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Mannheimer Anzeiger — 1858

DOI Kapitel:
Nr. 260 – Nr. 284 (1. November – 30. November)
DOI Kapitel:
Nr. 262
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Erschewt, Montag» auSgenom- Auzeigru werden in dem „Mann-
Rr. 262 Donnerstag, 4. November 1838.
haltungSblatte vterteljährl. I st. die gewöhnl.Zetle berechn, mit Tkr.


Auf den „Mannheimer Anzeiger" > um die Welt

AUs oen „rvcannyermer Anzeiger "
und das „Unterhaltungsblatt" kann man
sich noch für hje Monate November und
Dezember mit 40 Kreuzern abonniren, bei den Postanüal-
ten, den Boten der Umgegend, den Trägern in der Stadt und
der Expedition, Lit. X 2 Nr. 9 in Mannheim.

Die Zukunft des Handwerks
«.Fortsetzung und Schluß deS Artikels l.)
Auf die nachtheiligen Wirkungen der einzelnen Stadien,
welche ein Gewerbtreibender zu durchlaufen hat, wird näher em-
gegangen- Der Lehrzwang macht dem Vater die Berücksichtig-
ung individueller Verhältnisse, wie Fähigkeiten und Mittel seines
Sohnes, unmöglich. Vielfach ist der Meister nur noch Reparirer
oder Verkäufer von Fabrikwaaren, so bei Juwelieren, Drechslern,
Zinngießern, Schlossern u. s. w. Da ist es doch Zeitverschwen-
dung , bei einem solchen Meister drei, vier, fünf Lehrlingsjahre
zuzubringen, weniger als Schüler, denn als Laufjunge und er-
niedrigter Dienstbote. Das Privilegium der Glajerzunft begreift
das Einsetzen von Fensterscheiben, weiter nichts. Gleichwohl muß
jeder Lehrling dieser einfachen Hauthierung vier Jahre leruen und
sodann als Geselle drei Jahre wandern, anstatt diese Beschäfti-
gung in ein paar Wochen zu lernen. Wie viele Verluste erlei-
det nicht die deutsche Dolkswirthschaft durch die Millionen ver-
träumter Lehrlingsjahre! Weder die Landwüthschaft noch der
kaufmännische Betrieb kennen einen Lehrzwang; warum allein
das Handwerk in diese enge und unnütze Bahn drängen? Das
gleiche gilt von dem Wanderzwang und dem Gesellenwesen- In
unserer reisefertigen Zeit ist ein Wandergebot unnölhig; durch
den noch bestehenden Zwang wird der junge Mann zu einem
unterschiedslosen Herumziehen, zu einem Anfsuchen bedenklicher
Herbergen genöthigt. Erfahrungömäßig b.trägt den Wanderbü-
chern zufolge die wirkliche Arbeitszeit in mehreren Wanderjahren
manchmal wenige Wochen. Ein" guter Theil der Mißachtung
des Handwerks datirt von dem Auftreten der wandernden Hand-
werksbursche; ebenso zerstört es die Selbstachtung nach dem
Spruch„Wer's Wanderbuch durch Deutschland trug, von
Schmach und Trug litt er mehr als genug!" Die Meisterprü-
fungen endlich sind anerkannt zwecklos, sind kostspielig, geben zu
Chicanen Veranlassung, bieten keine Garantie für die Fortbil-
dung und die moralische Haltung des Geprüften, und die prüfenden
Meister werden das Gelangen zur Meisterschaft gerade bei den
tüchtigsten Gesellen in der Regel am meisten erschweren. Niemand
verlangt eine Prüfung von dem großen Landwirts), dem Fabri-
kanten, welcher Tausende von Arbeitern beschäftigt, und durch
eine gute oder schlechte Beschaffenheit seiner Maaren, z. B. der
Lokomotiven oder Eisenbahnwagen, das Leben von Tausenden in
ferner Hand hat.
Das Zunftwesen, wenn unverändert sortbestehend, hätte gar
kein Fabrikwesen aufkommen lassen, die Regierungen sahen sich
daher genöthigt, durch Concessionen das alte System zu durch-
brechen. Aber diese Aushülfe ist bedenklich, sie beruht auf der
Voraussetzung einer allwissenden Behörde. Wie schwer ist es
heutzutage mit dem Gang auch nur eines einzigen Geschäfts voll-
kommen vertraut zu sein, geschweige denn mit dem Bedürfniß
unseres ganzen Gewerbslebens! Mit einer großen Last würde
sich die Behörde eine große Verantwortlichkeit aufladen, und durch
Genehmigung oder Abweisung in jedem Fall sich Feinde machen.
Wer die bereits allzugroße Reibungsfläche zwischen Bürger und
Regierung für gefährlich erkannt hat, wird sich gegen das Con-
ceffwnSwesen erklären müssen.
Wenn die Analogie anderer Völker solche Fraget! überhaupt
entscheiden könnte, würde die Gewerbefreiheit längst die Runde

gemacht haben- Sobald Handel, Verkehr und Bil-
dung eine gewisse Höhe ersteigen, müssen sie mit dem einengenden
Zunftwesen in einen Kampf gerathen, welcher noch jedesmal mit
dem Sieg der Gewerbefreiheit endigte- In monarchischen wie
in republikanischen Staaten, unter den confervativsten Völkern, in
Holland und England, finden wir dasselbe Resultat. Belgien
und Amerika, Frankreich, die Schweiz, Schweden und Dänemark
besitzen Freiheit des Erwerbslebens, um sich dieselbe nie mehr
entziehen zu lassen. Das Gute wenigstens hatte die schreckliche
Revolution Frankreichs, daß sie den Franzosen die Gewerbefrei-
heit brachte, und eben vermöge dieser Freiheit, dieser völligen
Abwesenheit von Chieane, zieht Frankreich fortwährend einen gro-
ßen Theil unserer besten Arbeitskräfte zu sich hinüber. Die Fran-
zosen, auf welche wir manchmal jetzt herabsehen, sind dennoch
nicht thöricht genug, zu Gunsten eines privilegirten Standes, die
werthvollsten Mitschöpfer des Nationalreichthums über ihreGrenze
ins Ausland zu drängen. In England ist die Gewerbefreiheit
der Hauptsache nach schon eine ziemlich alte Errungenschaft.
Hand in Hand mit ihr geht natürlich die völlige Freiheit der
Niederlassung. „Unter dem System freien Erwerbs und freier
Ansiedlung ist England, dessen Concurrenz wir überall im Welt-
verkehr begegnen, zur Wohnstatt der reichsten und thätigsten Be-
völkerung geworden, der Unternehmungsgeist und die Thatkraft
aller Nationen walten dort in schöpferischer Fülle und treiben
immer neues Blut in die Adern des staatlichen Organismus.
Jeder späht emsig nach immer neuem Erwerb. Jeder muß den-
ken, entwerfen, erfinden, versuchen- Eine Kraft reibt sich an der
andern und arbeitet der andern in die Hände- Das Land heißt
jeden willkommen, der dort etwas verdienen will, und es thut
wohl daran, immer von der menschenwürdigen Vermuthung aus-
zugehen: daß bis zum Beweise des Gegenlheils jeder Ankömm-
ling ein guter und brauchbarer Mensch sei, der dem Land ein
neues Kapital zuführt, bestände dasselbe auch nur in seiner Ar-
beitskraft und in seinem Menschenverstand. Der Engländer hat
ein treffliches Sprichwort: „ein armer Mann steckt so voll von
Planen, wie ein Ei voll von Nahrung;" keiner wird daher im
voraus besteuert wegen seiner Niederlassung oder Etablirung an
einem Ort, sondern bezahlt seine Taxe nach dem was er verdient
oder konsumirt, wie er wohnt und welchen Umfang sein Geschäft
hat." Der Verfasser findet einen Grund der hervorragenden
Leistungen der englischen und amerikanischen Arbeitskraft in der
völligen Freiheit des dortigen Erwerbslebens; er zeigt uns den
Ungeheuern Ausschwung des Handels dieser Länder und tritt dem
fast unausrottbaren Vorurtheil, daß in England kein Mittelstand,
sondern nur „Arm und Reich" eristire, mit Zahlen entgegen-
Von politischer Bedeutung ist die Thatsache, daß zwei jener
kleinen Nachbarn, welche an dem großen Staatenkörper Deutsch-
lands saugen, daß Sardinien und Dänemark zur Gewerbefrei-
heit übergingen, und dadurch ihre Macht sicherlich mehr stärkten,
als durch die Aufstellung eines Kriegsheeres. Erstere Maßregel
nährt, letztere zehrt; warum säumen wir, ihnen nachzuahmen?
Warum säumt namentlich Oesterreich mit der Ausführung jenes
Entwurfes von 1855, welcher in ganz Deutschland eine so ver-
diente Popularität fand? Warum sind die italienischen Provin-
zen mit der Gabe der Gewerbefreiheit begünstigt, während noch
gerade die deutschen Kronlande gleichsam im dicksten Leim des
Zunftwesens voranschwimmen sollen? Wir sollten um so weni-
ger zögern, da unsere Erfahrungen in Deutschland selber zu Gun-
sten der Gewerbefreiheit reden Wo finden wir in Deutschland
die regsamsten und geschicktesten Handwerker? Unserer Meinung
nach in Mainz und in jenen rheinischen Gegenden, wo seit der
Franzofenzeit keine Zünfte mehr bestanden. Als im Jahre 1848
die Handwerker in Frankfurt zusammenkamen mit dem Losungs-
wort- „Freiheit für Alle, aber Schutz für mich," als sie sich für
 
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