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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 27.1912/​1913

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1. Heft
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Wohlbrück, Olga: Der eiserne Ring, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.31170#0008

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moderne kunst.

MODERNE KUNST.

cT

t)er eiserne 'Hing.

Von Olga Wohlbrück.

n der Wohnung der verwitweten Frau Geheimen Regierungsrat
Delfert roch es nach warmem Haar und verbranntem Papier.
Dora und Ulrike huschten in weißen Nachtjacken und „Wickeln“
aus ihrem gemeinschaftlichen Zimmer bald zur Mutter herein, die noch
rasch eine weiße Spitzenkrause in ihr violettseidenes Kleid einnähte,
bald über den ziemlich breiten Korridor in den dunklen Speisesaal, wo
ein Tafeldecker und das Hausmädchen um den lang ausgezogenen Tisch
bemüht waren.

Alles Familiensilber war aufgestellt worden — von dem Patenbecher
der Mutter bis zur schönen Jardiniere, die die Eltern zu ihrem silbernen
Hochzeitstag erhaltcn hatten, und die jetzt, mit schwer duftenden Mimosen-
zweigen gefüllt, die Mitte der Tafel einnahm.

Die Schwestern verteilten die Kärtchen mit den Namen. Sie hatten
mehr sorgenvolle als frcudige Gesichter, und wenn das hüpfende Licht
der Gasflamme über dic Züge der älteren, Ulrike, huschte, sah man,
daß sich cine tiefe und schmerzvolle Falte über der Nasenwurzcl einge-
graben hatte.

„Ich denke, nun ist bald alles in Ordnung,“ sagte sie.

Sie sprach gedämpft, ein wenig klagend, wie jemand, der durch nichts
von cinem innercn Leid abgelenkt werden kann.

Copyright 1912 bv Rich. Bong.

„Ich will jetzt Mama bei der Toilette helfen. Unterdessen machst
du dich fertig, Dorchen. Es wäre immerhin möglich, daß er früher käme.
Da muß jemand da sein, um ihn zu empfangen.“

Der Lohndiener und das Mädchen hatten das Zimmer verlassen. D |C
Schwestern standen einander gegenüber, rückten beide ganz mechanisch
an den Bestecken, den Gläsern.

Sie waren beide groß und von jener irritierenden Ähnlichkeit, die
keinen Gedanken an geistige Differenziertheit aufkommen läßt.

Wenn man zu einer von ihnen sprach, hatte man das Gefühl, es
beiden gesagt zu haben.

Das „ ich “ aus ihrem Munde klang beinahe anmaßcnd. Sie sagten
auch meist „wir“.

Meinten mit diesem „wir“ nicht nur sich selbst, sondern auch die
Mutter, das Haus als Ganzes und sogar die weitverzweigte Delfertsche
Familie, die in der Hierarchie des Beamtenstandes eine angesehene
Stellung einnahm.

Eine kurze Zeit hindurch hatte Dora „ich“ gesagt. Vier, fünf Monate
lang — vor etwa neun Jahren. Es war in ihrer kurzen, ersten Brautzeit
gewesen.

Eine tragische und abscheulich lächerliche Geschichte.

Die Tafel war gedeckt wie heute. Nur Maiglöckchen dufteten in der
^diniere statt der gelben Blüten. Neben ihr hatte ihr Verlobter gcsesscn,
^ er bildhübsche Kavallerieleutnant von Redwitz. Kein Geld, aber allererste
amilie und — Zukunft. Kriegsgerichtsrat Delfert hatte sich bereit erldärt,
^ te Kaution zu stellen. Die übrigen kinderlosen Familienmitglieder waren
Gbereingekommen, die Wohnungseinrichtung zu schenken, und die
Geheimrätin durfte daher an eine Ausstattung denken „wie für eine
Prinzessin“.

Vierzehn Tage nach der Verlobung wurde der junge Offizier nach
Südafrika abkommandiert. Liebesschwüre, Abschiecl, Liebesbriefe . . .

Während eines Scharmützels trug er eine nicht ungefährliche Ver-
'undung davon. Typhus kam dazu. Dora verzweifelte. Benahm sich
bat nicht wie eine junge Dame aus feinem Hause. Die Geheimrätin
sP rach von „kalten Duschen“.

Man hatte kein Verständnis für heftige Gefühlsausbrüche im Delfert-
St hen Ilause. Und plötzlich die Nachricht: Redwitz mußte den Abschied
nehmen. Dauernd untauglich.

Eie Geheimrätin schrieb ihm, daß unter diesen Umständen an eine
Verbindung mit Dora nicht zu denken wäre. Familienrücksichten ließen es
nicht zu, daß Dora die soziale Leiter herunterstiege — die Frau eines
einagenten oder Versicherungsbeamten würde. Es wäre sehr schmerz-
^eh, aber er müßte begreifen . . .

Er begriff alles. Merkwürdig rasch und gründlich. Er gab Dora ihr
^ort zurück in wenigen knappcn Zeilen, die Dora nicht lesen konnte,
'teil sie an einem Nervenfieber danieder lag.

Ulrike pflegte die Schwester mit Aufopferung, begriff aber den
Bruder nicht, der schmalbrüstig und blaß am Mittagstische saß und er-
klärte, auch als Weinreisender könne man ein anständiger Kerl sein
und er könne nicht verstehen, daß die Familie eher zwei Menschen un-
glücklich mache, als Vorurteile abstreife, die wirklich sinnlos wären in
der heutigen Zeit.

T homas war damals vierundzwanzig Jahre alt. Mit einem „du bist
kindisch“ ging die Mutter über seine Worte hinweg. Und schließlich
kam auch wirklich alles ins rechte Gleis.

Dora wurde gesund. Man sah sie wieder auf den Vereinsbällen, bei
den Familiengesellschaften und an Abonnementsabenden mit Ulrike oder
der Mutter im Schauspielhaus.

Eines Abends hatte sich Thomas, der die Schwestern abzuholen
pflegte, verspätet, und die jungen Mädchen sahen sich ängstlich nacli
ihm um.

„Verzeihung . . .“

Dora zuckte zusammen beim Klange der Stimme.

Ein Herr — offenbar ein Offizier in Zivil — hatte sie gestreift. Eine
bildhübsche junge Dame in kostbarem Seidenumhange schritt an seiner
Seite und sah lachend zu ihm auf. Das Paar wartete einige Augen-
blicke unter dem Glasdach und stieg dann in ein elegantes Auto, hinter
dessen geschliffenen Spiegelscheiben ein blühender Rosenstrauß unter
dem rieselnden Lichte der elektrischen Birne leuchtete.

Dora war weiß geworden bis in die Lippen.

„War das nicht? . . . .“
 
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