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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 2.1911-1912

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Nr. 66 (Juni 1911)
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Adler, Joseph: Die vier Toten derFiametta: die Quittung
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Koch, Hermann: y x Ex=Nx=z=Nz/Dx
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https://doi.org/10.11588/diglit.31771#0081

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Die Presse steht auf dem toten Standpunkt,
daß ein Mensch, der ihre käuflichen Hebammen-
dienste niclit erbuhlt, nichts Lebensfähiges schaffen
könne. Hier hat sie, die überall Pate steht, Ächon
ein Kind fallen lassen, weil „sein Erzeuger“ ihr
die Windeln, aus denen sie nicht herauswächst,
im „Sturm“ beständig um die Ohren peitscht.

Und dumm und unklug hat die Presse Waldens
Werk mit einem solchen Uebermaß von Geifer
bespritzt, daß selbst jene, die vom Kampfe des
„Sturms“ gegen den ewigen Gifthauch Journa-
lismus nichts ahnen, das Rachewerk erkennen
müssen.

Rudolf Lothar, wurde „die barock grausame
Geschichte durch die Musik, die Walden dazu
komponiert hat“, empfindlich gestört. Diese Mu-
sik, stellt er fest,

„schwankt zwischen aufgeblasener Trivialität und
betulicher Originalitätshascherei in lärmendem
Zickzack hin und her. Dieser blutige Dilettantis-
mus ist noch viel grauenhafter als das Sdiicksal
der armen drei Liebhaber!

Aber sicherlich nicht grauenhafter als alle Werke
Lothars. Dieser erbärmliche Feuilletonist, der von
Libretto zu Libretto immer tiefer und unerträglicher
abfällt, sieht blutigen Dilettantismus zwischenTri-
vialität und Originalitätshascherei im Zick-Zack-
schwanken, wo ein genialer Blitz in das Dunkel
der trägen, geist- und formlosen Schablone fährt,
nach der heute alle Musik gemacht wird.

Lothar ist auch kein Musikkritiker. Aber imrner-
hin ist für ihn Waldens Komposition Musik, was
sie für Johannes Döbber nicht ist. Er hat es
wenigstens nicht erhören können. Dieser Johannes
hat der sadistischen Salome Theaterkritik seine
Ohren selbst geopfert, um nicht etwas kaufen zu
müssen, das dem Dogma der aligemein modernen,
leichtverständlichen und beliebten Schmalzmusik
zuwiderläuft und von denen sich überhaupt „jedes
normal gebildete Ohr mit Schrecken und Entsetzen
abwenden muß“. Nur keineTraurigkeit aufkommen
lassen, so denkt Kollege Lusztig und das Wich-
tigste ist für ihn die „Kiste“, die Truhe nämlich,
in der die drei Liebhaber der Fiametta ersticken
müssen. Und weil sich Fiamettas Gatte, um seine
drei Rivalen zu töten, auf der Truhe wälzt, setzt
sich Walden auf Beethoven und erstickt ihn. Den
armen Beethoven! Das macht er im Konzertsaal.
Im Theater hat seine Musik nur erst eine Panto-
mime erwürgt, „so wie der betrunkene Bettler
die drei Liebhaber der Fiametta erdrosselte.“ Die
Trunkenheit hatte Urban mit dem Bettler gemein.
Er ist über „den brutalen Schrei der starknervigen
Renaissance“ hingefallen. Der Bettler erdrosselt
die Leichen der drei Liebhaber ganz gewiß nicht.
Das wäre so von Ueberfluß, wie es „die Musik
ist, die Walden zu der Pantomime machen ließ.“
Nach der Meinung des Thealerreferenten der
„Deutschen Tageszeitung“. Dieser Herr leitete
seine Kritik so ein:

Wenn die Linden abgebliiht haben und die
jungen Schwalben anfangen, von der Scheune
zur Teppidistange hiniiberzufliegen, kommen
mit ebenso großer Sidierheit wie die ersten
neuen Kartoffeln die Heldentaten der Berliner
Sommerdirektoren. Ihr Mut Ist unbesiegbar,
mit dem sie alle fahre von neuem das Geld fiir
ihren Ruhm aufbringen.

Das Schmarotzergewächs der Dummheit kann
niemals abblühen, und es könnten drei Liebhaber
an dem Staub der Gemeinheit ersticken, der aus
den Leib eines Berliner Theaterkritikers zu klopfen,
ein betrogener Pierrot ihnen zur Strafe auferlegen
würde. Und da sich der Kritiker M. W. schon

einmal in Vergleiche zwischen den Betrieb derNatur
im Frühjahr und den Mut der Sommerdirektoren
rettungslos verloren hat, nennt er die Musik
zur „Verwandelten Katze“ Blätterrauschen und
Herdengeläute und die Walden’sche Backfisch-
geläute.

Und dieses Backfischgeläute soll „mißver-
standener Richard Strauß sein“. Wie wenig tief
muß die Strauß’sche Musik sein, wenn sie schon
Landau begriffen hat. Welches Wagnis bleibt es
darum auch von Walden, eine Musik zu schreiben,
„die in grellen Harmonien und rythmischen Zu-
mutungea schweigt.

Solches bleibt blutiger Dilettantismus, ein uni-
versales Schweißtreibe-Mittel, unerträgliches Ge-
räusch und vieles andere Grauenvolle mehr, wenn
man die Presse nicht (wie Richard Strauß) zur
willigen Freundin hat, wenn man sich diese tyran-
nische Großmacht nicht sklavisch hündisch dienst-
bar macht, wenn man die Lehrer dieser Schule der
Verdummung, die vom Denken dispensiert, (ich
zitire Flaubert) verprügelt, wenn man sich diese
Hure vom Leibe hält, um nicht an einer unheil-
baren Syphilis des Geschmackes zu verrecken. —

Noch eins. Möge das Neivensystem Urbans,
das durch die Waldensche Musik so gründlich
zerstört wurde, sich bald wieder erholen, damit
er für das Weihnachtsgeschäft der Firma Ullstein,
in deren Diensten er sich schon als Doktor durch
die Herausgabe eines Kochbuches einen Ruf als
Musikkritiker erworben hat, seinen ganzen Mann
stellen kann. Joseph Adfer

y x Ex-

Nx * z = Nz

Dx

Von Hermann Koch

„Aberr RrruheU Man versteht ja kein Wort! --
Sie - zeichnen Sie nicht! - Groß E, Ypsilon,
Strich Zet - -“ und das ging so fort, unaufhörlich,
und durch das graue Dämmerlicht, das durch die
trübe Milchscheibe brach, sah man auf der staubig
grauen Tafel weiße Hieroglyphenendlose Reihen. —

-Den roten Bart strich sicli der Herr

Professor, mephistophelisch glänzten vor Be-
geisterung seine grünen Augen und der weite
Mund spie einen neuen Strom mathematischen
Schwefels -: „ - - das ist weiter gleich Bruch-
strich - -“

-Es war wundervoll!! - - Rückwärts

kopierte ein genialer Komiker die ehrwlirdige
Stimme des Herrn Direktors: „Schiehler der
Aaemie vier a - -“ „Schiehler der Aaemie. - -“
Diese Imitation hörte er noch und wie durch
dicke Wände hindurch noch ein paar N und D,
dann wurdf* es still — und stiller um ihn her, das
Gesumme hörte auf, dunkel umfing ihn und blau-

schwarze Finsternis.-

-Er durchquerte unermeßliche Strecken. —

In eine fremde Stadt war er angekommen. -
Die Gasse die vor ihm lag war winklig und eng,
mit holprigen großen Steinen übersäet und darüber

lag grau ein Strich Himmel.-Ein enges,

leuchtend weißes Haus stand da. - - Ueber einer
grauen, rosttiberzogenen Eisentüre war ein Schild
mit blutroten Lettern:

Dr. DARASCHE-KOH

-Dies war sein Ziel, er ftihlte es und

suchte nach einer Klinke, nach einer Glocke oder

nach einem Klopfer-Nichts!!-Er hieb

auf die Tür los, keuchend mühte er sich ab, diese

rostzerfressene Türe zu öffnen-und - er er-

staunte gar nicht, als sie es durch eigene Kraft
tat.-

-Und er trat ein! Mit einem dumpfen

Krach flog die Tür ins Schloß-- -

Eine dicke Finsternis, eine stickige Luft schlug

ihm entgegen.-Ernst stand er da, schwarzes,

klumpiges Dunkel vor seinen Augen; aber er

zögerte nicht, in ihm drängte es vorwärts-

und er tastete sich den schmalen Gang entlang. —
Der Weg ging merkwürdig abwärts. - Ihn trieb
es weiter, weiter, ohne daß er sein Ziel wußte
oder ahnte.

-Er bemerkte nun, daß der Gang, in dem

er sich befand, glatt und schlüpfrig wurde, daß
die Gefahr zu sttirzen jeden Augenblick größer
wurde.-

Und er stürzte!-Er glitt aus, polterte

eine Strecke im Dunkel abwärts und mit seiner
Hand, die er vorstreckte, berührte er eine klebrige
warme Flüssigkeit.-

-Weiter tastete er sich, stieg in Lachen.-

-Von den Wänden tropft es nun und von

der Decke-aufdringlich bemerkbar macht

sich der durchdringende Geruch der stickig-ge-
sättigte Luft und da erwacht in ihm die Gewißheit,

daß dies, was er hier fühlt, riecht, dies alles-

Blut, warmes tierisches-menschliches Blut ist.-

Der Gang machte nun eineWendung und wurde

tioch enger, ganz eng. Er zwang sich durch-

da kam er mit nassen, schleimigen Strängen in
Berührung. - - Ekel stieg in ihm auf, er wich
zurück, - da aber von allen Seiten, überall dieselbe

schleimig-kalten Schnüre-Zuckende, runde

Körper hingen an den Strängen. - - Und all dies
eklige Zeug schien sich plötzlich in algebraiische
Ziffern zu verwandeln. A’s und C’s, N’s und X’s
dienten als Wandverkleidung, bildeten Ornamente
in Kolo Moserscher Manier und dann legten sie

sicli um seinen Hals.-Als er einmal danach

griff, fühlte er einen warmen, runden Körper, der
in seiner Hand rhythmisch klopfte - es war wie - -
ein menschliches Herz.-

-Und dann erweiterte sich der Gang und

es wurde zunehmend heller! Da, er konnte es
nicht begreifen, aber er hörte es deutlich, ein
langgezogenes Heulen, ein entferntes Wimmerm, -
das plötzlich wieder abbrach.-

-Es kam so überraschend in der be-

klemmenden Stille dieser grauenhaften Räume!!
So plötzlich wieder verschlang eine mystische

Macht die gräßlichen Töne!-Jetzt herrschte

eine Stille, in der er nicht einmal seinen Atem hörte,
nichts, als das Sausen der erdfernen Stille.

Stöhnend kroch er weiter, zwang sich durch
den schmalen, höhlartigen Gang, unter seinen
tastenden Fingern löste sich ein morscher kalter
Stein, er hörte nicht den Schall eines Falles, nichts,
als hätte sich der Stein in der Luftmasse auf-
gelöst-

Längere Zeit ging er nun weiter, er ging

unter der Macht eines fremden Etwas-da,

eine grüne, fluoreszierendeLichterscheinung umgab
ihn - und er sah, daß er in ein rundes Gemach
getreten war.-

Erst jetzt konnte er die ihn umgebenden Dinge
sehen.-

Das Gemach war leer, fast leer, nur an den
Wänden sah er Gestelle, auf denen rote Gebilde
hingen. - Eine mit Grauen vermischte Neugier zog
ihn dort hin.-

Da sah er ein menschliches Herz, eine Lunge,
eine Luftröhre durch Muskelstränge verbunden. —
Er hatte nicht Zeit alles zu betrachten.-Eine

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