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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 3.1911

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24. Heft
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Reinhold, Carl Ferdinand: Ein Studienblatt des Jan Vermeer
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https://doi.org/10.11588/diglit.24118#1012

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EIN STUDIENBLATT DES JÄN VERMEER

Mit einer Abbildung

Die Zahl der Gemälde des Delfter Jan Vermeer befchränkt [ich auf einige dreißig.

Ein bedeutender Zuwadis ift kaum zu erwarten, denn einerfeits ift die Zahl der
Bilder, die Vermeer überhaupt gefchaffen hat, wahrfcheinlich nicht wefentlich größer ge-
wefen, andrerfeits zeigen fie untereinander nach Äufbau und Technik — fieht man von
den beiden Jugendarbeiten: „Chriftus bei Maria und Martha“ (Sammlung Coats in Skal-
morlie Castle) und „Diana mit ihren Nymphen“ (Mauritshuis im Haag) ab — eine fo über-
rafchende Gleichartigkeit, daß die Schwierigkeit, Arbeiten Vermeers als folche zu er-
kennen, bei unferen heutigen Mitteln nicht fehr groß ift. Anders bei den Zeichnungen.
Authentifche Zeichnungen, die ficher beglaubigt find, kennen wir nicht. Eine „Anficht
von Delft“ im Kupferftichkabinett des Städelfchen Kunftinftituts in Frankfurt a. M. gilt
allgemein als Vorftudie zu dem gleichnamigen Gemälde im Mauritshuis im Haag. Eine
Rötelzeichnung einer „Sißenden jungen Frau, nach links gewandt“ im Berliner Kupfer-
ftichkabinett ift von Lippmann in den „Zeichnungen alter Meifter im Königl. Kupfer-
ftichkabinett zu Berlin“ als eine Arbeit Vermeers publiziert worden. In den „Monats-
heften für Kunftwiffenfchaft“ 1910 hat Valentiner die Pinfelzeichnung eines „Knaben,
der hinter einem Stuhle fteht“ in der Albertina in Wien für Vermeer in Anfpruch ge-
nommen. Doch find diefe Zufchreibungen mehrfach angefochten worden und keines-
wegs ficher, obwohl die genannten drei Zeichnungen unter denen, die als Arbeiten
Vermeers bezeichnet werden, noch am eheften den Charakter jener Kunft aufweifen,
die wir aus feinen Gemälden kennen. Größere Wahrfcheinlichkeit hat dagegen eine
Zufchreibung für fich, die Dr. Eduard Pließfch in feiner kürzlich erfchienenen Mono-
graphie über Vermeer unternimmt. Er glaubt unter den Zeichnungen des Kupferftich-
kabinetts in Berlin eine bisher verfchollene Ölftudie von der Hand Vermeers van Delft
wieder erkannt zu haben. Es ift ein Knabenporträt in Vorderanficht mit breitrandigem
Hut. Die Studie ift in Ölfarbe auf Papier gemalt und hat jeßt ein Format von
19,7X16,2 cm. Auf der Verweigerung von Zeichnungen bei G. Leembruggen in
Amfterdam 1866 ging diefes Blatt in den Befiß Suermondts über und war feit diefer
Zeit nicht wieder aufgetaucht. Schon auf der genannten Auktion wurde die Studie
als eine Arbeit Vermeers ausgeboten und die Betrachtung der übrigen uns heute
bekannten Werke des Künftlers ergibt, daß diefe Bezeichnung auf keine direkt un-
glaubwürdige Tradition zurückging — vorausgefeßt, daß das hier reproduzierte Blatt
mit dem auf der Auktion ausgebotenen identifch ift. Pließfch betont befonders die
Verwandtfchaft diefes Studienkopfes mit dem Frauenporträt der Budapefter Galerie und
dem „Mädchen mit der Flöte“ in der Sammlung de Grez in Brüffel. Auf allen dreien,
befonders ausgefprochen aber auf den beiden erften, finden wir diefelben ziemlich
unfehönen Züge; fchwere Augenlider, derbe Nafe, volle und gefchwungene Lippen;
Stirnbildung und Kinnpartie zeigen große Ähnlichkeit, ebenfo der eigentliche Charakter
des Gefichtsausdrucks. Muß diefer bei dem Frauengeficht als dumpf und phlegmatifch
bezeichnet werden, fo ift der des Knaben nahezu ftörrifch und träge. Troß diefes
verfchlafenen Ausdrucks macht aber der Kopf keinen direkt unfympathifchen Eindruck;
jedenfalls ift die Auffaffung und Wiedergabe lebensvoll und feffelnd. Audi in den
technifchen und kompofitionellen Einzelheiten zeigt fich bei genauerem Vergleich der
drei genannten Bilder eine große Übereinftimmung. Die Verteilung von Licht und
Schatten, die weiche, fchmiegfame und breite Behandlung des Farbenauftrags weifen
eine gleich große Ähnlichkeit auf, wie die Gefichtszüge. Die Zufchreibung diefer un-
vollendeten Studie an Vermeer wird daher kaum auf nennenswerte Widerfprüche

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