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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 3.1911

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21. Heft
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https://doi.org/10.11588/diglit.24118#0884

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AUSSTELLUNGEN

der weitherzigfte Internationalismus. Man zählt
über 40 deutfche Künftler mit gegen 200 Werken ;
darunter eine retrofpektive Äusftellung des im
Sommer verftorbenen aus Dresden gebürtigen
Konrad Starke, der Anfang der neunziger
Jahre an der Dresdener Akademie ftudierte,
darauf lange in Belgien und die lebten fieben
Jahre in Paris lebte, wo er regelmäßig im
Herbftfalon und zuweilen in der Societe natio-
nale und im Salon des Independants ausftellte.
34 Gemälde, Radierungen und Zeichnungen find
in einem Saale vereinigt worden. Man erkennt
in dem früh verftorbenen Maler ein ficheres
Zeichentalent, einen differenzierten Koloriften,
der in den Traditionen der Impreffioniften ar-
beitete, ohne fich fchwächlich an einen der Meifter
anzulehnen. Seine frifchen, farbigen Natur-
fchilderungen gereichten den Parifer Salons ftets
zur Ehre. Leider hat der begabte Künftler fich
infolge feines abgefdiloffenen Lebens kein großes
Publikum zu bilden verbanden. Das Dresdener
Kupferftichkabinett bewahrt Stiche und Radie-
rungen feiner Hand. Der in Paris lebende
Münchner Hermann Lißmann beweift mit drei
Landfchaften in intenfivem, vollem Grün be-
deutendeFortfchritte; BernardHoetger fchwenkt
mit drei Holzfkulpturen plötzlich ins Barocke. Die
Bildhauer Behn, Lehmbruck, Löhr und Wield
vertreten gut die jüngere deutfche Plaftik. Die
Damen Dannenberg, Stettier, Weife, Wolff
überrafchen auch in diefem Jahre wieder durch
Bilder, wie man fie von deutfchen Damen jen-
feits des Rheins nicht oft zu fehen gewohnt ift.
Frau Marta Worringer tritt zum erften Male
im Herbftfalon mit einer grotesken Kompofition
auf, die von der begabten Künftlerin leider nur
einen fragmentarifchen Eindruck gibt. Es fteht
jedoch zu hoffen, Frau Worringer demnächft in
einer größeren Sonderausftellung kennen zu
lernen.

Der Herbftfalon hat in diefem Jahre zwei
Sonderausftellungen arrangiert. Die eine lehrt
Camille Piffaro als Lithograph und Radierer
von neuem fchä^en. Diefe kleine Äusftellung
beweift, wie unrecht man tat, Piffaro in der
Gefolgfchaft Monets mitzuzählen. Je mehr wir
erkennen, daß Monet blind und einfeitig be-
fchränkt darin hängen blieb, jenes kümmerlichere
Naturbild zu vermitteln, das die Menge als die
„richtige“ Vorlage der Kunft anfieht, umfo mehr
gelangen wir zu der Überzeugung, daß Piffaros
Wollen höher zielte, daß er in feiner Kunft Be-
deutungswerte der Naturbilder zu geben trach-
tete. Piffaros Schwarz-Weiß-Blätter im befon-
deren laßen uns deutlich die Steigerung feines
Bewußtfeins nachfühlen, das Kunft als Ausdruck
des Gefamtempfindens auffaßte und den zufälligen

und einfeitigen Äugenerlebniffen eine geordnete
Gefefemäßigkeit gegenüberzuftellen trachtete, die
der Seele ein Äusruhen bedeutet. Er war unter
den Impreffioniften der erfte, der die Schwenkung
machte, die Cezanne energifcher von feinen
Jugendgenoffen trennte.

Henry de Groux ift der heutigen deutfchen
Generation meines Wiffens nur durch den Äuf-
fatj bekannt, den Graf Keyferling 1903 in der
Beilage der Allgemeinen Zeitung veröffentlichte.
Immerhin mag die ftattliche Sondernummer, die
1899 La Plume dem Künftler widmete, auch in
Deutfchland Verbreitung gefunden haben. Man
fieht fchon aus diefem Album, daß de Groux
einft als die Hoffnung Belgiens und Frankreichs
gegrüßt wurde. Carriere, Besnard, Puvis de
Chavannes, Mirbeau und bei uns Lenbach find
durch fein dramatifches Temperament fasziniert
worden. Vor fünf Jahren verfchwand der Künft-
ler aus Paris ebenfo wie er 12 Jahre vorher
aus der Heimat hatte verfchwinden müffen.
Seit drei Jahren galt er für tot. Seine wild-
verfchlungenen Irrfahrten haben ihn in diefem
Frühjahr an die Stätte alter Triumphe zurück-
geführt und der Herbftfalon räumte ihm einen
Ehrenfaal ein, in dem der Künftler 60 Gemälde,
Lithographien und Skulpturen aufftellte. Die
überlebensgroßen plaftifchen Bildniffe in vehe-
menter, äußerlicher Theaterpofe find undis-
kutierbar. Auch vor den gemalten Porträten
in ganzer Figur und Riefenformaten, die in
üppiger Farbenbuntheit gemalt (etwa als wenn
Kaulbach verfuchen würde, Delacroix übertrei-
bend nachzuahmen), fteht man ratlos und ge-
denkt wehmütig der erften Bildniffe des Künft-
lers von Baudelaire, Zola und Rubens, die ftiller,
fachlicher und verinnerlichter ohne ausladenden
Farbenpomp waren. Es bleiben die großen Kom-
pofitionen, deren lineares Chaos, deren abficht-
licher Wirrwarr, deren wollüftige Buntheit feffeln
— Bilder des faufenden Ungeftüms in der Er-
fcheinungen Flucht. Der Befchauer foll vor diefem
irgend wohin jagenden Menfchenknäuel fchwind-
lidi werden und die jagende Rotation der Erde
empfinden, deren Gefetjmäßigkeit aufzudecken
wir uns vergeblich mühen. Diefe finnbetörenden,
haftigen Linien, befchwert mit der ganzen Skala
einer Palette, zeugen von gewaltiger Kraft, von
dem höchften Wollen eines Menfchen — auf die
Leinwand gelallt von einem Kinde. Wenn man
aus Burgkmair, Orcagna, Daumier, Delacroix,
Rubens, Michelangelo und Tintoretto zufammen
einen künftlerifchen Hexenfabbath bauen könnte,
fo würde vielleicht etwas Ähnliches heraus-
kommen, was Henri de Groux in Cyclone,
le Christ aux outrages, Spectre de Cesar, le
supplice de Savonarole ufw. gefchaffen hat.

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