Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 3.1911

DOI Heft:
10. Heft
DOI Artikel:
Ausstellungen
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.24118#0422

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
AUSSTELLUNGEN

lieh, wie das nicht allzu glücklich wirkende „Fa-
milienporträt Reineckes“ vor allem zeigt, da-
gegen find das „Porträt einer alten Frau“ und
das „Selbftporträt“ (Nr. 9) ausgezeichnete Lei-
tungen, die zu den beften gehören, was wir
von dem Künftler kennen. — Weniger anregend
wie diefe Kollektion wirken die am gleichen
Ort ausgeftellten Bilder von Franz Multerer.
Diefe Interieurs aus den Schlöffern Nymphen-
burg und Schleißheim erinnern allzufehr an ähn-
liche Arbeiten von Kuehl und Skarbina und
wirken auf die Dauer zu leer und langweilig.

—r

PÄRIS Über Paris hat fich eine Bilderflut er-
goffen, die man gewohnt ift, unter dem Namen
Frühjahrsfaifon zufammenzufaffen. Es wird mir
in diefem Jahre möglich gemacht, meine Berichte
über die 30000 Bilder, die gegenwärtig in Paris
öffentlich ausgeftellt find, unter höheren Gefichts-
punkten zu betrachten. Den Maßftab hierzu bietet
die fchöne Ingres-Äusftellung, die Henri Lapanze
in der Galerie GEORGES PETIT zusammen-
geftellt hat; fie umfaßt 67 Ölbilder, hauptfächlich
Bildniffe, 200 Zeichnungen, 2 Möbel und die
Violine Ingres’, auf der Jan Kubelik am Eröff-
nungstage vortrug. Die Idee zu einer folchen
Äusftellung, die nicht überrafcht, lag in der Luft.
Bach hat feit Jahren Paris erobert, Pouffin wird
von neuem verehrt und mit ihm hat das ganze
fiebzehnte Jahrhundert einen verjüngten Wert
gewonnen. Das heißt aber nichts anderes, als
daß die Franzofen fich auf die Haupttugenden
ihres Volkes befinnen, auf die Klarheit, weifes
Maßhalten und logifche Stilreinheit. Ingres ift
ein Genie diefer franzöfifchen Tradition. Man
darf ihn nicht, wie das zuweilen in Deutfchland
gefchieht, nach feinen fchlechteften Arbeiten oder
nach den unzulänglichen Bildern feiner größten-
teils inkompletten Schüler beurteilen und in ihm
den Ahnherrn des Akademismus unferer Zeit
fehen. Während fein Troß fich in einem leeren
Konventionalismus verlor, liegt die Bedeutung
feines eigenen Lebenswerkes in dem doppelten
Problem des Äfthetifchen und Pfychologifchen,
das er fich ftellte. Schon die Tatfache, daß zwei
große und fich diametral gegenüberftehende
Künftler unferer Zeit, wie Puvis de Chavannes
und Edgar Degas von ihm ihren Ausgang nah-
men, fagt uns, daß feine eigene Perfönlichkeit
größer war als der Geift, der feine kleinere
Schülergefolgfchaft regierte. In dem heutigen
Augenblick, in dem es für den Künftler mehr
als je zwifchen einem Wiederanknüpfen an die
Tradition und dem intellektuellen Standpunkt
zu wählen gilt, muß Ingres’ Werk neue Bedeu-
tung gewinnen. Ingres ift zu frühen Quellen
der franzöfifchen Kunft hinabgeftiegen, zu dem

attifchen Schönheitsideal und zu Raffael und hat
aus ihnen für feine Zeit neue, glückliche For-
meln abgeleitet, deren charakteriftifche Merkmale
die reine Linie, der logifdi-klare Aufbau und
die Geftaltung aus dem geheimnisvollen Zentrum
des Gedankens find. Er war nicht an eine mehr
oder minder einfeitige Änfchauungsweife ge-
bunden, fondern ftrebte auf einer breiten Bafis
zur abfoluten Vollftändigkeit. Als Zeichner war
er Meifter im Formalen in der ganzen Weite
diefes Begriffes, Meifter auch der mimifchen Äus-
drucksmöglichkeiten. In feinen Schwarz-Weiß-
Bildniffen differenzierte er die große, ruhige,
runde Linie der Cinquecentiften durch den knit-
terigen, fubtileren Strich der Quattrocentiften
und fügte aus eigenem Geifte die prickelnde Be-
tonung des Details hinzu, die er gründlich be-
obachtete und oft mit koketter Umftändlichkeit
herausarbeitete. So wurden feine Bildniffe ver-
dichtete Extrakte von Charakteren. Obwohl aber
neben diefen minutiöfen Arbeiten weiche, ma-
lerifche Porträts und lockere, flaumige Ölftudien
ftehen, von denen eine Louvrezeichnung deut-
lich auf Manet, unter den Ölbildern einige auf
Courbet und Couture weifen, hat er Zeit feines
Lebens feinen Partner Delacroix nicht nur aus
Eiferfucht mit feinem Haß verfolgt. Die große,
malerifche Gefte, die den Kontur aus dem Kon-
traft der mit breitem Pinfel gemalten Farbmaffen
entwickelt, war feiner Natur ein Greuel. In
diefem Standpunkt erkennen wir des Meifters
Grenzen. Die Terribiltä, den Furor des leiden-
fchaftlichen Temperamentes erkannte er nicht an.
Seine Kunft ift ein Ausdruck des Willens und
des Gefchmacks. Mit feiner ganzen bewußten
Energie konftruierte er ftreng und ernft pracht-
volle Farbenharmonien, die allerdings in den
Durchfchnittsleiftungen nur als Unterftüßung des
Zeichnerifchen wie nachträglich aufgefe^t wirken
und den Geift feiner Epoche widerfpiegeln. Da-
neben ftehen impofantere Bildniffe in breiterer
Mache, in denen Linie und Farbe fich zu einer
Einheit verfchmelzen. Diefe Porträts heben feine
Bedeutung über den eines Zeitfchilderers hinaus.

Es gefchieht ganz unwillkürlich, daß man in
der Ingres-Ausftellung fich auch des anderen
Ahnherrn unferer Zeit, Eugene Delacroix er-
innert. Wenn man, diefe beiden Pole einander
vergleichend und gegeneinander abwägend, in
folchen Gedanken die Ausheilungen der leben-
den Künftler betritt, verfinkt man wie aus allen
Himmeln geriffen in einen Zuftand jämmerlicher
Enttäufchung. Im Salon des ARTISTES FRAN-
QAIS fieht man 3400 bemalte Leinwände und
2100 Steinarbeiten und darunter nicht ein Werk,
in dem fich eine ftrenge Gefeßmäßigkeit klar
und ernft entwickelt, nicht ein Werk eines großen

388
 
Annotationen