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Die Kunst-Halle — 5.1899/​1900

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Nummer 8
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Galland, Georg: Die Neuankäufe der Nationalgallerie
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Zimmern, Helen; Segantini, Giovanni [Gefeierte Pers.]: Giovanni Segantini
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https://doi.org/10.11588/diglit.63303#0137

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Nr. 6

Die Kunst-Halle

Bemühen sie den Kunstcharakter derjenigen europäischen
Nation, die grade das Modeprestige anerkanntermaßen
besitzt, studirt und nachgeahmt. Gönne man doch statt
dessen der in ihrem eigenen Hhantasieleben oft be-
drängten, mißachteten Heimath diese herrliche Ehren-
halle, das stolze Vorrecht, daß hier mehr als bisher
unsere Künstler in einer dein eigenen Volksthun: nach
Form, Gesinnung, Empfindung angemessenen, aber
auch künstlerisch entsprechenden Weise ihre Fähigkeiten
offenbaren, vergesse man dabei nicht, daß die Gallerte
die vornehmste ästhetische Bildungsstätte der Haupt-
stadt und des Landes ist. Gebe man bei Beginn des
neuen Jahrhunderts den Gedanken einen kühneren
Schwung, damit die Kunst hier nicht mit Vorliebe haften
bleibe am trüben Abglanz eines verkümmerten Daseins.
Gin Weg wird und muß sich finden, um die nationale
Sammlung künftig unter größerem Gesichtswinkel zu
erweitern. G.


Movanm Segantini.
von Helen Zimmern, Florenz.
im noch nicht vollendeten zweiund-
vierzigsten Lebensjahre in der Nacht vom
28. September dahingeraffte Maler Segantini war
eine Persönlichkeit von hervorragender Eigenart. Gr ist
für Italien ungefähr gewesen, was Millet früher in
Frankreich war, freilich ohne dessen schulbildende
Macht, da der Naturalismus inzwischen wohl über-
haupt in allen Ländern stark in Abnahme gekommen
ist. Segantini selbst, der sicherlich den Ginstuß jenes
Franzosen nach und nach erfuhr, hat anfänglich
wenigstens ganz allein den Weg zur Schilderung der
Mühseligen und Beladenen seiner Heimath gefunden.
Wohl gab es auch fchon vor ihm in Italien genug
Hirten- und Bauernmaler, aber nur solche, die ihre
Modelle im Sonntagsstaat, als glückliche und zufrieden
lächelnde Menschen vorführten. Gr hingegen hat
den Feldarbeiter studirt, wie dieser im dürftigsten
Kittel sein kärgliches Brod dem Boden abringt,
gleichsam das biblische Wort erfüllend. Und wie bei
Millet geben auch bei Segantini Herkunft und Lebens-
schicksale einen Schlüssel für die eigenthümliche Sinnes-
weise des Malers.
Gr wurde nämlich als blutarmer Leute Kind im
Trientinischen, zu Arko, am f5. Januar s858 geboren.
Früh verwaist, nahm sich eine in Mailand wohnende
Stiefschwester des Kindes an, aber leider nur wie etwa
ein Kerkermeister seines Gefangenen, der denn in
diesem Falle auch, obwohl damals erst siebenjährig,
Gelegenheit zur Flucht fand — zwar nicht bis nach
Frankreich, wie er voll reger Einbildung zu hoffen
wagte. Sondern bettelarm kam er nur bis zu einein
entfernten Bauerngehöft seiner Heimath, wo man ihm

aus Mitleid den Hosten eines Schweinehirten anver-
traute. Hier entdeckte er und entdeckte man sein
eminentes zeichnerisches Talent, wie wenn sich aber-
mals das alte Schicksal eines Giotto wiederholt hätte.
Aber zwischen diesen: ersten Erwachen des Genies
und Segantinis Eintritt in die Studienklassen der
Brera zu Mailand lag doch noch eine weite traurige
Strecke, die nur reich war an Entbehrungen und
bittern Enttäuschungen. Und selbst als ihn das Glück
endlich seinem heißersehnten Ziele nahe führte, konnte
er sein bescheidenes Dasein nur fristen, indem er ab-
wechselnd Hrozessionsfahnen und Fensterrouleaur be-
malte, oder für ein Billiges kleine Leute porträtirte.
Stark, ungebeugt in: Dulden nnd Ausharren, prägte
sich doch die Fülle seiner Leiden und Erlebnisse, die
schließlich sogar einen tragischen Abschluß fanden,
seinem dunklen bärtigen Antlitz auf, das den Stempel
körperlicher Strapazen, geistiger und seelischer Er-
regungen, aber auch der Entschlossenheit und männ-
lichen Stolzes besaß.
Schon als Schüler der Brera inalte er seinen
„Ooro cli 8ant' Antonio", — in Ermangelung von
Leinwand auf der Rückseite eines alten Kaminschirms
— jenes wundersame Erstlingswerk, das ihm, als
es ausgestellt war, sofort die Achtung seiner Kunst-
genossen, wie auch die Mittel erwarb, die Akademie
zu verlassen, der er sich entwachsen fühlte. Das Bild
zeigt den Thor beleuchtet von dem durch ein hohes
Fenster einfallenden Licht, das, die Kirchenstühle er-
hellend, ein altes Gemälde streift, dessen abgeblaßte
Figuren es heroortreten läßt. Die Szene nur von
der Gestalt eines kleinen Thorknaben belebt, zeugt
schon von der erstaunlichen Kraft, die ein charakteristi-
sches Merkmal der Malweise Segantinis ist. Was
ein Kritiker in jener Zeit von dem jungen Maler
sagte, darf noch jetzt, beim Ueberblicken des gejammten
Schaffens dieses so außerordentlich produktiven
Künstlers im Wesentlichen als zutreffend gelten:
Alles in Allen: ein Genie, das sich aus eigener Kraft
entwickelt hat, unbehindert durch scholastischeHrinzipien,
welche nur allzu oft dazu dienen, den Ausdruck der
ursprünglichen Inspiration zu modeln, wenn nicht
gar zu ersticken.
Der akademischen Fesseln ledig, verließ Segantini
nach einiger Zeit die enge Stadt, um nach den:
herrlich schön gelegenen Brianza zu gehen. Dort
malte er s883 ein kleines Bild „Religiöse Kunst"
benannt, das einen Mönch darstellt, der knieend mit
Inbrunst an einen: biblischen Gemälde arbeitet,
während ein anderer Mönch ihm begeistert zuschaut.
Ein prächtiges Werkchen, das in der Licht und
Schattenwirkung etwas Rembrandtsches hat. In
Brianza war es, wo er anfing, sich ganz dem Studium
des Landlebens und der Landschaft zu widmen. Er
streifte meilenweit zu Fuß durch jene halb-alpinen
Regionen, in denen die Menschheit einfach und natür-
lich, die Natur von kräftigen: und doch freundlichen:
 
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