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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 82 (Oktober 1911)
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Walden, Herwarth: Der Sumpf von Berlin
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0209

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WOCHENSCHRIFT FÜR KULTUR UND DIE KÜNSTE

Redaktion und Verlag: Berlin-Halensee, Katharinenstrassn 5
Fernsprecher Amt Pfalzburg 3524 / Anzeigen- Annahtne

: -: durch den Verlag und sämliche Annoncenbureaus : -:


Herausgeber und Schriftle iter:

HERWARTH WALDEN


Vierteljahrsbezug 1,50 Mark / Halbjahresbezug 3,— Mark /
Jahresbezug 6,— Mark / bei freier Zustellung / Insertions-
preis für die fünfgespaltene Nonpareillezeile 60 Pfennig

JAHRGANG 1911


BERLIN OKTOBER 1911


NUMMER 82

Inhsilt ’ TRUST: Der Sumpf von Berlin / aco: Cafe Größenwahn / MAX STEINER: Schopenhauer und die Politik / JAKOB VON HODDIS:
lUUCUt. Italien ! ELSE LASKER-SCHÜLER: Briefe nach Norwegen / TRUST: Aus Berlin: Juryfrei / Die Orestie im Zirkus / RUDOLF KURTZ:
Apotheose der Gebrüder Herrnfeld / ERNST BLASS: Wirkungen / ARTUR SEGAL: Holzschnitt

Der Sumpf von Berlin CafiGrößenwahn

Die Berliner Presse war in ungeheurer Auf-
regung. Der Prozeß, der dem Qrafen Metternich
gemacht wurde, hat den Sumpf von Berlin bloß-
gelegt. Man entsetzte sich ailgemein. Die Zei-
tungen, dadurch angeregt, brachten seitenlange
Berichte über alle „Qemeinheiten, Scheußlichkeiten
und Widerwärtigkeiten“, die vor Qericht enthüllt
wurden. Eine Orgie des Enthlillens wurde gefeiert.
Das Qericht enthüllte, der Staatsanwalt enthiillte,
der Angeklagte enthüllte, seine Frau, die Vertei-
diger enthiillten, die Zeugen, die Zeitungen. So daß
man sich schließlich einbildete, die Nacktheit in
eigener Person vor sich zu haben. Nachdem man
nun allerseits überzeugt war, die wirkliche Nackt-
heit wirklich zu sehen, brach der allen Orgien fol-
gende Jammer aus. Der größte Teil der Festie-
renden war ja nun leider nicht mehr „in der Lage“,
der Menschheit ganzen Jammer zu offenbaren. Man
hatte sich übrigens genug offenbart, um sich
wieder in ein wohlverhülltes Privatleben zurück-
zuziehen. Nur die Leitartikler der Presse konnten
nicht umhin, Jammernswürdfges auszusprechen.
Der Sumpf schien tatsächlich bewiesen. Jetzt heißt
es, ihn zuzudecken. Die Leute in der Provinz
sollen nicht etwa glauben, daß ganz Berlin auf
solchem Boden aufgebaut sei. Der Sumpf wurde
vielmehr tout Berlin und insbesondere Berlin W
in die Schuhe geschoben. In die teuflischen Lack
schuhe, die man dort trägt, in die durchbrochenen
Strümpfe, in die Herrlichkeiten des Herrn Poire;,
in die „mondainen“ Frisuren. So wurde Berlin W
ersäuft. Das arbeitsame Berlin war gerettet, die
Konfektionäre und die Dichter der Presse nebst
allen übrigen ehrlichen Spießbürgern schoben mit
jener berühmten Bewegung und gemeinsamen Kräf-
ten Berlin W von sich. Sie sind nicht wie diese.
Doch noch rechtzeitig besannen sich diese Herr-
schaften, daß sich ihre Privatwohnungen, ihre
Frauen und ihre Töchter auf jenem sumpfigen Bo-
den befanden, den sie erst so gern enthüllt und nun
so gern wieder verdeckt hätten. Es wurde be-
schlossen, auch Berlin W wieder zu retten.

Den Leuten in der Provinz soll gezeigt werden,
daß Berlin W. gar nicht so schlimm sei, wie es
nach dem Metternichprozeß schiene. Zunächst
mußte die Qeographie helfen. In einer feinsinnigen
Analyse bemerkte der eine, daß Berlin W eigent-
lich aus Charlottenburg, Wilmersdorf und Schöne-
berg bestehe, und daß entsprechende Beschuldi-
gungen gegen d i e s e Städte zu richten seien. A n -

dererseits könne man nicht „behaupten, daß die
Tausende, die zwischen dem Tiergarten und dem
Grunewald leben, Tagediebe, Hochstapler, Ehe-
brecher und Schieber seien.“ Im Qegenteil. Dort
„wohnen die Chefs, die Kaufleute, Industrielle, Qe-
lehrte, Künstler, Techniker, Schulmeister, Richter
und Advokaten“. Ich gehe sogar noch weiter und
behaupte, daß in dieser Qegend nicht ein einziger
Mensch wohnt, der sich öffentlich zu dem Beruf
eines Tagediebes, Hochstaplers, Ehebrechers oder
Schiebers bekennt. Das tut man nicht. Nach mei-
nen schwachen geographischen Kenntnissen muß
ich aber sagen, daß die Personen, die im Neben-
beruf sich den angedeuteten Tätigkeiten hingeben,
sich kaum auf eine Himmelsrichtung beschränken
lassen, und daß nicht einzusehen ist, warum man
nicht auch in Berlin W einen Nebenberuf haben soll.
Schließlich gibt es dort auch eine Menge Menschen,
die durch ihren Hauptberuf nicht allzusehr belastet
sind. Aber ein Leitartikler behauptet, daß Berlin
W der Brennpunkt aller geschäftlichen und
geistigen Interessen Deutschlands sei. Der P u n k t
wird noch dadurch glaubhaft gemacht, daß es im
Westen Berlins viele Behausungen gibt, die nur
zwei bis vier Zimmer umfassen. Die geschäftlichen
und geistigen Interessen Deutschlands leben also in
den Qartenhäusern, während vorne — da hätten
wir beinah den wunden Punkt von Deutsch-
land. Nun wirft man allerseits mit sittlichem Ernst
die „brennende Frage“ auf, wie die „Außenwelt“ ,
zur Vorstellung von Berlin W als Sumpf käme.
Und die brennende Frage wird gelöscht. „Romane,
die zu einem erheblichen Teile von Snobs für Snobs
geschrieben werden, und Qerichtsverhandlungen
haben Berlin W. in Verruf gebracht.“ Was kann
Berlin W. nun tun? Es muß den Dichtern und den
Richtern auf die Finger sehen. Wo stecken die
Snobdichter, die für Snobs schreiben? Da ist zum
Beispiel der Dichter Edmund Edel, Mitarbeiter des
Berliner Tageblattes und der B. Z. am Mittag. Da
ist der Dichter Doktor juris Artur Landsberger, Mit-
arbeiter und Verwandter der B. Z. am Mittag, da
ist der Dichter Walther Turszinsky, Mitarbeiter
sämtlicher Qeneralanzeiger Deutschlands, da ist der
Dichter Rudolf Lothar, Mitarbeiter des Berliner
Lokalanzeigers. Das sind die Dichter, um einige
von der Sorte zu nennen, die Berlin W. in Verruf
bringen, die nicht in den Gartenhäusern wohnen,und
die in allen den Zeitungen mitarbeiten, die im Leit-
artikel solche Dichter perhorreszieren. Aber, sagen

diese Zeitungen, „die Berliner Literatur erschöpft
sich für viele ehrsame Leute der Provinz mit den
Leuten, die im Cafe Qrößenwahn die soziale Frage
lösen.“ Dem Cafe Qrößenwahn wird überhaupt
ein entscheidender Einfluß eingeräumt, ein Einfluß,
der bekämpft werden soll oder muß. Die Herren
der Presse schreiben nicht nur in Wortverbindun-
gen, die sie nicht auflösen können. Es ist vielmehr
eine spezifische Eigentiimlichkeit der Berliner Jour-
nalistik, daß sie es nicht einmal versteht, Tatsachen
tatsächlich zu berichten. Ihr Sinn ist so abge-
stumpft, daß sie Begriffe sehen, wo Menschen sind,
und Menschen sehen, wo Begriffe sterben. Das
vielgenannte und viel besprochene Cafe Qrößen-
wahn ist das Cafe des Westens, Kurfürstendamm
17. Jedesmal, wenn ich dieses harmlose Lokal
nach einem solchen „Angriff“ wieder betrete, sehe
ich mich erstaunt um. Ich suche die „markanten
Erscheinungen der Boheme“, die in ihm verkehren
sollen. Ich suche die Literaten, die die soziale
Frage loesen, ich lausche nach den literarischen
Qesprächen, die dort geführt werden sollen. Zwar
sehe ich gelegentlich dort den Dichter Edel und
den Dichter Lothar, den dünnen Aram und den
dicken Schlenther, den Dichter Turszinsky und den
Dichter Hollaender, aber ich bin noch nie auf die
Idee gekommen, daß die Herren literarische
Qespräche führen, soziale Fragen lösen oder grö-
ßenwahnsinnig sind. Die Zeitungen, die sich im
Leitartikel gegen sie wenden, werden nicht be-
haupten wollen, daß diese Herren eines Wahnes
fähig sind. Ihnen fehlen alle Sinne und vor allem
der Sinn für Kunst. Diese Herren und die andern
Kaufleute, die im Cafe des Westens verkehren,
sind sicher keine geeigneten Objekte für Qrößen-
wahn. Denn Groeßenwahn, sagt Karl Kraus, ist
nicht, daß man sich für mehr hält, als man ist, son-
dern für das, was man ist. Die Leitartikler sollten
sich einrnal in dieses Caie wagen, und sie werden
erstaunt ihre Freunde und Kollegen vom Feuille-
ton dort wiedertreffen. Wenn die Herren so um
den Verruf von Berlin W besorgt sind, müßten sie
vor allem ihre e i g e n e n Blätter lesen.

Aber nicht nur die Dichter, auch die Richter
werden verdammt. Mit Heftigkeit, ja mit Em-
pörung wendet sich die Presse gegen die nirgends
aufgestellte Behauptung, daß das arbeitende, schaf-
fende und strebende Berlin sich auf dem Kriminal-
gericht ein Stelldichein gibt. Wer kann die Herren
auf diese Vermutung bringen, als ihre eigenen Be-

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