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Die Kunst-Halle — 2.1896/​1897

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Nummer 14
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Walter, Ferdinand: Die Erziehung des Volkes zur Kunst
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Rust, Agnes: Hermann Obrist
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https://doi.org/10.11588/diglit.63305#0245

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Nr. sF

Die A unst - Lsall e. I-rch

keinen genialen Gesetzdeuter im Bagatellgericht. In
diesem Lall aber wird von Lserren mit rein gelehrter
Berufsbildung, die allenfalls gute Vorträge auf
einem Mädchenlyceum oder in Kunstvereinen halten
können, erwartet, daß sie mit Lrfolg einen Zuhörer-
kreis von elementarster Gattung, zu dein sie nicht die
mindeste Fühlung haben, unterrichten sollen.
U
Dermunn Gbrist.
von Agnes Rust, Aschaffenburg.
M^Iünchen — das Lserz Süddeuhchlands, das
klopfende, unruhige Lferz, in dein es aus- und
niederwogt, das Tentrum künstlerischen Lebens -
die Stadt der ungezwungenen Sitten, des sich immer
mehr entwickelirden kosmopolitischen Treibens —
kein Wunder, wenn dieses München eine merkwürdige
Suggestion ausübt. Dies gilt zumal von der Welt
der Künstler oder Kunstfreunde. wie viele der
ersteren haben freilich weder „Glück noch Stern",
während die wenigen Glücklicheren gerade dort um
so mehr Verständnis finden und Lorbeeren ernten.
Dort, wo die Stadt nach Norden ausläuft, hat
in einer stillen Straße ein Künstler sich ein Lsaus ge-
baut nach eigenen jlllänen und Ideen, der
wohl berufen ist, im Münchener Kunstleben eine
führende Stellung einzunehmen, Lsermann Gbrist,
als Bildhauer ein fein empfindendes Talent, im
Kunstgewerbe vielleicht ein Bahnbrecher.
wie ein gehetztes Wild, das nicht ein noch aus
weiß, treibt der sog. Stvl immer durch dieselben
Bahnen bald vorwärts und bald zurück, durchläuft alle
Stadien, bald Renaissance, dann Rokoko und wieder
Lmpire. wird dazwischen: ein versuch zu Anderem
gemacht, so scheitert er an den: Mangel an ver-
ständniß oder mißlingt, weil an: unrichtigen: Lnde
angefaßt. So entstand vor Jahren in Hamburg die
Zeitschrift „Volkskunst". Das Blatt war vortrefflich,
brachte viel Anregendes, die Mitarbeiter schienen von
heiligsten: Liser erfüllt und doch vergeblich, es mußte
zu Grunde gehen. Ob es blos die allgemeine In-
differenz war, die ihr den Untergang bereitete, ob
andere Ursachen, ist schwer zu entscheiden.
Lserr Lfermann Obrist ist der Ansicht, daß der-
artige Reformen sich erst in den obere:: Schichten
einbürgern müßten, sollte:: sie wirklich zum Gemein-
gut werde::, was die oberen Zehntausend thun, ist
den: wohlhabenden Bürger Vorbild, ihr Geschmack
ist ihm maßgebend, was viel verlangt und gekauft
wird, muß produzirt werden, und sobald die neuen
Ideen also den Markt beherrschen, kauft auch der
Urtheilslose das was eben Mode ist. Eigentlich ein
ziemlich einfacher s)rozeß, beinahe das Li des
Kolumbus, wie aber sind die „ober:: Zehntausend",

die Leute, die nicht blos Geld sondern auch Ge-
schmack und Kunstsinn haben, für Neuerungen zu ge-
winnen? Schwerfälligkeit soll eine deutsche, Assi-
milwungsvermögen eine romanische Ligenschaft sein,
wie den: nun auch sei — der germanische „Schwer-
füßler" braucht zu Allen: seine gehörige Zeit. Lr
läßt nut Freuden seine großen Männer darben und
sterben und setzt ihnen nachher prächtige Denkmäler.
Ls gehört daher in unfern: Vaterlande sehr viel
Muth, dazu seine eigenen Wege zu gehen.
Liner dieser kühnen Kämpfer ist Hermann
Obrist. Lr hat die Augen, Ungewohntes zu sehen,
und den Muth dies Ungewöhnliche zu offenbaren.
Und trügen nicht alle Zeichen, so ist ihn: das
seltene Glück beschieden, allmälich für seine Ideen
verständniß und Förderung zu finden. Mögen gün-
stige äußere Verhältnisse oder persönliche sympathische
Ligenschaften dazu beitragen, — genug — das
Münchener Kunstgewerbe beginnt auf die Stimme
des Propheten zu hören, was er giebt, sind keine
der sonst geläufigen Formen, gangbaren Ideen. Ls
spricht keine bestimmte Stvlart aus seinen Stickerei-
entwürfen. Sie sind nicht japanisch, auch nicht ameri-
kanisch, aber apart ausgeführt von Fräulein Bertha
Rüchet, und zwar in sozusagen gar keiner Technik.
„Gar keine Technik" — dies hat, wie nur Lserr
Obrist erzählte, manche Dame so frappirt, daß sie
seiner Ausstellung ohne weiteres den Rücken kehrte,
weder Kreuz-, noch b)exen-, noch Kettenstich, auch
keine Nadelmalerei, einfach Flach- und Stielstich.
„Aho doch Technik" — könnte eine aufmerksame
Leserin fragen. Allerdings; aber eben nur diese pri-
mitive, blos als Ausdrucksmittel wirkende, nie prä-
tentiös sich vordrängende. Und das giebt den
Stickereien in Verbindung mit der Ligenartigkeit der
Zeichnung etwas durchaus vergeistigtes, was ein
an starke dekorative Lffekte gewöhntes Auge ent-
schieden anfremdet. Leise Musik, Rvthmus spricht
aus diesen seltsamen Formen.
Die Macht der Gewohnheit, sie ist eine ewig
alte. U:ffer Sehvermögen, durch eine bestimmte, nach
genauen Gesetzen und Schulregeln komponirte Orna-
mentik, zu schematischer Auffassung erzogen, muß sich
unbedingt erst akkomodiren. Ist aber einmal die
Mauer durchbrochen, das Motiv gefunden und ver-
standen, dann wird nun: den: Reiz dieser durchaus
individuellen Arbeiten Gerechtigkeit widerfahren
lassen. Iermann Gbrist will den Geheinnüssen der
Natur auf wenig betretenen ffffaden nachspüren, er
sucht ihr feinstes, ich möchte sagen nervöses Leben,
ihre Seele zu beobachten.
Line Tffchdecke. Unzählige, theils offene, theils
zart gefaltete Blüthen (Wiesenblumen) vermischt mit
zierlichen Gräsern und Blättern sind auf den: Grund
gruppirt. Lin d reitheilig er Schirm: Motiv Lisen-
hut. In: Mittelfeld steht die wehrhafte Blume,
stark und aufrecht, wie ein Wächter in: Gefühl seiner
 
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