Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

DOI issue:
Nr. 91 (Dezember 1911)
DOI article:
Walden, Herwarth: Theater
DOI article:
Beaunier, André: Talent und Halbtalent
DOI article:
Drey, Arthur: Der Verlebte
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0286

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
endlich eininal eine Straikamnier, die vom Schaften
mehr versteht, als er und sein Verteidiger. Herr
Lebius machte zum Beispiel Karl May den Vor-
wurf, „daß er in seinen Schriften erdichtete Sa-
chen als eigene Erlebnisse hinstellte, daß er die Län-
der, die er ausführlich beschrieb, niemals mit Augen
gesehen habe, daß er behaupte, alle möglichen Spra-
chen zu beherrschen, daß er einem Verleger ge-
schrieben habe, seine Bücher seien nicht Phanta-
siegebilde, sondern eigene Erlebnisse. Vorsitzender
Landgcrichtsdirektor Ehrecke: Pa wird wohl
der Einwand der inneren Erlebnisse gemacht wer-
den können. Der Rechtsanwalt: Der Pri-
vatkläger hat sich in dem Kostüm eines amerika-
nischen Trappers photographieren lassen. May:
Jeder Schauspieier läßt sich photographieren, wie
es ihnt beliebt, warum sol! sich nicht ein Schrift-
steller. der über amerikanische Dinge schreibt. als
Trapper abbiiden lassen. Der Rechtsan walt:
Alles das wird nur angeregt, um die pathologische
Lügenhaftigkeit des Privatklägers zu illustrieren.
Vorsitzendler: Bin Verbrechen wären doch
solche phantastischen Dinge bei einem Dichter
nicht, und ich halte lierrn May fiir eiuen Dichter.
Der Herr Rechtsanwalt sagt offenbar die Wahr-
heit, aber er kennt sie nicht. Er ist sicher auch für
Schiller; und dessen pathologische Liigenhaftigkeit
in seinem Wilhelm Tell muß als schuinotorisch be-
zeichnet werden. Dieser Rechtsanwalt glaubt
ebensosehr an die.Wahrheit der Tatsachen, wie
an die Tatsachen der W ah r h e i t. Man kann sich
in beiden Fällen aber sehr blamieren. Er wurde von
dem Richter abgefiihrt, aber der Dichter des Ber-
liner Tagebiatts tritt ihm zur Seite. Eine Oelegen-
heit zum Biamieren läßt man nicht gerne vorüber*
gehen., Der Herr est vom Tageblatt ist sittlich ent-
rüstet. Was hat die ganze Dichterei t'iir einen
Zweck, wenn die Mittei zu tatsächlichen Erlebnis-
sen nicht ausreichten: „Sollte Karl May also doch
nicht Seibsterlebtes in seinen Abenteuergeschichten
erzählt haben, und nur fiir das sächsische Erzge-
birge die weiten Prärien Amerikas zum Schauplatz
seiner Erzähiungen fingiert haben?“ Sollte er
den Schauplatz fingiert haben? Es wäre t'iir Herrn
cst nicht auszudichten.

Trust

Talent und Halbtalent

Von Andre Beaunier

Die Pedanten sind nicht immer Iangweilig. Sie
werden es ieicht; aber rnan muß sie in kleinen
Dosen nehmen.

Doktor M a x Nordau hat in der ..Revue“
einen Artikel veröffentlicht, das komischste, das man
seit langem hat iesen können. Er beschäftigt sich
mit derFrage der „Halbtalente“, und seine Betrach-
tungen, die iangweilig wären, sind es nicht, weil sie
die unfieiwilligste Heiterkeit auslösen.

Der Autor ist Gelehrter, man weiß es. Er hat
sehr dicke „ernste“ Biicher geschrieben. Mit äußer-
ster Strenge ist er gegen viele unserer Schriftsteller
vorgegangen und hat inelir als einmal gezeigt, daß
er sie nicht gerade verstand. Daraus schloß er, daß
diese Schri ftsteller unverständlich seien. Nach
der Feststeilurig umgibt er sein Mißfallen mit im-
posanter Philosophie, mit anmaßendcr Soziologie,
mit schwieriger Dialektik, wie es paßt.

Sein gewöhnliches Verfahren besteht darin, ein
sehr einfaches Thema schwer wissenschaftlich zu
beladen. Er bekleidet sein Thema: er wird es doch
nicht ganz nackt zeigen! Das arme nackte Thema
täte ihm doch leid. Er bekleidet es mit Worten,
die er der universellen Wisenschaft entlehnt. Dann
stößt er es in die Welt. Herr Nordau hat übrigens
Lebensart: und seine Gedanken sind, sozusagen
keine Aschenbrödel.

Die „Halbtalente“. Die kostümierte Idee: ein
„Haibtalent“ ist, wenn es seinen Besitzer nur zer-
streuen soll, ganz nett; aber man rnuß nicht seinen
Lebensunterhalt damit verdienen wollen. Voilä.

Elegant fängt Doktor Max Nordau an:

Wenn die guten Feen . . .

Die guten Feen? . . . Ein üelehrter? . . .
Der üelehrtc schäkert.

Weiin die guten F'een einem Menschenkinde
wohlwollen ....

Der Geiehrte weiß, daß alle Kinder Menschen-
kinder sind, aber er bemülit sich, seine Sprache zu
„schinückeri". Was tun die guten Feen? . . .

.... legen sie bei seiner üeburt ein angeneh-
nres 'i'alent ais üeschenk in seine Wiege. Es ist
eines der kostbarsten üescheiike, das sie ihrem
Liebling machen können. Es ist ein sichererer Talis-
rnan für sein Lebensglück als der Reichtum.

Der Oelehrte schäkert: er spielt Idealismus:

Es versehönt den Anblick der Welt mehr als
Adel oder vornehrne Abstammung. Es macht die
banalen Eindrücke der Wirklichkeit zu Vergnügun-
gen. Es erweitert und vertieft das Bewußtsein des
„Ich“ . .

Der Gelehrte vergißt für einen Augenblick, daß
es kein anderes Bewußtsein gibt, ais das „Ich“.

Dieses J'alent, sagt er, bestärkt das Vertrauen
zur treibenden Kraft der eigenen Persönliciikeit.

Die eigene Persönlichkeit: des Vvort-
schwalls! . . .

Dann verzeichnet der Doktor, daß in Paris „die
Damen der Gesellschaft“ ihren jährlichen Salon
haben; und irn Almanach hat er „alle Namen aus
dem Gotha gelesen“. Das gibt ihm Gelegenheit,
Esprit und Geschmack zu zeigen:

„Die Ilerzöge, Marquisen und Grafen drängen
sich entzückt vor den Werken ihrer Gemahlinnen
und gewinnen aus dieser Betrachtung die beruhi-
gende Gewißheit, daß während der Stünden, in
denen die weißen Hänide die Paiette lialten, kein
bedauernswerter Neoplasnius ihrer Stirn die ge-
schlossene oder die Blumenkrone streitig rnachen
wird.“

So erneuert ein Doktor Nordau „wissenschaft-
liche“ Scherze, dfe sonst nur die Manillespieler im
„Cafe du Commerce“ beschäftigen.

Er hat den ersten Teil seiner These auf-
gestellt: ein Halbtalent ist eine „Segnung, wenn
man es um seiner selbst willen und zu seiner eige-
nen Genugtuung pflegt“.

Aber, zweitens .... Zweitens:

Wenn eine böse Fee ....

Schon wieder! . . .

.... das anmutige Geschenk ihrer Schwestern
in einen Fluch verwandeln will, so fügt sie etwas
hinzu: den Ehrgeiz.

Man füge den Ehrgeiz hinzu, und das Halbtalent
wird „die schiimste Heimsuchung, die einem Men-
schen widerfahren kann.“

Wer mit dern Halbtalent den Ehrgeiz vereinigt,
setzt sich ein Ziel, das seine Waffe nicht erreichen
kann.

Doch dabei bleibt Doktor Nordau nicht:

Und er ist unwiderruflich dazu verdammt, daß
seine Schläge fehlschlagen.

Gut gesagt!

Piötzlich bemerkt Doktor Nordau, daß er viel-
leicht ein wenig erklären rniißte, was das Taient sei,
da er ja gerade das Halbtalent behandelt. In seiner
„Psychologie des Genies und des Talents“ hat er
das Talent so definiert:

Das Taient ist ein Wesen . . .

Also? . . .

. . . . ein Wesen, das allgemein oder häufig
zur Anwendung gebrachte Aktivitäten erfüllt und
zwar besser als all die, die dieselbe Fähigkeit zu
erlangen suchten.

Ach! Das ist ein Talent? Und ein Halbtalent
höchstwahrscheinlich die Hälfte davon.

„Der Grundbestandteil“ des Talents ist die
Nachahrming.

Er schließt dann nach und nach ungefähr so:

Das Taient bürgt, wenn es Milchkuh sein soll.
ebenso wenig für die Nahrung wie für die Befriedi-
gung der Eitelkeit. Und daher konrmen, neben der
materieüen Not >des Proletariats der Talente, die
herzergreifenden Tragödien der gemarterten und
zerstörten Eigenliebe.

,Gut! . . . Aber das brauchte nur gieich gesagt
zii werden. Oder, man brauchte es iiberliaupt nicht
sagen.

Doktor Nordau rät seinem Leser, in „den Vor-
zimmern der Inspektion für die schönen Künste“
oder der „städtischen Kommission für den Ankauf
von Bildern“ sich was anzusehen? „Die bejammerns-
werte Gruppe zeriumpter hungriger Gestalten, die
auf einen Brocken einiger eiender Francs des Bud-
gets lauern. „Wir werden nicht hingehen. Aber
hat Nordau das gesehen? Nordau schreibt auf alie
Fälle:

Triigen micht alle diese Unglücklichen ihren
Kopf viel höher, wenn sie Schuhflicker wären . . .

Nein, dann hätten sie ihren Kopf iiber ihre
Arbeit gebeugt, wie Max Nordau, wenn er
schreibt! . . .

. . . Der Kellner, anstatt überzeugt zu sein,
sie seien berufene und auserwähite Talente?

Nordau schreibt schwer. Aber er „denkt“
mit Leichtigkeit.

Er sagt noch, daß die „fünf oder zehn Neuig-
keiten“, die jedes Jahr ein glänzendes Schicksai
haben, deswegen nicht besser sirid ais „die er-
schreckliche Menge derer, die iin Dunkeln bleiben“.
Warum hat denn eine „Neuigkeit“ mehr Erfolg als
eine andere? . . . Glückssache! . . .

Doch warum will der Doktor nicht die Halb-
talente mit den Talenten konkurrieren lassen? Er
sagt ihnen vorher, sie werden in diesenr Kampfe,
für den sie keme ausreichendeii Waffen iraben,
besiegt werden. Nein, Herr Doktor: sie werden
nicht besiegt werden; es ist alles ja doch nur
Gliichssache, wie Sie selbst sagen, und gewölrnlich
behandelt der Zufall das Mittelmäßige nicht
schlecht. W-arum entmutigen sie die Leute . . .

Doch lassen wir ihn. Man sieht, Nordau hat
kein Halbtalent.

Er schließt:

Wem man wohl will, dem soll man Iieber
das vöilige Fehlen eines Talents als ein schwaches,
mit Ehrgeiz gepartes Talent wünschen . . .

Was soll man Nordau wünschen? . . .

Übertragung aus dern Französisehen von Jean-Jacaues

Diese Uebersetzung eines Beitrags im F i g a r o
wird veröffentlicht, unr zu zeigen, wie man im „un-
geistigen“ Frankreich deutsche Feuilletongrößen
einschätzt.

Der Verlebte

Das hat die Nacht getan, die Marmor tötet:

Sie machte mir die Hände zu Ruinen,

Und meinen Blick hat s-ie mir zugelötet . . •

Schon rosten meine Knochen, leere Schienen.

Der Himmel zieht die Haut vergrämt in Falten
Und zeigt den Mond, den letzten Zahn im Schlunde.
Ich kann mich nicht mehr auf der Erde halten,

Sie wird zu dick und schiebt mich aus der Runde.

Arthur Drey

Verantwor-tlich für die Schriftleitung
HERWARTH W ALDEN / BERLJN-HALENSEE

728
 
Annotationen