Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Die Kunst-Halle — 7.1901/​1902

DOI Heft:
Nr. 2
DOI Artikel:
Lionardo da Vinci als Aesthetiker
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.62513#0028

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext

2

und zwar, wie es heißt, unter Benutzung von acht-
zehn Griginalmanuſkripten. Die Glaubwürdigkeit
jener Tradition aber ſoll daraus zu entnehmen ſein,
daß Lionardo der Leiter und Lehrer der vom Herzoge
Codovico Sforza gegründeten Mailänder Akademie
geweſen war und notoriſch über Kunſt Aufzeichnungen
theoretiſcher Art öfters gemacht hat.

Wie dem nun auch ſein möge, die Kunſttheorien
des Malerbuches entſprechen ſo ſehr den durch
Lionardos Werke vertretenen künſtleriſchen An-
ſchauungen, daß wohl ein Kecht vorliegt, von
Lionardo als Aeſthetiker auf der Grundlage des
Trattato della Pittura zu ſprechen. Der Einwand,
den Einige noch heute dagegen erheben, daß nämlich
künſtleriſche Intuition und philoſophiſche Veranlagung
einander nicht ausſchließen, wird, außer dem einen
Beiſpiel, noch durch nicht wenige andere Namen
widerlegt. Von Polyklet und Seuxis bis auf Gott-
fried Schadow, Ad. Hildebrand und Klinger iſt viel
von namhaften Meiſtern theoretiſirt worden.
Andererſeits wiſſen wir aus der Kunſtgeſchichte, daß
grade einem Lionardo das viele Grübeln und Ex-
perimentiren verhängnißvoll geworden iſt. Es be-
einträchtigte ſein Schaffen, wie der Zuſtand des
„Abendmahls“ und die Zahl der verſchollenen und
unvollendeten Bilder leider beweiſen. Das darf aber
nicht umgekehrt den Werth ſeiner Theorien herabſetzen.

Der Hauptinhalt des Trattato della Pittura
giebt eine „praktiſche Anleitung“ zur Malerei für die
Jünger des Saches; ſie umfaßt das ganze „Hand-
werk“ dieſer komplizirten und ſchwierigen Kunſt.
Swiſchen den Malerregeln, Bathſchlägen, Bezepten,
Kunftgriffen 2c., die hier der vorſorgliche Verfaſſer
giebt, finden ſich, in keineswegs ſpyſtematiſcher
Grdnung, Bemerkungen über das Weſen der Malerei
im Beſonderen und der Aunſt im Allgemeinen ein-
geſtreut, die als Ganzes die Uunſttheorie des


einen für jene Zeit originellen ſcharfſinnigen Denker
verräth, ſeine Perſönlichkeit, ſeine Weltanſchauung,
ſein naiver und kerngeſunder Bealismus aus. „Als
Weltphänomen gilt ihm nur das, was ſein Künſtler-
auge, ſein äußeres und inneres erſchaut und das


Welt, zu Schauen und Schaffen drängt und zur
Ehrfurcht gegen Gott ſtimmt .. .. und lernt ihn
wahrhaft lieben, nicht mit der Liebe „des Hundes,


wedelnd emporſpringt, in der Hoffnung ſo einen


Mannes, die ſich auf unerſchrockene Erkenntniß von
dem Weſen des geliebten Gegenſtandes gründet.“
Lionardo kann nur verehren, wo er erkennt. Alſo
iſt ihm die Malerei eine Wiſſenſchaft, ein auf Er-
fahrung gegründetes Wiſſen wie etwa die Geometrie.

„Indeſſen würden wir Lionardo falſch ver-
ſtehen, wenn wir ihm die Meinung zuſchrieben, die
Kunſt, inſonderheit die Malerei, ſei weiter nichts als
praktiſche Mathematik. Wohl hat die Mathemathik
Einfluß auf die formale Seite der Kunſt (Perjpektive)

. aber ſie wird nicht ohne weiteres ſelbſt zur
Kunft. Demgemäß ſieht ſich Lionardo veranlaßt,
das Verhältniß der Kunſt, ſpeziell der Malerei, zur
Wiſſenſchaft noch genauer zu beſtimmen, ſodaß die
obige Formel von der Kunſt als Wiſſenſchaft eine
gewiſſe Modifizirung erfährt. Der erſte Unterſchied
iſt: das was man eigentlich Wiſſenſchaft nennt, iſt
nachahmbar, d. h. „von der Art, daß ſich dadurch
der Schüler dem Urheber gleichſtellt“ — etwas, das
ſich „weitervererben läßt.“ Die Kunſt dagegen und
zwar vornehmlich wieder die Malerei iſt als praktiſche


s' insegna à chi natura no ’l concede: Wem Natur
es nicht verleiht, dem kanm man ſie nicht lehren und
beibringen. Vom Wiſſen zum Können iſt eben noch
ein weiter, für viele nicht gangbarer Weg. ..
Ferner: die Wiſſenſchaft trägt einen allgemeinen
Charakter, ihre Geſetze ſind für jeden vernünftig
Denkenden gleich, der ſich mit der Wiſſenſchaft Be-
faſſende iſt ihnen unterworfen, verhält ſich dabei
weſentlich rezeptiv. Die Kunſt aber iſt etwas Aktives,
ihre Bethätigung trägt individuellen Charakter und
in dieſer Hinſicht iſt der Künſtler autonom. Der
ſchaffende Künſtler belebt gleichſam die objektiven
ſtarren Formen durch das ſubjektive Moment ſeiner
ſchöpferiſchen Individualität.“

„Wenn der Geometer,“ nach Lionardo, „jede


Quadrats zurückführt und jeden Körper auf die des
würfels und die Arithmetik das gleiche mittelſt ihrer
Kubif- und Quadratwurzeln bewerkſtelligt, ſo erſtrecken
ſich beide Wiſſenſchaften nur auf die Erforſchung
der zuſammenhängenden und unzuſammenhängenden
Quantität, um die Qualität aber mühen ſie ſich
nicht, die da iſt: Schönheit der Naturwerke und
Sierde der Welt. Die Malerei dagegen richtet
grade auf die Qualität ihr Augenmerk, .. Das
Verhältniß der Kunft zur theoretiſchen Wiſſenſchaft
iſt alſo: Die wiſſenſchaftliche Theorie liefert der aus-


Wege ihrer darſtellenden Thätigkeit, ſie zeigt ihr die
Stufenreihe der Formen, die Arten der Harmonie,
die Grade und Vuancen des Schönen. Die Kunft .
aber drängt vom Urtheil nach dem Ausdruck, vom
Gedanken nach dem Werke, von der Kontemplation
des Schönen nach deſſen Realifation, von der ob-


ſtellung der Wirklichkeit. Die Wiſſenſchaft — ſo
hoch ſie Lionardo auch ſtellt — iſt für die Kunft als
ſolche nur ein Mittel zum Zweck.“

* *
2
 
Annotationen