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Die Kunst-Halle — 5.1899/​1900

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Nummer 4
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Zimmern, Helen: Tranquillo Cremona, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.63303#0065

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Nr. F

Die A u n st - L) a l l e

5s

Urayqaillo Di»en)0yg.
von Helen Zimmern, Florenz.

ADIls. ich zum ersten Mal in Mailand war, lebte
und malte Tranquillo Cremona noch da-
selbst, und schon damals konnte man im Besitz jeder
Mailänder Familie, die etwas auf sich hielt, ein
Original des Meisters oder mindestens die Reproduktion
eines seiner Gemälde in Meldruck finden, Seitdem er
im Jahre f878, erst einundvierzigsährig, aus der Reihe
der Lebenden geschieden ist, hat sein Einfluß noch
bedeutend zugenommen, und das nicht nur in seiner
Heimath, der Lombardei, sondern in ganz Italien,
von wo sich sein Ruhm nach dem Ausland erstreckt
und vornehmlich in Holland und England verbreitet
hat. Auch macht sich eine gewisse Verwandtschaft in
geistiger wie technischer Hinsicht zwischen ihn: und
einigen bedeutenden Malern Englands bemerkbar,
so namentlich mit dem greisen Matts, obwohl Cremona
niemals ein Bild Watts gesehen und dieser, bei Leb-
zeiten des lombardischen Künstlers wenigstens, keines
von dessen Werken kannte.
wer und was dieser Tranquillo Cremona ge-
wesen, der einen so tiefgehenden, und man möchte
fast sagen, revolutionären Einfluß auf das Denken
und Können der jüngeren Generation italienischer
Künstler ausgeübt hat, darüber belehrt uns ein von
Giulio Pisa geschriebener und von den Herren
Baldini Castoldi in Mailand in höchst splendider Aus-
stattung herausgegebener Folio-Prachtband, der sechs-
unddreißig Photogravüren nach Cremonas Werken
nebst einem vollständigen Katalog derselben und seine
Biographie enthält.
Wodurch kennzeichnet sich nun Cremona als
Maler? Camillo Boito, der Architekt und Kunst-
kritiker, hat in seiner am Grabe des Künstlers ge-
haltenen Rede von dessen Art Folgendes gesagt: „Zu
beschreiben ist Cremonas Malerei nicht. Eie weist
keine Umrisse auf. Die Figuren treten in den Hinter-
grund hinein; der Hindergrund tritt zwischen die
Figuren. Die Farben, welche er auf der Handfläche
mischte und mit einem am Ende eines Rohrstocks
befestigten pinsel auf die Leinwand warf, erscheinen,
in der Nähe betrachtet, dem Auge als eine formlose
Masse bleifarbener und blauer und rosenrother und
gelber Flecke von ungemein schmutziger Beschaffen-
heit. Alles ist in Unsicherheit getaucht, in ein ge-
heimnißvolles Schwanken der Linien und Tinten.
Unter dieser Unsicherheit aber liegt eine Wissenschaft,
die so exakt, so gründlich und so wenig zu übertreffen
ist, wie diejenige seines Bruders, des Mathematikers,
deu ganz Italien ehrt. . ."
Es war eine sterile Kunstepoche, wie es eine
politisch unglückliche Periode für Italien war, als
Tranquillo Cremona s837 in Pavia geboren wurde.

Er war wohlhabender Leute Kind. Die Kunst studirte
er am ernstesten in Venedig, wo damals verschiedene
tüchtige Männer an der Spitze der Akademie standen.
Venedig selbst und die venetianischen Gemälde thaten
das Uebrige zu seiner Ausbildung und nährten in
ihm durch ihr leuchtendes Kolorit die Begeisterung
für die Farbe. Er war ein fleißiger Schüler, obwohl
ein lustiger Bursche uud ein Tollkopf obenein. Im
Jahre j858 gewann er den akademischen Preis auf
eine Aquarellmalerei mit dem biblischen Sujet der
Weigerung des jüdischen Märtyrers Eleasar, Schweine-
fleisch zu essen. Unmittelbar nach diesem Erfolg wurde
er zum Militärdienst ausgelost, und, um nicht unter
den verhaßten Oesterreichern zu dienen, entfloh er
und hielt sich in Piemont verborgen. Als Italien f859
das österreichische Joch abwarf, ging Cremona nach
Mailand, wo er sich für Zeit seines Lebens nieder-
ließ. Vom Erfolg begünstigt ward er zuerst s862;
d. h. von einem relativen Erfolg, denn durch sein
unregelmäßiges Leben und sein schwer zu beherrschendes
Temperament befand er sich stets in Geldverlegenheit.
Sein „Besuch des Grabes von Romeo und Julia",
welche,: Besuch ein junges Liebespaar macht, ist noch
etwas vom alten Romantizismus angehaucht. In-
dessen, war auch das Thema von der alten Tonart,
so ist doch die Darstellungsweise eine moderne, ohne
Affektirtheit, ohne falsche Sentimentalität; die Aus-
führung hat nichts Gelecktes und bekundet überdies
koloristisch sein eifriges Studium Tizians. Im folgenden
Jahr machte die Aufführung von Gounods Faust im
Skala-Theater einen so tiefen Eindruck auf ihn, daß
er eine Zeit lang nur Faust-Sujets malte. Doch
war es, merkwürdig genug, die Helena-Episode nicht
die Gretchen-Tragödie, die ihn anzog, woraus erhellt,
daß er „Faust" schon durch Goethe kannte, nicht erst
durch Vermittelung Gounods.
Einen großen Triumph feierte er f863 in der
Brera durch seinen „Falkner" und seinen „Marco
Polo, der von seinem Vater dem Tartarenchan Kublai
vorgestellt wird." Letzteres gehört zwar noch zu der
damals so beliebten Kategorie von Motiven im Ge-
schmack Hayezs, doch weist Cremonas Komposition
eine freiere, weniger pedantische und schwerfällige
Behandlung auf. Der Falkner markirt vor Allem
den Uebergang zu seiner späteren Malweise. Ein
weiterer Schritt war f866 sein „Idillio", ein Werk,
so frisch und gefällig, so natürlich und sui Ksueris
wie ein Idyll Theokrits. Nur besitzt es in Zeichnung
und Pinselführung noch nicht die volle Sicherheit, zu
der Cremona später gelangt ist. Unermüdlich im
Versuchen, Studiren, Experimentiren gab er sich nicht
mit den: Erreichten zufrieden. Das alte Problein
des Helldunkels begann ihn von Neuem zu beschäftigen.
Und weiter erkannte er, daß, aus der Entfernung
gesehen, die Dinge ihre Deutlichkeit verlieren und daß
es daher für gewisse Fälle unzweckmäßig sei, die
Einzelheiten genau auszuführen. In diesen Erwägungen
 
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