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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 74 (August 1911)
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Wauer, William: Die Inscenierung
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Pudor, Heinrich: Zur Physiologie der Frivolität
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Nr. 75 (August 1911)
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Walden, Herwarth: Die Vinnen gegen den Erbfeind
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0147

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Maler zum Beispiel auch keine plastische Kunst
seinerseits „malerisch“ wiedergeben.

Das Anekdotische hat für die Darstellung
keinen anderen Wert als den eines vorgeschrie-
benen Weges.

Nur der künstlerische Ausdruck des Lebens
darf auf der Bühne herrschen. Von dieser Grund-
forderung aus ist alles zu beurteilen und zu
verurteilen, zuzulassen und auszuscheiden, an-
zuordnen und zu verbieten.

Ein befriedigendes Verhältnis zwischen In-
halt, Mitteln und Darstellung der Dichtung zu
schaffen — eine Wesensgleichheit zwischen dich-
terischem Gehalt sowie schauspielerischer und
scenischer Verlebendigung herzustellen, das ist
Alles.

Was nicht sinnvoll (also organisch notwen-
dig für das Ganze) auf der Bühne vorhanden
ist, darf überhaupt nicht vorhanden sein.

Auch Zeit und Raum müssen in der Dar-
stellung in einem überzeugenden Zusammenhang
gebracht werden. Die Zeit (auch das Zeitkunst-
werk) ist illusorisch. Der Raum tatsächlich. Die
Darstellung überträgt das Illusorische ins Räum-
liche.

Die Dichtung zerfällt in der Darstellung in
tausend Einzelheiten. Deshalb ist die Darstel-
lung ohne einen zweit'en Dichter, der das Ganze
nochmals in sich organisch als Ganzes zusam-
menfasst, unmöglich. Dieser zweite Dichter ist
der Regisseur.

Eine dramatische Konzeption bedingt durch
ihr Zeitmass bereits auch die räumliche Insce-
nierung.

Die tausend Nichtigkeiten, durch die das
vielgestaltige Schaustück: Milieu (Scene) bestimmt
wird. haben keine Berechtigung, sich der Dar-
stellung aufzuzwingen, etwa um durch sie in
Erscheinung zu treten. Die Darstellung kann sie
zulassen oder übergehen. Die Darstellung herrscht
allein auf der Bühne und gibt keinem Dar-
stellungsmittel irgend ein selbstständiges Daseins-
recht.

Für die einzelnen Inscenierungselemente gibt
es ausserhalb ihres gemeinsamen Lebens kein
Experimentieren, kein Entfalten irgendwelcher
Virtuosität oder Wirkung um dieser selbst willen.

Der Inhalt eines dramatischen Kunstwerks
muss bis in seine tiefsten Tiefen hinein durch
die Darstellung, das heisst darstellend „heraus-
geholt“ werden, Form erhalten. Alles muss auf
die Oberfläche des Erscheinens — im Darstel-
lungsmittel. Allesmuss ausgedrückt, „Ausdruck“,
alles muss anschaulich und anhörlich werden.

In der Aufführung darf nie und nirgends
die Geschicklichkeit des Theatermeisters: das
Mechanisch - Technische in Erscheinung treten.
Man soll lieber Effekte schwächen oder ganz
meiden, wenn sie geeignet sind, Mechanisches
zu verraten oder auch nur ahnen zu lassen.

Jede Scenerie muss innerlich einfach und
selbstverständlich sein, damit sie die Bescheiden-
heit der Natur erreicht, das ist: die Selbstver-
ständlichkeit.

Jede Form muss Ausdruck haben, als Form
ausdrucksvoll sein. Auch die realistische Wieder-
gabe von plastischen Felsen zum Beispiel, die
nichts als echt erscheinen, ist eine darstellerische
Sinnlosigkeit, ein störendes Nichts, gehört also
nicht in eine künstlerische Formung, da in ihr
Bedeutungsloses nicht vorhanden sein darf.

Das Ziel bei Herstellung plastischer, szeni-
scher Versatzstücke ist nicht die naturalistische
Täuschung, oder Vortäuschung irgend eines Din-
ges, sondern eine bedeutungsvolle Formung, die
bedeutsame Form zu erreichen.

Auch die Farbe darf keine andere Absicht
mehr haben als charakteristisch, das heisst aus-
drucksvoll zu färben, farbig zu sein. Sie darf
weder Licht noch Schatten sein oder nachah-
men wollen, noch nach gegenständlicher Wir-
kung (etwa als Baum) streben.

Eine organische Verbindung zwischen realen
und nur gemalten Dingen ist unmöglich' — des-
halb sind nur gemalte Dinge überhaupt unmög-
lich.

Niemals kann die Einheitlichkeit der Dar-
stellung dem Publikum gegenüber durch eine
nur illustrierte Äusgestaltung, die „verstanden“
werden will, aufrecht erhalten werden. Das
bleiben lauter Einzelheiten mit nur logischem
Zusammenhang. Allein die organische Ausge-
staltung, das Heraustreiben und Formen von
Innen nach dem Prinzip des Ausdrucks kann
einheitlich und überzeugend wirken als eine un-
unterbrochene Kette physischer Vorgänge, die
durch den Wechsel in der Erscheinung und In-
tensität der Ausdrucksformen gemacht wird.

Je intensiver der Ausdruck sein soll, desto
mehr muss ihm geopfert werden: alles ihm nicht
direkt Dienende schwächt ihn.

Eine moderne Inszenierung muss die Ent-
wicklung des Auges und Ohres des heutigen
Menschen berücksichtigen.

Würde man den Inhalt eines Dramas durch
eine charakteristische Linie ausdrücken können,
so muss eine ebenso charakteristische Linie für
die Darstellung die erste wiedererkennen lassen.
Mehi ist nicht nötig.

Eine Inszenierung, die die Phantasie des
Publikums ausschaltet, (indem sie sie völlig be-
friedigt) ist doktrinär. Nur eine Inszenierung,
die die Phantasie möglichst in Anspruch nimmt
(indem sie nur „anregt“) ist künstlerisch.

Zur Physiologie der
Frivolität

Von Dr. Heinrich Pudor

Kindlichkeit und Frivolität scheinen einander
auszuschliessen; im Knaben- und Mädchenalter
ist Frivolität fasst gar nicht vorhanden, schon
deshalb, weil sie geschlechtliche Be-
wusstheit voraussetzt. Sie kann erst
mit der Mannbarkeit eintreten. Nun können
wir aber beobachten, dass sie desto stärker auf-
tritt, je schneller sich' die Mannbarkeit e r -
s c h ö p f t. Das Wachstum der Frivolität hält
gleichen Schritt mit der zunehmenden Betätigung
des Geschlechtstriebes. Die Frivolität ist etwas
durchaus sekundäres: die Aeusserung des Ge-
schlechtstriebes a posteriori. Schwerlich wird
ein Mann vor der Betätigung des sexuellen
Triebes im Zustande seiner Vollkraft frivol sein.
Frivolität ist dem Kindhaften, der absoluten
Keuschheit kontradiktorisch entgegengesetzt, ins-
besondere auch der relativen Keuschheit. Mit
anderen Worten: die Frivolität nimmt umsomehr
zu, je mehr sich der Mensch dem physischen
Unvermögen nähert. Sie ist das Katzenjammer-
spiel des Geschlechtstriebes. Ihre Aeusserun-
gen entstehen aus dem Bewusstwerden
des beginnenden Unvermögens. Dies trifft we-
nigstens bei jener Frivolität, die als orginale
und logische Aeusserung des menschlichen Or-
ganismus zu nehmen ist, zu, allerdings wird
sie heute ebenso häufig vorgeschauspielert.

Frivolität setzt demnach eine Gefühlslauheit
und Empfindungsabnahme voraus, zum minde-

sten in geschlechtlicher Beziehung. Eine andere
Frage ist es, ob diese geschwächte Gefühls-
wärme bloss das geschlechtliche Gebiet angeht,
ocler ob sie absolut ist; mit anderen Worten:
ob die Minderung oder Vernichtung der sexu-
ellen Kräfte auch Gefühls-Impotenz voraussetzt.
Diese Frage muss bejaht werden; Menschen, die
ihre geschlechtliche Kraft verwüsten, nützen not-
wendig auch ihr gesamtes Empfindungsleben,
ihre Empfindungsfähigkeit ab: Herz, Lunge, Ge-
hirn, Blut, Nerven werden gleichmässig abge-
braucht — allerdings spielen Anlage und Ver-
erbung auch hier eine entscheidende Rolle. Noch
charakteristischer aber als die Empfindungslau-
heit des frivolen Menschen ist seine vollkomme-
ne Bewusstheit des geschlechtlichen Zustandes.
Ist die Ebbe der geschlechtlichen Empfänglich-
keit eingetreten, dann wird das Bewusstsein des
Geschlechtstriebes wach: waS an instinktivem
Gefiihl verloren geht, gewinnt der rüde Ver-
stand: die rein äusserlichen Verstandeskräfte su-
chen den Mangel an Empfänglichkeit, an Ge-
fühlswärme, Keuschheit, Triebkraft zu ersetzen.
So entsteht ein raffiniertes Geschlechtsbewusstsein.
Oder physiologisch ausgedrückt: Im Zustande der
Keuschheit sind alle die tausend Gefässe des
Gehirns mit Blut gesättigt. Wird der Geschlechts-
trieb wach, dann beginnt das Blut im Gehirn
sich zu erhitzen, zu gähren und zieht sich nach
den Körperteilen hin, die in Tätigkeit treten.
Wird nun der Geschlechtstrieb nicht übermässig
ausgeübt, so verbleibt immer noch eine genü-
gende Blutmenge im Gehirn: das Bewusstsein
bleibt umdämmert. Dieser Zustand ist für den
Geschlechtsakt der günstigste, da alsdann die
Umnachtung des höheren Bewusstseins dengan-
zen Menschen in ihm aufgehen lässt. Ist da-
gegen die Vollkraft, die Empfänglichkeit schon
erschöpft, der Geschlechtstrieb schon sehr stark
betätigt worden, so ist der Blutreichtum des Ge-
hirns sehr stark angegriffen; bei jedem neuen
Geschlechtsakt wird dem Gehim aufs Neue Blut
entzogen. Indessen nun das Blut nach den tie-
fer liegenden Teilen des Körpers drängt, tritt
eine relative Blut 1 e e r e im Gehirn ein. Abso-
lute Blutleere würde den Stillstand des Lebens
bedeuten. Dem aber beugt das Leben selbstvor:
das Gehirn, das nur noch soviel Blut bewahrt,
als zur Erhaltung des Lebens nötig ist, gibt
keines mehr ab: so entsteht das sexuelle Un-
vermögen. Kann dagegen noch genügende Säfte-
abfuhr stattfinden, ohne dass das Gehirn sonder-
lich gefährdet wird, so findet der Geschlechts-
akt bei relativ wachem Bewusstsein statt; an die
Stelle der Natürlichkeit tritt geschlechtliche Raf-
finiertheit. Diesem Zustand entspringen in gei-
stiger und seelischer Hinsicht Frivolität und Cy-
nismus.

Wir können aber feststellen, dass Frivolität
und Cynismus Folge-Erscheinungen einer über-
mässigen Betätigung des Geschlechtstriebes sind,
dass sie nur bei zurückgehender Fähigkeit zu
aktiver Geschlechtlichkeit möglich erscheinen, dass
sie in ihrer Entwickelung Schritt halten mit der
relativen Blutarmut im Gehirn, dass sie alsoi
nicht etwa Anzeichen eines Blütezustandes einer
sublimierten Kultur sind, sondem auf Verfall,
Niedergang, Auflösung weisen, mag man das
nun Dekadenz, Degeneration riennen oder sonst-
wie. Ich setze die Kenntnis voraus, dass der
menschliche Zeugungsstoff aus dem menschlichen
Blute bereitet wird und dass das Reservoir für
clie Bereitung dieses Stoffes im Gehirn liegt. Je-
der, der auf sich selber achtet, kann beobachten,
dass der Zustand geschlechtlicher Empfänglich-
keit im Kopf, im Gehirn seinen Ausgang hat.
Das sexuelle Fieber beginnt im Gehirn: der

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