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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 71 (August 1911)
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Walden, Herwarth: Die Kunst in Kneipe und Heim
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Stoessl, Otto: Der Skeptiker
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0120

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Die Kunst in Kneipe
und Heim

Die hehre Kneipe

Der Bayreuther Presserummel setzt immer
mal wieder ein. Und zwar der Würde entspre-
chend mit Drommeten, Posaunen und Weihe.
Wochenlang Berichte über markige Wotane und
üppige Briinhilden, verwunderte Ausrufe iiber
sehnige Walkiiren, die durch die stillen Strassen
Bayreuths so ohne weiteres im schlichten Tailor-
made Kleid gehen, der grosse Siegfried, der al-
les bezaubert, was sein Vater im Leben bekannt-
lich unterliess, splendide Diners im Hause Wahn-
friecl unter Assistenz zahlreicher Koryphäen,
Schmerzen der Musikkritiker, die hierzu nicht
geladen wurden, weil Cosima Wagner sie für
Reporter hielt, und der Sohn vorläufig leider
schon auf der Bühne und nicht im Familienheim
regiert — dann, o dann, wird kein Reporter mehr
zu klagen haben, wenn des Sohnes Dinerstun-
den kommen. Und die Berliner Musikkritiker
werden sich selbst kaum noch von den Repor-
tern unterscheiden können. Eine einsame Träne
an des Meisters Grab. Was will die einsame
Träne? Sie wird eigens für den Stimmungsbe-
richt geweint. Bayreuther Generalproben. Welch
intime Reize . . . Nur die Alteingesessenen . . .
Nur clie Freunde des Hauses . . . Siegfried Wag-
ner stellt noch schnell die letzten Nuancen fest. .
und dann die herrliche Pause von einer Stunde,
die Wonnemaid verzehrt ohne weiteres eine Stulle,
sie sitzt ohne weiteres auf dem Wolkensitz, sie
trinki ohne weiteres Sekt glasweise und stämmige
Transportarbeiter tragen ohne weiteres Pianinos
rauf und runter. O Städte hehrster Pflege. Wer
sich aber an ihr erquickt, „versäumt wohl auch
nie auf dem Wege zum Alltag des Lebens, der
nun doch einmal wieder beschritten werden muss,
jene Räume zu beachten, in denen noch eine Weile
die hohe Stimmung fortfibriert“. Die Stimmung
vibriert fort in einer hehren Kneipe. Sie heisst
die „Eule“. In ihr „kommen die Künstler und
Freunde der Bayreuther Kunst und last not le-
ast — (man sollte es nicht für möglich halten)
— und last not least Siegfried Wagner selbst
zusammen, um in gehobener Freude und auch
Lustigkeit den Uebergang zu finden, von der
Wucht empfangener Eindrücke zur notwendigen
Forderung des realen Lebens“. Was in unserer ge-
liebtes Deutsch übeitragen heisst: die Herren ha-
ben Durscht und wollen mindestens trinken.
„Und wie dieser Uebergang geschaffen wird, man
muss es sagen, nirgends wohl in der Welt dürfte
mit solchem Takt die Brücke vom Weihevollen
zum Gegensätzlichen so geschlagen werden.“ Mit
solchem Takt schlägt Siegfried Wagner die Brücke
von Walhalla zum Herrenabend. Denn „und da
gebührt in allererster Linie Siegfried Wagner
selbst der Dank; denn die Art, wie er sich gibt,
wie er mit anmutiger Heiterkeit den Ton an-
stimmt zu all der harmonischen Freude, macht
sie jedem, der diese Stunden genoss, zu unver-
gesslichen“. Lebensfreude. Diese sinnigen Betrach-
tungen führt ein Herr, ein Musikkritiker, mit
Weihe, man muss es sagen, in der Unterhal-
tungsbeilage des Lokalanzeigers aus. Aber da-
mit nicht genug, er kann es sich nicht nehmen
lassen, aus dem Stammbuch der hehren Kneipe
flüchtig „hingeworfenen Gedanken wiederzugeben,
die der dithyrambischen Stimmung der weihevol-
len Stunden entflossen sind.“ Einen Bierverleger
her, der sie druckt. Erst wieder die einsame
Träne: „Wehmutsvöll lesen wir Namen . . .“
Es sind seit 1876 nämlich verschiedene Mitwir-

kende schon verstorben. Sie haben a 11 e ge-
dichtet. Aber viele leben noch heute und dichten.
Da ist zum Beispiel ein Herrn Gustav Gampel
aus Appenzell. Er, der Musikkritiker, schreibt es.
Weihe — also Mut, Herr Gampel aus Appenzell
„bekennt“:

„Aus deiner Kunst erblüht mir Allvergessen,
und in den reinsten Stunden eingedenken
kann ich nur deiner, Grösster aller Meister:
Richard Wagner.“

Garnicht übel, der Herr Gustav Gampel aus
Appenzell. Namentlich wenn man bedenkt, dass
er seine reinsten Stunden bei ff. Lagerbier er-
lebt, und offenbar Richard Wagner für dessen
Verfasser hält. Das Allvergessen kann er sicher
nur „beim Biere“ erlebt haben. Aber es kommt
noch schöner: da ist der vortreffliche Wiener
Musikkritiker Herr Ludwig Karpath, Redakteur des
Neuen Wiener Tageblatts, Verfasser des Buchs Sieg-
fried Wagner als Mensch und Künstler (S i e g -
f r i e d), Einführer in Siegfried Wagners Opern,
Verfasser der Schrift zu den Briefen Richard
Wagners an die Putzmacherin Bertha und aus-
serdem 1866 zu Budapest geboren. Also ein
Mann, der über Siegfried Bescheid wissen muss.
Und der uns, uns, in einem Stammbuchvers end-
gültiges über seinen Meister bekennt:

„. . . Heil allen, die vom Bau sind und nicht
aus Snobiamus hierherkommen. Heil, Siegfried
Wagner, unserm Stolz, unsere Hoffnung, dem
trinkkräftig edlen Förderer dieser Künstlerkneipe.“
Also endlich. Herr Karpath bekennt. Fluch
denen, die aus Snobismus in die hehre Kneipe
kommen, Heil Siefried, ihrem edlen Förderer. Er
hat also doch einen Beruf, den er nicht verfehlt
hat. Die Presse, vertreten durch Herrn Karpath,
bestätigt es. Und was glaubt man, setzt „der ge-
nialste Mime Bayreuths darunter?“ Nämlich un-
ter Karpaths Bekenntnis. Herr Hans Breuer
schreibt ganz unbayreuthisch darunter: „Bravo!“
Das ist genial, dieser Ausspruch durfte den Le-
sern der Unterhaltungsbeilage auf keinen Fall un-
terschlagen werden. Wieviel Anerkennung liegt
in diesem einzigen Wort. Er, dem es aus unge-
zählten Mäulern zugerufen wurde, gibt es ein-
fach wieder und lässt es unentschieden, ob sein
Beifall dem Förderer oder dem Bekenner gilt.
Viele Bayreuther Künstlers sind überhaupt im
Zweifel, ob sie der Kunst oder dem Bier dem
Vorzug geben sollen. Ein „Doktor“ meint:

„Heia! Wie schmeckt mir nach Nibelheims Nebel
der Trank,

Bayreuth, herrliches Bayreuth, dir gilt mein be-
geisterter Sang!“

Eine junge Dame, sagen wir, singt:
„Zwangvolle Plage,

Müh’ ohne Zweck,

Was nutzt mir die Klage,

Mein Bräufgam ist weg.“

Welch intime Reize . . . nur die Freunde
wagnerischer Kunst . . . die Städte hehrster
Pflege . . . die einsame Träne . . .

Der „Schreiber dieser Zeilen“, der uns, uns,
alles dieses wonnig übermittelt hat, durfte das
Stammbuch natürlich auch nicht an sich vorbei-
gehen lassen und schrieb hinein:

Zum siebenten Male letzt es mich heut’,

Doch nicht zum letzten Male — Bayreuth.

Es wird fortgesoffen. Mit Weihe.

* * *

Das sind die Eindrücke deutscher Musikkri-
tiker und Künstler von Richard Wagner und von
der Kunst. Wes der Magen voll ist, des läuft
der Mund über. Aber, meine Herren, lassen sie
bei der Schweinerei die Kunst beiseite. Sie ist
zwar nicht hehr. Aber heilig!

Der Attrappenmeyer

Richard M. Meyer, Professor an der Uni-
versität der Stadt Berlin, tut jetzt des öfteren im
Berliner Tageblatt bedeutend den Mund auf.
Nachdem ihm verschiedene Versuche auf dem
Gebiet der Literaturgeschichte völlig missglückt
sind, tritt er als Schwerenöter für die angewandte
Kunst ein. Er fordert das Recht der Attrappe.
Ihm ist das Leben nicht schön genug, und er
fordert, dass die Phantasie, die ihm fehlt, wieder
auf Buchschmuck und Möbelgestaltung ange-
wandt werde. Das Gewerbe wird ihm zu puri-
tanisch Nachdem durch die Initative von Adolf
Loos die besseren Menschen im Laufe des letz-
ten Jahrzehnts es allmählich als peinlich empfin-
den gelernt haben, sich auf Kunst zu setzen, aus
Kunst zu essen und zu trinken, in Kunst zu
schlafen, entdeckt Herr Professor Meyer, wie leicht
er sich eine in ihm nicht vorhandene Phantasie
beschaffen könne. Er kauft sich einfach ange-
wandte Kunst, phantasievolle Gebrauchsgegen-
stände. Ein Leben in Schönheit. Warum, fragt
Herr Meyer, darf man dem, der auf den Römer
für den Rheinwein Gewicht legt, es verbieten,
dass das ganze Trinkzimmer in die Blütezeit des
trinkfesten Deutschtums herübermothamorphosiert
werde? Warum, frage ich, vergessen dann die
Herren Meyer, die auf den Römer ihr ganzes
Gewicht legen, nicht nur das ganze Trinkzim-
mer, nein auch ihre Kleidung und sich selbst in
die Blütezeit des trinkfesten Deutschtums herü-
berzutransportieren? Umsomehr, als der Attrap-
penmeyer der Phantasie nicht verwehren will
„eine ganze Existenz freundlich umzustilisieren“.
Nur keine Viertelheiten. Man soll, sagt Herr
Meyer, dem Diener nicht das Recht versagenj
seine Livree zu schmücken. Man soll, sage ich,
den Herrn Professor nicht die geschmückte Liv-
ree versagen, auf die er seine ganze Existenz

freundlich umstilisieren kann. Und mit den At-
trappen seines Geistes versorge er in Zukunft die
Bliitezeit des trinkfesten Deutschtums. Igitur.

Trust

Der Skeptiker

Von Otto Stoessl

Nach einem Spruche Goethes antwortet je-
dem Alter des Menschen eine gewisse Philoso-
phie •. . . „Ein Skeptiker zu werden hat der
Mensch alle Ursache . . .“ Der Name des Skep-
tikers greift einen, allerdings bestimmenden Zug,
das Zweifeln, aus der Summe von seelischen und
physischen Anzeichen heraus, die das Wesen die-
ser Denk- und Lebensrichtung, den Inhalt und
die Stimmung ihres Ausdruckes ausmachen, aber
der Name erschöpft nicht die Fülle ihrer Aeus-
serung. Aus der männlichen Natur des Skepti-
kers ist allein seine Gestalt, sein Schicksal, Pa-
thos und Wirkung seiner Persönlichkeit etwa
zu entwickeln und zu verstehen.

Man betrachte einen geistigen, vom Leben
schonungslos durchgebildeten, gehärteten, ausge-
schärften, aber in seinem Wesen gleichgewichtig
verharrenden Charakter. Aus einer reichlich auf-
nehmenden, von der Realität durchdrungenen
Kindheit geht der Jüngling hervor mit einem
meist überschwenglichen Kraftbewusstsein, das alle
Aufgaben der Gesamtheit als persönlichsten Zweck
an sich ziehen will in einem ungemessenen, weit-
sichtigen Selbstgefühl. Er bedarf der Erlebnisse
als seiner eigentlichen Nahrung, denen er sich
nicht anpassen kann, sondern die er willkürlich

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