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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 27.1912/​1913

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Barchan, Paul: Sterne des russischen Balletts
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https://doi.org/10.11588/diglit.31170#0018

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MODERNE KUNST.

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terne des

rassischen ßalletts.

Tamara Karssawi
Tschajkowskis

l etzt, da die Trefilowa und die Pawlowa die Marienbühne
verlassen haben, und die Krzessinska nur noch als Gast
auftritt, liegt das ganze Repertoire des Balletts (wenn
man von einer Tänzerin so sagen darf) auf den Schultern
der Tamara Karssawina. Und unter dieser Verant-
wortlichkeit hat sie sich merkwtirdig rasch und gut ent-
wickelt. Sie hatte keinen leic'nten Stand, denn es galt, all
die augenfälligen Qualitäten der Rivalinnen vergessen zu
machen: die künstlerische Präzision der Pawlowa, die
mozartdurchgeistigte Lieblichkeit und Grazie der Trefilowa,
der Krzessinska sinnlichen Reiz und deren bis jetzt uner-
reichtes technisches Können. Aber bald ist doch der Cha-
rakter dieser jungen Tänzerin dem Petersburger Publikum
aufgegangen. Die Ballettgemeinde gruppierte sich um sie,
man gewann sie lieb, und der rauschende Erfolg in Paris und
London hat sie fast im Handumdrehen in eine Reihe mit diesen
großen Tänzerinnen gestellt. Zuerst fällt ihre wirkliche Schön-
heit auf, eine Schönheit, die man an Ballerinen gar nicht gewöhnt
ist. Trotz ihrer feingeschniltenen Züge, die man pikant nennen

könnte, und trotz
ihrer, ich möchte
sagen, kalligraphi-
schen Brünettheit,

(ihre Großmutter war Griechin) hat
ihre Schönheit etwas Kindliches,
nicht Erdhaftes, von jener durch-
sichtigen und beinahe unpersön-
lichen Art, die rührt, entwaffnet
und die Freude an der Naivität er-
wachen macht. Trotz ihrer fein
akzentuierten, ausgeprägten Glied-
maßen verbreitet sie einen weichen,
iieblichen Zauber . . . Und darauf
beruht auch die Schönheit ihres
Tanzes, der man bald erliegt.
So gar nichts vom Bühnenstern,
vom Star, nichts Primaballerinen-
haftes. Mit einer feinen Bildung
und Intelligenz ausgestattet, ist sie
als erste in Fokins Lager überge-
gangen, hat sich als starke Stütze
in der neuen Tanzkunst erwiesen
und dabei noch unermüdlich in
der Reinheit des klassischenTanzes
vervollkommnet. Sie hat den Reiz
der Intimität, und daher muß man
sich erst an sie gewöhnen. Ja,
man kann sie vielleicht nicht einmal
so richtig Ballettänzerin nennen.
Sie brilliert nicht, sie hält nicht in Alem, sie hat keine
Akzente — sie ist fein, empfindsam, zart und leicht
und hat etwas von der Märchenstimmung: Tänzerin.

Sie erobert sich die Herzen; nicht wie die Pawlowa
im Sturm den Sinn, nicht wie die Krzessinska die
widerstrebenden Sinne. Denn ihr Tanz ist intim, zart
und perlend, voller Grazie, Süße und Reine.

* *

*

Als Nizinski (spr. Nishinski) vor Jahr und Tag
in Paris erstlich erschien, wurde er sogleich als der
„kühne Springer“ berühmt und abgestempelt. Wie
er mit der ganzen Trotzigkeit seiner Natur mit einem
Satz aus der Kulisse im Diagonalsprung, allen Gesetzen
schier hohnsprechend, mitten auf die Bühne hinein-
platzte, raubtierartig, ein Fabelwesen, schreckte er,
benahm er den Atem. Jetzt, da man sich daran ge-
wöhnt, kommt man erst zur richtigen Freude an der
besseren Schönheit seiner Kunst. Wie er in „Kleo-
patra“ vor seiner sich grausig gebärdenden Herrin
den Rücken beugt, um sie zu geleiten, in einer all-
hündischen Geducktheit, ist er ganz das Sklaventum.

Und wie er über die ganze Bühne in zwei Sätzen,
wie stahlgefedert, springend schnellt, ist es die stolze
Freiheitssehnsucht des geknebelten Prinzen einer an-
deren Zone, der hier als Pharaonensklave gebändigt

ist. Und wie er dann im Schleiergetändel, mit der Lieblings-
sklavin in verhaltener Brünstigkeit spielend, säuselnd hin-
und herhuscht, ist es das edle Werben des Knaben aus
andern Himmelsstrichen, der angesichts seiner Gebieterin
huldigt; dann im Taumel orgiastischen Chortanzes ein Er-
starren auf einem Bein nach einem Sprung — eine Drohung,
trotzig, selbstbewußt; und bald wieder der hütende, all-
gegenwärtige Sklave, umsichtig und treu, der seine Arme
vor der Bahre der Königstochter streckt. Und ein anderes
Spiel: der „Kobold“ von Grieg; das unbändige, ungeduldige,
schillernde Wesen, aus Laune und Tücke, drohend und
lauernd, aus Sehnen und Nerven von Stahl, bald unterirdisch,
bald flammend, bald zu einem herrlich plastischen Knäuel
zusammengeduckt, bald mit den Armen wie ein Feuerrad
fuchtelnd . . . ,Und dann der Edelste der Edlen unter den
„Sylphiden“; von . Chopins formgezähmter Leidenschaftlichkeit
und großgestiger Schw.ärmerei, in Sämt und Seide und Spitzen,
vornehm knabenhaft, nachtwandelnd verliebt, in der Ahnung der
Lust verträumt; vornehme Knie und frauenhafte Schenkel; ein
frauenhafter, ein sich

na als Odette in
Schwanensee “.

Tamara Karssawina als Colombine in Schumanns
„Carneval“, von Fokin inszeniert.

selbst unbewußter
Achill unter all den
Mädchenwesen . . .
Und wieder als Negerknabe in der
„Scheherasade“, von des Sultans
Lieblingsweib gelockt und geliebt,
schlangenhaft geschmeidig, voller
Wollust und Zauberei, gutmütig-
tückisch und süß; und bei der all-
gemeinen Abschlachtung der treu-
losen Weiber und deren Knaben
der Lust (ein Bild von grausiger
Schönheit und berückender Grau-
samkeit) erhält er von dem Scher-
gen den Todesstoß auf den Ko'pf,
zuckt fischartig . . . und dieser kurze
Todeskampf hat etwas Edles, Un-
heimliches und Atemraubendes. —
So wechselt er tausend Gesichte,
jedesmal eine vollkommene Welt,
durchfühlt und abgeschlossen, und
(von einer zur Manier gewordenen
Geziertheit. abgesehen) doch, stets
immer wieder Nizinski: ein merk-
würdiges Gemisch von den ent-
gegengesetzten Elementen: Kraft,
die in exaktem Mechanismus be-
steht, und schmeichlerische Weich-
heit, die in der künstlerischen Uber-

Nizinski in einem „siamesischen Tanz“.

windung eben dieser Kraft liegt; herbe Verschlossen-
heit, etwas vom Stolz der Unberührtheit und knaben-
haften Tücke . .. . Weibliche Lieblichkeit, knabenhafter
Trotz und hermaphroditische Schönheit und Leiden-
schaftlichkeit. Er ist mit einem gottbegnadeten Körper
beschenkt, ist vom Bewußtsein seiner Linien durch-
drungen und beherrscht bis in die letzte Fiber seinen
Körper. Will man gründlich sein und sich fragen, ist
denn seine Kunst wirklich so charakteristisch für das
Russische — so erfährt man, daß Waclaw Nizinski
eben gar kein Russe ist. Er ist Pole, und das erklärt
so vieles: das Spielerische und auch das Trotzige
seines Wesens, das aufschäumend Expansive und das
lauernd Impulsive; den Wilien zur Plastik und den
Sinn für das Technisehe. Aber es ist noch ein Schuß
in seiner Natur, der nicht ganz durch diese Rasse er-
klärt wird. Und wenn man sich dann sein Gesicht
näher ansieht, die besonders sitzenden Augen und die
Backenknochen und den ganzen Schädel, dann bemerkt
man, daß sein Gesichtstypus gar nicht polnisch ist,
sondern tatarisch-kalmückisch. Durch diese Teile
seines Blutes, die durch seine Adern spuken, erklärt sich
(wie bei Somow) das besonders Heimliche seines We-
sens, das auf andere Zonen deutet . . . Eine glückliche
Laune derNatur, eingenialesSpielderArten. P.Barchan.

Karssawina und Nizinski in den „Sylphiden“ („Chopiniana“),
von Fokin inszeniert.
 
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