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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 3.1911

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23. Heft
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Voss, Hermann: Eine Grünewald-Fälschung des 17. Jahrhunderts: von Hermann Voss
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https://doi.org/10.11588/diglit.24118#0966

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EINE GRÜNEWALD-FÄLSCHUNG DES

17. JAHRHUNDERTS Von HERMANN VOSS

Mit 2 Abbildungen

Bei der Dürftigkeit des Materials, auf das fich unfere Kenntnis des großen Afchaffen-
burgers aufbaut, ift es zu begreifen, wenn wir bei zugrunde gegangenen Werken
feiner Hand jeder alten Notiz, jeder noch fo entgehenden graphifchen Nachbildung oder
Kopie, die uns der Zufall erhielt, befonderen Wert beimeffen und es fchmerzlich
empfinden, wenn die moderne Forfchung in fo vielen Fällen Hand an diefen Befit^-
ftand legen muß.

Die Abbildung eines Madonnenholzfchnittes in der eben erfchienenen, auf lang-
jährigem eindringenden Studium beruhenden Grünewald-Monographie von H. Ä. Schmid
gibt mir die Veranlaffung einer folchen Grünewaldlegende kritifch beizukommen. Ein
Blick auf die Abbildung überzeugt aber einen jeden, daß der Verluft diesmal nicht
groß ift. Auch wenn das Original, das diefem von Schmid mit Recht in die Barock-
zeit verfemten Schnitt zugrunde lag, von Grünewald herrührte (eine Möglichkeit, die
der Text offen gelaffen hat), könnle es fich nur „um eine vom Zeichner des Holzfchnittes
völlig umftilifierte Wiedergabe“ (Schmid) handeln, denn die ftiliftifchen Indizien weifen
in jedem Zuge auf die Zeit um 1600 und einen italienifchen oder ungewöhnlich ftark
von Italien beeinflußten Meifter. Von Nagler (Mon. IV. 1824, 18), der den Holzfchnitt
wohl mit dem Hinweis auf das Monogramm M. G., aber ohne Erwähnung der Jahres-
zahl 1510 befchreibt, wurde er dem Mathias Gerung zugewiefen, auf den die Form
des Monogramms allerdings noch beffer paffen würde, den aber die zu frühe Jahres-
zahl als Autor völlig ausfchließt.

Die Konfrontation der nebenftehend abgebildeten Zeichnung des Francesco Vanni
im Louvre mit unferem Holzfchnitt hilft uns auf unerwartete Weife aus dem Dilemma,
denn die mutmaßliche freie Kopie nach Grünewald oder einem verwandten Altdeutfchen
entlarvt fich nun als eine ganz- getreue, obwohl rohe Nachbildung der Zeichnung eines
um 1600 tätigen fienefifchen Meifters. Die Madonnenftudie Vannis hängt mit einer
größeren Altarbildkompofition zufammen, die wir aus einer andern Zeichnung des Sienefen
(ebenfalls im Louvre) kennen. Darnach folgt die gefamte Kompofition der erftmals
von Vafari (1540) in S. Apoftoli zu Florenz dargeftellten Idee: die Madonna als Mutter
des Erlöfers über dem Baum des Sündenfalls erfcheinend, an den Adam und Eva ge-
bunden find, umgeben von den Propheten, die das Kommen des Erlöfers vorhergefagt
haben. Die Madonna mit Engeln, nach der unfer Schnitt kopiert wurde, war für den
oberen Teil des Bildes beftimmt und führt die entfprechende Gruppe auf dem ge-
nannten Kompofitionsentwurf genauer aus. Der Stil ift durchaus der bei Vanni übliche;
die Nachahmung des Federigo Barocci, die den Künftler im allgemeinen charakterifiert,
wird hier fchon infolge des echt barocken Gegenftandes befonders deutlich.

Es kann kein Zweifel beftehen, daß der Holzfchnitt in der Tat nach der Louvre-
zeichnung, und nicht etwa nach einer graphifchen Wiedergabe jenes Blattes, angefertigt
worden ift. Dafür folgt der Holzfchneider zu genau allen Kapricen des Zeichners, fo
plump und gefchmacklos er fie auch in feine Technik überträgt. Die einzige Frage,
die alfo noch zu beantworten wäre, betrifft die bona oder mala fides des FIolz-
fchneiders. Mir erfcheint es fchwer denkbar, daß jemand im 17. Jahrhundert den Stil
eines ungefähr zeitgenöffifchen Blattes fo gründlich mißverftanden hätte; außerdem
ftimmt die in altertümlich geformten Ziffern hingefe^te, frei erfundene Jahreszahl 1510
in Verein mit dem Monogramm und der gefucht archaifchen Schnittechnik fehr be-

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