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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 27.1912/​1913

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4. Heft
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Kumming, A.: Das alte und das neue Moskau
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Wohlbrück, Olga: Der eiserne Ring, [4]
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https://doi.org/10.11588/diglit.31170#0109

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MODERNE KUNST.

45

wohltätigen Zwecken große Summen, weiß aber sonst die irdischen Freuden
ausgezeichnet zu genießen, mit kostbaren Zobelpelzen im Werte von vier- oder
fünftausend Rubel und mit großen Diamanten zu glänzen, im Theater und in
den Konzerten fiir eine Loge ein paar hundert Rubel hinzugeben und mit einem
Troikagespann zu paradieren, das ein Vermögen kostet. Und erst die goldene
Jugend! Sie ist an Leichtlebigkeit der aller Großstädte überlegen. In den zahl-
reichen Varidtds, in Strelna, wo die Zigeuner singen und tanzen und der lau-
schige Wintergarten lockt, im neuen Varidtö Jar, dessen Napoleonssaal, Sommer-
saal und Garten mit blendendem Effekt ausgestattet sind, an allen Stätten, wo
die Chansonetten ihre zweifelhaften Künste keck produzieren, ist diese Jugend
zu finden.

Wer sich groß tun will, nimmt für sich und seine Gäste einen Separat-
saal, mietet gegen eine Hundertrubelnote den Zigeunerchor, bestellt Kouverts
zu zehn oder zwanzig Rubel, läßt den Sekt in Strömen fließen, schmettert die
Gläser zur Erde, zahlt für die Rose einen Rubel und für den Pfirsich zwei —
kurzum, wirft das Geld zum Fenster hinaus. Einer zahlt für die andern — so
will es der Brauch. Lehnt ihn jemand ab und muß jeder für sich zahlen, so
wird geringschätzend von Gasterei „nach deutscher Manier“ geredet.

Und doch glüht in diesem tollen Leben der Enthusiasmus für die Kunst.
Große Sänger und Sängerinnen, Lieblinge des Publikums, ernten frenetischen
Beifall, und wenn im Künstlertheater, der ausgezeichneten Schöpfung Sergei
Stanislawskys, ein Schauspiel Tschechows, Maxim Gorkis, Ibsens, Maeterlincks
oder Hauptmanns über die Bretter geht, und Madame Stanislawsky oder auch
Tschechow in einer ihrer Glanzrollen auftritt, dann ist jeder begeistert bis in
den innersten Nerv. Gegen dieses Künstlertheater, von den Moskauern kurzweg
„Haus Tschechow“ genannt, kommen die andern Theater kaum noch auf. Eine
mustergültige und ideenreiche Regie, getragen vom Geiste der Dichtung und
von modernem Empfinden, verleiht den Darstellungen fesselnden Zauber.

Auch der Malerei und Plastik, insbesondere der nationalen, wird gesteigerte
Wertschätzung beigemessen. Den Beweis liefert der starke Besuch des Rum-
janzow- und Golizynmuseums und der Tretjakowschen Bildergalerie. Die alten
russischen Maler, die sich wie Simon Uschakow im 17. Jahrhundert dem starren
Kanon der byzantinischen Kunst entwanden, und die des 18. Jahrhunderts, aus
der Zeit Peters des Großen bis zu Katharina der Zweiten, die Iwan Nikitin,
Rokotow, Schibanow und Dmitri Lewitzky, sind wieder zu verdienten Ehren
gebracht. Besonders ist diese erfreuliche Wandlung in den letzten Jahrzehnten
erfolgt, wesentlich gefördert durch den Sammeleifer und die Fürsprache einiger
feinsinniger Männer. Und dann die Brüllow, Iwanow, Makowski und Aiwasowsky,
der Sittenmaler Perow, der Tendenzmaler Werestschagin und die Kramskoy,
Repin, Lewitan und Serow: sie haben in der Tretjakowgalerie und einigen
Privatgalerien die beste Vertretung gefunden.

Überhaupt ist das Sammeln von Kunstwerken und das Interesse an kunst-
historischen und kunstkritischen Darlegungen außerordentlich gewachsen. Die
kolossalen Schätze im Grbßen Palais und in der Schatzkammer des Kreml, sowie
in den Kathedralen und Kirchen werden nicht mehr wie früher nach dem reinen
Metallwert, sondern nach ihrer künstlerischen und kunsthistorischen Bedeutung
gemessen; — die alten byzantinischen Emails und Elfenbeinschnitzereien, die
getriebenen Gold- und Silbergefäße, darunter treffliche Arbeiten aus den Werk-
stätten Augsburgs, Nürnbergs und Danzigs, sind in den letzten Jahrzehnten ein-
gehender und sachgemäßer hinsichtlich ihres wahren Wertes gewürdigt worden.
Erfreulicherweise ist beim Sammeln die bäuerliche Kunst nicht unberücksichtigt
geblieben: ihre durchbrochenen Arbeiten und Buntstickereien in Leinen, ihre
kräftigen Spitzen, bunten Gewebe, Holzschnitzereien, Leder- und Schmiede-
arbeiten, ihre vorzüglichen Leistungen in Lackmalerei und Silberdrahtschmuck,
allesamt charakteristisch in Muster, Färbung und Formgebung, haben sowohl im

Museum für Kuust und Gewerbe, wie in vielen Prh tkabinetten breiteste Auf-
nahme gefunden. Wer jedoch glaubt, daß an solchen Erzeugnissen älterer Her-
kunft und überhaupt an Antiquitäten in Moskau und Umgebung noch viel zu
finden sei, ist sehr im Irrtum. Auch der Trödelmarkt „Tolkutschka“ zwischen
Iljinka und Nikolskaja, hart an der Mauer des ältesten Stadtteils, des Kitaigorod,
auf dem noch in den achtziger Jahren hin und wieder ein geräubertes und ver-
kanntes Altertümchen zu entdecken war, ist leer an solchen Dingen geworden,
wie er denn schon längst nur für die Enterbten der Gesellschaft besteht.

Trotz aller jener national-künstlerischen Bestrebungen ist nur die Architektur
Moskaus noch immer recht buntscheckig. Ein reicher Teehändler bewohnt ein
kleines Palais in chinesischem Geschmack, das Historische Museum, ein ge-
waltiger Bau am Eingang zum roten Platz, nähert sich dem indischen Stil, unfern
davon ragt zum Himmel das Dutzend Ananas- und Zwiebelkuppeln der farben-
schimmernden Basiliuskathedrale, der phantastischen Schöpfung eines russischen
Baukünstlers aus der Zeit Iwans des Schrecklichen, vom Kreml her grüßen mit
Zwiebelkuppeln die von italienischen Architekten des 16. Jahrhunderts „bjfzan-
tinisch“ erbauten Gotteshäuser, und dicht dabei dehnen sich lange, weiß-
schimmernde Renaissancefronten, die ebenso gut in Florenz und Rom stehen
könnten. Das wirklich russische Stilempfinden offenbart sich noch am reinsten
und besten bei den Holzbauten, mögen auch die abgedrehten Säulchen, Baluster
und ausgeschnittenen Bretter zu dem mit der Axt behauenen Material nicht
recht passend erscheinen. Gute Vorbilder, die in jüngster Zeit durch Aufnahme
der zahlreichen alten Holzkirchen des Landes beschafft sind, werden nicht ver-
fehlen, bessernd einzuwirken.

Buntscheckig wie die Architektur ist auch das Straßenleben. An Typen
und Trachten bietet sich ein überraschender Reichtum. Bärtige Popen mit
riesigem Haarwuchs und langen dunklen Röcken, Mushiks in Kaftan, Schafspelz
und Bastschuhen, Iswostschiks in gegürtetem Kaftan und schwarzem Barett,
elegante Damen in feinsten Pariser oder Berliner Toiletten, Kaufleute in mo-
dernster Tracht, konservative Händler in Kaftan und Pelzmütze, Tataren und
Perser in spitzen, schwarzen Lammfellmützen, Türken und Griechen im roten
Fez, gelbe Zigeuner mit strähnigen pechschwarzen Haaren, Kalmücken mit
hervorstehenden Backenknochen und listig blickenden Augen, Straßenverkäufer
mit Kwas, Tee, Limonade, Pirogen, geräucherten Fischen und andern Delikatessen,
alle diese mehr oder weniger auffallenden Gestalten tauchen auf, schieben sich
durcheinander, bleiben vor den Schaufenstern stehen oder hasten vorüber. Und
dann die Tauben! In unzählbaren Scharen stolzieren sie futtersuchend über die
Plätze und Höfe, als ob ihnen Droschken, Autos und Menschen nichts anhaben
könnten. So unverschämt und so zahlreich sind selbst die Tauben auf dem
Markusplatz und der Piazetta Venedigs nicht. Der Moskowiter hält die Taube
für einen geheiligten Vogel, daher in der Zarenstadt ihr gutes und gesichertes
Leben. Ahnlicher Gunst erfreuen sich die Katzen, deren Zahl denn auch die
normale Grenze weit überschreitet.

Noch eine andere Besonderheit fällt auf ■— die Vorliebe der Moskowiter für
Glocken. Sie sind stolz auf die Unzahl ihrer Glocken, ganz besonders auf den
zweihunderttausend Kilogramm schweren Zar Kolokol, der am Fuße des Iwan-
Weliky-Turms im Kreml auf hohem Granitsockel ruht. Früher hing der Koloß,
der bei sechs Meter Höhe zwanzig Meter Umfang besitzt, an einem Holzgerüst,
stürzte aber im Jahre 1737 herab und erlitt dabei eine schwere Beschädigung,
indem ein mannshohes Stück der Wandung absprang. Metallurgen behaupten,
daß in seinem Metall mehr als sechshundert Kilogramm Silber enthalten seien.
Im Turme selbst schweben einige kleinere Glocken von Silber und in einem An-
bau vier mächtige Riesen, darunter die sechsundsechzigtausend Kilogramm
schwere Festglocke, die nur in der Christ- und Osternacht geläutet wird und
dann ihren tiefen Baß über ganz Moskau sendet.

t)ep eiserne 1~\ing.

Von Olga Wohlbrück.

[Fortsetzung.] -

angsam schritt der Staatsanwalt die Steintreppe hinunter, sah
sich in der weiten, gewölbten Vorhalle um. Er traute kaum
seinen Augen, als er die junge Russin erblickte, die einer
Zeitungsfrau ein Mittagsblatt abkaufte. Er griff an den Hut. Sie nickte
ihm zu, beinahe vertraulich.

„Wollen Sie mir helfen, Herr Staatsanwalt, die gute Frau kann mir
meine zehn Mark nicht wechseln. Ach bitte . . . ja?“

Er griff in seine Westentasche, holte ein Nickelstück heraus, drückte
es der Frau in die Hand.

„Es ist mir eine Freude, gnädiges Fräulein.“

Sie hielt ihr Zeitungsblatt in der Hand und sah ihn lachend an.

„Danke schön. Und nun führen Sie mich noch zu einer Autohaltestelle.
Ich kenne mich in der Gegend nicht aus. Den kleinen Ljubowski habe ich
fortgeschickt, weil er mir auf die Nerven ging! Es ist schrecklich, wenn

Copyright 1912 by Rich. Bong.

die Leute sich auf Landsmannschaftsrechte stützen, um sich aufzudrängen.
Er ist ja ein ganz guter Junge, aber so ungeschickt! In der Malschule
korrigiere ich immer seine Zeichnung, bevor der Professor kommt! Und
da glaubt er aus Dankbarkeit den Kavalier spielen zu müssen. Er zeichnet
furchtbar!“

Sie gingen Seite an Seite, und die junge Russin plauderte, als wären
sie alte Bekannte. Drei leere Autos waren vorübergekommen. Sie dachte
nicht daran, einzusteigen.

Sie gingen immer geradeaus, und schließlich fragte sie:

„Wo sind wir denn eigentlich?“

Er mußte sich erst orientieren. Er war auch aufs Geratewohl ge-
gangen. Immer gerade aus. Keine Frage nach ihrem Ziele durfte sie
daran erinnern, daß sie ein Ziel hatte. Er wollte ihre Nähe ausgenießen.
„Wir sind in der Nähe des Tiergartens“, sagte er.

XXVII. 12
 
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