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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 76 (September 1911)
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Lublinski, Samuel: Romantik und Stimmung, [2]
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Wauer, William: Die Theaterkunst
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Scheerbart, Paul: Kapitän Junker auf der Insel Tamuso: eine Seemannsgeschichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0161

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der Wissenschait brauchte sich von seinem Ver-
stand noch nicht ganz und gar aussaugen und
austrocknen zu lassen, und der Dichter hatte
noch nicht im Interesse einer poetischen Idee je-
de Laune und persönliche Einmischung streng
zurückzuhaiten. Vielmehr seine Laune, seine
Stimmung, war gerade sein Gott, und es galt
als Verdienst, wenn er sie in allen Farben schil-
lern liess. Für gewisse unter sich antipodische
Naturen, für die Virtuosen und philosophischen
Herrschergeister, könnte aber die jeweilige Ein-
zelstimmung niemals zu a’lmächtig werden. Die
Stimmung gehorcht eben jeder starken oder auch
nur beweglichen Natur, während die Sachlich-
keit unerbittlich ihre Rechte geltend macht. Und
so war in der Romantik ein Bereich der Frei-
heit, in dern jene eigen'ümliche Ironie von hin-
reissend poetischen Qualitäten gedeihen konnte,
die sich von der Ironie eines Voltaire oder So-
krates so gründlich unterschied. Aber dicht ne-
ben dieser verwegenen Geistigkeit lauerte der Ab-
grund und der Wahnsinn — Zacharias Werner.
Auch hier also ein merkwürdiger Zwiespalt in-
nerhalb der höheren Einheit der Stimmung.

Die höchsten Werke der romantischen Kunst
scheinen freilich von dieser Antithese, die sich
sonst so deutlich verfolgen lässt, völlig frei zu
sein. Wenn sich die Romantik zu höchster sym-
bolischer und mythenschöpferischer Gestaltung
erhebt, wie bei Nietzsche, dann mag es sich
wie müssige Neugierde ausnehmen, in einem
solchen geschlossenen Kunstwerk noch irgend
einen Zwiespalt auszuspähen. Dagegen dürfte
allgemein zugestanden werden, dass auch diese
höchsten Produkte der Romantik lediglich auf
einer Grundstimmung beruhen und nicht auf
einer Einzelheit. Die divina commedia interes-
sier lediglich als Pandämonium und Zarathu-
stras äusseres Schicksal ist das Gleichgültigste
am ganzen Zarathustra. Die romantische Grund-
stimmung ist also voll gewahrt und auch der
Duaiismus ist nicht verschwunden, sondern in
tiefere Gründe hinabgetrieben. Es ist durchaus
der Gegensatz von poetisch und alltäglich, der
sich auftut und durch die Stimmungsfülle iiber-
wunden wird. Von Zarathustra braucht man
nur zu sprechen und jeder fühlt sofort, wie alle
diese Kennzeichen hier zutreffen. Dieses Werk
ist hervorgewachsen aus der Sehnsucht einer
heroischen Seele, die an der Alltäglichkeit er-
stickte. Während ein klassischer oder realisti-
scher Dichter einen solchen Konflikt in humo-
ristischer oder tragischer Manier an einem Ein-
zeischicksal abzuwandeln pflegt, spricht dagegen
dsr Romantiker nur in der Form von allgemei-
nen Stimmungen.

Also die Romantik ist Stimmungskunst, ganz
und gar nur Stimmungskunst. Sie scheint das
ganze Leben zu umklammern, aber sie umwallt
es nur wie etwas, das man leicht wieder ab-
heben kann. Poesie und Leben scheinen in ein-
ander verwachsen zu sein und verspüren doch
vielleicht niemals schmerzlicher ihren tiefinner-
lichen Gegensatz. Nie erscheint der Menschen-
ge'st übermütiger und verzweifelter als im Tau-
melrausch romantischer Stimmungen. Schwache
und suchende Geister zerschellten noch stets an
dieser Poesie der Kontraste. Aber bewegliche
Naturen pflückten von dieser Wiese manchen
reizvollen Strauss, und tiefblickende Phiiosophen-
naturen, die auf eine endgültige Ueberwindung
des Weltdualismus verzichteten, fanden die ge-
waltigsten Symbole für ihren Endlichkeitsschmerz
und ihre Ewigkeitssehnsucht im Lande der Ro-
mantik.

Die Theaterkunst

Von William Wauer

Alle „Sage“- und „Spiel“-Künste (Poesie,
Tanz, Musik, Schauspielkunst) setzen inneres Le-
ben in äus.eres um, in einzelne charakteristi-
sche Erscheinungen, die ihre Kunst gerade her-
ausstellt. Die „bildenden“ Künste geben einen
Moment dieses Lebens als Anschein des Gan-
zen, ein erstarrtes „Bild“. Die Theaterkunst gibt
Lebenserscheinungen in der Form aller Künste.

Wir müssen uns endlich daran gewöhnen,
auch die Theaterkunst formal artistisch zu ge-
niessen und zu beurteilen.

Die Därstellungskunst im Theater darf nichts
wollen als die vollendete Formung ihrer Mit-
tel, sie darf nichts wolien als ausdrucksvolle
Gebärden, Töne, Farben, Linien, Gruppierungen,
Helligkeiten und Dunkelheiten.

Die Bühnenkunst ist eine Kunst für sich.
Ihr Künstler ist der Regisseur. Das Bühnen-
kunstwerk ist etwas anderes als das geschriebe-
ne dramatische Kunstwerk.

Die dramatische Dichtung ist ein selbstän-
diges Kunstwerk. Seine Art ist völlig verschie-
den von dem aufgeführten Drama, in sich ge-
schlossen ohne Aufführung, und nur ohne Auf-
führung: ein Zeitkunstwerk in logischer Form.
Die Aufführung ist ein Raumkunstwerk in op-
tisch-akustischer Form.

Die Bühnenkunst setzt die logische Form
des Dichters- in eine ophsch-akustische um — die
indirekt wirkende in eine direkt wirkende.

Die Bühnenkunst hat es mit Formproblemen
zu tun, wie jede Kunst: mit optischen und aku-
stischen. Literarische Probleme kennt sie nicht.

Die Darstellungskunst wendet sich nicht
wie die Wortkunst des Dichters mittelbar, son-
dern unmittelbar an unsere Sinne. Alles soll
gefühlt: miterlebt werden.

Das heutige Theater zeigt uns das Dicht-
werk als Gaukelspiel. — Wann wird uns eine
Bühnenkunst lehren das Dichtwerk zu erleben?

Heute will die Theaterkunst in ihrer letzten
Absicht noch das dramatische Dichtwerk (als
ob dieses in ihr das Tatsächliche wäre!) Das
ist gerade so, als ob die Bildhauerkunst in letz-
ter Absicht den Menschen, und die Landschafts-
malerei in letzter Absicht die Landschaft wollte.

Das Sujet (der Vorwurf, das Motiv) ist nie
das Tatsächliche in der Kunst, denn es bleibt
stets unwirklich, „Anschein“.

In der Malerei ist der Baum „anscheinend“
durch die koioristische Tatsache (die Wirklich-
keit der Farben) vorhanden — in der Bildhaue-
rei der Mensch „anscheinend“ in der Tatsache
des geformten Steins (in der Formwirklichkeit);
in der' Dichtkunst wird das Ereignis, der Vor-
gang, der Zustand „scheinbar“ in der Tatsache
der Worte (der Wirklichkeit der Schilderung)
lebendig, in der Musik werden Stimmungen und
Affekte „scheinbar“ in der Tatsache der Ton-
wellen (in der Klangwirklichkeit) laut, und in
der Theaterkunst wird das dramatische Dichtwerk
„scheinbar“ vorgehen in der Tatsache der The-
aterkunstmittel (in der Wirklichkeit des „Spiels“).

Die Tatsächlichkeit liegt also in jeder Kunst
in der ihr eigenen Form, im geformten Materi-
al. In der Formung „erkennt“ man das Sujet,
weil es „scheinbar“ wird. Alle Kunst schafft
nur „Andeutungen“ (Symbole) und es genügt
zum Genuss und Verständnis, wenn wir sie e r-
k e n n e n , wieder erkennen (selbst in uns frem-
dester, ja befremdenster Form!)

Wir haben nur Macht über Tatsächliches,
Wirkliches. Auch als Künstler. Also hat auch

nur em künstlerisches Streben Sinn, das Tat-
sachen und Wirklichkeiten formen will und formt.
Es hat also keinen Sinn, einer naturalistischen
Scheinbarkeit des Motivs nachzujagen.

Die Bühne ist das Schaufenster für die Tat-
sächlichkeiten und Wirklichkeiten des Lebens und
Erlebens.

Es ist ein begreiflicher Wunsch, dass wir
auf der Biihne immer neue und immer bes'ech-
lichere Dinge vorgeführt haben wollen. Wir wol-
len unser Leben in seinen Reizen bereichern
und erhöhen.

Ein inneres Gewitter zur Entladung zu brin-
gen, grosse innere Spannungen zu schaffen und
auszulösen, das ist die Aufgabe der Theater-
kunst insbesondere. Das wussten schon die alten
Griechen. Nimmt man dem Theater diese Auf-
gabe, verliert es Emst und Achtbarkeit.

Unsere Abneigung gegen „Feierlichkeit“, ge-
gen Pathos und Pose rnachte uns naturalistisch.
Darum aber jeder Feier abhold werden, heisst
das Wesentliche unüberlegt dem Unwesentlichen
aufopfern.

Jedes Kunstwerk muss so weit naturalitisch
sein, — und ist es — als es organisch ist: er-
zeugt nach dem Lebensgesetz des Wachsens,
nicht konstruiert oder komponiert nach techni-
schen Prinzipien.

Sinnvoll zusammengestellte Instrumente, sinn-
voll gelei'et zu einem gemeinsamen künstlerischen
Zweck, nennt man ein Orchester, ein Ensemble
von Schauspielern verbunden zu einem Darstel-
lungszweck ist nicht das Gleiche?

Der grosse Aussenschein ist nie das Ziel
der Kunst.

Leben und Bewegung ist in der Kunst das-
selbe.

Die Handlung ist das Rückgrat des Dramas
— die latente Stimmung die Seele. Das klingen-
de Wort das Fleisch. Der Dialog der Geist.
Seelenlose, geistlose Gesellen sind immerhin er-
tragbar, rückgratlose aber stets Krüppel. Was
soll mit ihnen eine Darstellungs kunst?

Kapitän Junker auf
der Insel Tamuso

Eine Seemannsgeschichte von Paul Scheerbart

Der Kapitän Junker aus Bremen bes-uchte
mich neulich. Pünktlich um zehn Uhr vonnit-
tags kam er an; er hatte mir eine Karte ge-
schrieben, auf der er mir mitteilte, dass er zu
einer andern Zeit nicht kommen könnte. Der
Kapitän ist sehr gross, hat langen weissen Voll-
bart ohne Schnurrbart, Ohrringe und furchtbar
grosse braune Hände. Sehr breit ist dieser Mi-
ster Junker, stark, schwer — einfach massiv.
Er hört es gern, wenn man ihn Mister Junker
nennt. Er macht keineswegs einen geistig reg-
samen Eindruck. Und das erhölr die Glaub-
würdigkeit seiner schier unglaublichen Erzählung
ungemein. Nach meiner festen Ueberzeugung ist
das, was er mir mitteilte, nicht in seinem Kopfe
entstanden; er hat das alles tatsächlich erlebt.

Eine etwas umständliche Einleitung.

Aber ich werde jetzt gleich das Wesentliche
vorbringen. Ich bat den Kapitän, mir sein
Abenteuer so kurz wie möglich zu erzählen,
und er sagte langnam — in seiner etwas schwer-
fälligen Art.

„lch fuhr im vorigen Jahre durch die Süd-
see. Meine Leute machten, wie das da unten
immer noch sehr häufig vorkommt, Rebellion,

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