
In der Leipziger Spißenausftellung find gerade diefe früheften Nadelfpißen, für die
der Zeichnung nach italienifche Herkunft anzunehmen ift, fehr gut vertreten mit Stücken
der Sammlungen Geibel (Abb. 2), Goldfchmidt.vonUbifch, und auch die vorbereitenden
Techniken, punto tagliato und Reticella, find in fehr reizvollen Arbeiten, zum Teil mit
Stickerei verbunden, zu fehen. An Klarheit und Feinheit der Zeichnung nimmt es keine
fpätere Spiße mit der ßachen, italienifchen Nadelfpiße des 16. und des frühen 17. Jahr-
hunderts auf, fie hat den ganzen Charme der bloß gezeichneten Spißen des Vecellio,
deffen berühmtes Modellbuch zuerft 1592 in Venedig erfchien. Der herrliche Spißen-
fries der Sammlung Wallich (Abb. 3) dürfte in den erften Jahrzehnten des 17. Jahr-
hunderts entftanden fein und mag als der befte Beweis für das Gefagte etwas näher
betrachtet werden. In fchönem, gleichmäßigem Schwung gehen von dem Meerweib in
der Mitte nach beiden Seiten Ranken aus. Nelken, Glockenblumen und Rofen nicken
an ihren Enden, und Vögel und Putten fpielen auf den Zweigen. Die Arbeit ift vor-
trefflich, von größter Gleichmäßigkeit und Dichtigkeit, und einzelne Teile find in der
Der Cicerone, III. Jahrg., 9. Heft. 26
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LUNG IM LEIPZIGER KUNSTGEWERBE-MUSEUM
Mit 12 Abbildungen, davon 3 auf Tafeln Von MÄRIE SCHUETTE
Es ift immer eine heikle Sache, über Dinge reden und fchreiben, über die nichts
recht feftfteht: Bei den Spieen geht die Unficherheit foweit, daß nicht einmal eine
eindeutige Terminologie vorhanden ift, und daß die Kenner der verfchiedenen Nationen
mit dem gleichen Ausdruck die verfchiedenften Spißenarten und Techniken bezeichnen.
Hier Klarheit und gegenfeitiges Verftändnis zu fchaffen, wäre eine dankbare und kleine
Nebenaufgabe für einen kunfthiftorifchen Kongreß, auch wenn die Spiße nur ein be-
fcheidenes Gebiet im Reiche der Kunft einnimmt. Aus der Stickerei hat fie fich zu
einem felbftändigen Kunftgewerbe heraufgearbeitet, das mit der Weberei in enger Be-
ziehung fteht und mehr noch als diefe der Mode untertan ift. Man hat fich gewöhnt,
fie allein für fich, aus diefem Zufammenhang herausgelöft zu betrachten, was für die
Erkenntnis ihrer technifchen Entwicklung von Vorteil gewefen fein mag; das Wefen
und den Reiz der Spiße aber, das können die alten Spißenrefte allein nicht mehr
kundtun, dafür find die Porträts der Gefellfchaft des 17., 18. und 19. Jahrhunderts die
einzig glaubwürdigen Zeugen. In diefer Erwägung find der Leipziger Spißenausftellung
eine ganze Reihe von Kupferftichporträts angegliedert worden, die wenigftens für das
17. Jahrhundert ein gutes Bild von den zu jener Zeit in den Niederlanden, in Frank-
reich, Deutfchland und Schweden modernen Spißen geben. Diefe Nebeneinanderftellung
zeigt, daß die Klöppelfpiße in den Niederlanden und in Deutfchland geläufig war, während
die Nähfpiße — als Point gros de Venise — den bevorzugten Schmuck der franzc-
fifchen Hofgefellfchaft bildete. Die Porträts des Königs und feiner Großen mit diefen
Spißenkravatten ftammen aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, und man muß
annehmen, daß diefe im Charakter typifch venezianifche Spiße franzöfifches Fabrikat
darftellt: keinesfalls hat Colbert, der Reformator und eigentliche Begründer der franzö-
fifchen Spißeninduftrie, ausländifche Spißen für feinen perfönlichen Gebrauch verwendet
Diefer Fall zeigt, mit wie wenig Sicherheit wir über die Herkunft einer Arbeit reden
können. Die Benennungen find meift lokal, bezeichnen aber einen Spißentyp, wie er
wahrfcheinlich zuerft an jenem betreffenden Orte gearbeitet worden ift. Für die früheften
Spißen find bemerkenswerterweife diefe lokalen Bezeichnungen nicht üblich, man fpricht
von Reticellafpißen, punti in aere, aber die in den Modellbüchern der Zeit vor-
kommenden lokalen Benennungen find heute außer Kurs.
In der Leipziger Spißenausftellung find gerade diefe früheften Nadelfpißen, für die
der Zeichnung nach italienifche Herkunft anzunehmen ift, fehr gut vertreten mit Stücken
der Sammlungen Geibel (Abb. 2), Goldfchmidt.vonUbifch, und auch die vorbereitenden
Techniken, punto tagliato und Reticella, find in fehr reizvollen Arbeiten, zum Teil mit
Stickerei verbunden, zu fehen. An Klarheit und Feinheit der Zeichnung nimmt es keine
fpätere Spiße mit der ßachen, italienifchen Nadelfpiße des 16. und des frühen 17. Jahr-
hunderts auf, fie hat den ganzen Charme der bloß gezeichneten Spißen des Vecellio,
deffen berühmtes Modellbuch zuerft 1592 in Venedig erfchien. Der herrliche Spißen-
fries der Sammlung Wallich (Abb. 3) dürfte in den erften Jahrzehnten des 17. Jahr-
hunderts entftanden fein und mag als der befte Beweis für das Gefagte etwas näher
betrachtet werden. In fchönem, gleichmäßigem Schwung gehen von dem Meerweib in
der Mitte nach beiden Seiten Ranken aus. Nelken, Glockenblumen und Rofen nicken
an ihren Enden, und Vögel und Putten fpielen auf den Zweigen. Die Arbeit ift vor-
trefflich, von größter Gleichmäßigkeit und Dichtigkeit, und einzelne Teile find in der
Der Cicerone, III. Jahrg., 9. Heft. 26
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