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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 27.1912/​1913

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1. Heft
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Wohlbrück, Olga: Der eiserne Ring, [1]
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Edel, Edmund: Der Hippodrom
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https://doi.org/10.11588/diglit.31170#0011

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MODERNE KUNST.

MODERNE KUNST.

7

„Also was sagst du, Ulrike?! Es ist eine unerhörte Rücksichtslosig-
keit von Thomas! Er fühlt sich nicht wohl und kann nicht kommen!“

Die Geheimrätin zog mit zitternden Händen den schwarzen Spitzen-
schal fester um die Schultern.

„Eine unerhörte Rücksichtslosigkeit! Erstens hätte er telephonieren
können . . . .“

Ulrike eilte schon an den Apparat, der im Korridor angebracht war.

Der Bruder wohnte in einer Pension in Moabit. Sie fand es selbst
nicht sehr richtig, daß er scbriftlich absagte — zur Verlobung seiner
Schwester. Erregter, als es ihre Art war, telephonierte sie dem Mädchen,
der Herr Amtsanwalt möchte unbedingt selbst an den Apparat kommen,
unbedingt selbst! Und sie wartete mit fliegendem Atem und tausend
Gedanken, die bald der voraussichtlichen
Mißstimmung der Mutter, bald dergestörten
Tischordnung und den pikierten Redens-
arten der älteren Herrschaften galten, die
ja gar nicht ausbleiben konnten.

„Ja . . . Ulrike . .

Ihr fiel der schleppende Ton nicht auf.

Sie ließ den Bruder gar nicht zu Worte
kommen.

„Hör’ mal, Thomas, wie kannst du
nur! Ein Fest, das harmonisch verlaufen
soll, zu dem die ganze Familie erwartet
wird — und wegen einer kleinen Erkältung
läßt du uns im Stiche! Mama ist außer
sich! Der Konsistorialrat hat ohnehin eine
Pieke auf uns, weil du zu Neujahr keine
\'isite bei ihm gemacht hast. L'nd er soll
doch die Tischrede haltcn. Ich bitte dich,

Thomas, nimm dich zusammen! Wenn du
dich beeilst, kannst du mit zehn Minuten
Verspätung hier sein! Die Bouillon lasse
ich dann im Salon servieren, bevor man
zu Tisch geht. Du weißt, Professor Roth sieht
immer auf die Uhr und wird ungemütlich, wenn man
nicht militärisch pünktlich ist. Ueberdies mußt du seine Frau
zur Tafel führen. Sie hat es sich förmlich ausbcdungen. Es gibt
die widerwärtigsten Verwicklungen, wenn du nicht kommst . . .“

Sic war ganz außer Atem. Außerdem ldingelte es schon im Entree.
Da war nicht viel Zeit zu vcrliercn.

„Mir ist wirklich gar nicht gut“, antwortete der Bruder, „und morgen
um neun muß ich schon auf dem Gerichte sein.“

Ulrike fiel ihm ins Wort:

„Na ja, also, es wird schon gehn!
Mach’ nur fix! Mit dem Auto bist du in
zehn Minuten da. Zehn Minuten zum An-
kleiden ... Auf Wiedersehn... Los...los!“
Als sie in den Salon trat, wurde das
Brautpaar umringt und beglückwünscht.
Der Kriegsgerichtsrat hatte seinen sonst
etwas borstigen Schnurrbart wohl den
ganzen Tag in der Binde gehabt, so sanft
sah er aus. Und Dora an seiner Seite,
mit dem stark gewellten blonden Haar,
den roten, frischen Lippen, den ver-
schleierten blauen Augen, schmiegte sich
an ihn, vertrauend, erwartungsvoll und
dankbar.

Professor Roth zog Ulrike in den
Erker: „Sag’ mal, Mädel, solltest nicht
eigentlich du . . . hm . . . ich meine . . .
es hieß doch, du würdest den Hermann
heiraten!“ . . .

Ulrike lachte ziemlich natürhch:

Dcr Hippodrom: „Ich, Onkel? Was fällt dir ein. Dora

Dus verköiperte Reitweh. ist doch Heniianns alte Liebe.“

„So . . . so . . . Na dann ist’s ja gut. Mir war da einiges über
Dora zu Ohren gekommen ... So einen alten Praktikus, wie mich,
führt man nicht hinter’s Licht. Also Hand her, Mädel. Bist ein
tapferer Kerl!“

Ulrike dirigierte die Bouillontassen in den Salon, und die Geheim-
rätin blickte alle zwei Minuten auf die Empireuhr, denn der Konsistorial-
rat sagte bereits zum drittenmal:

„Als Sohn des Hauses hätte Thomas die Verpflichtung gehabt, die
Gäste mitzuempfangen.“

*

Der Amtsanwalt Dr. Thomas Delfert hatte nach dem telephonischen
Gespräche mit seiner Schwester das unangenehme Gefühl eines gemaß-

Der Hippodrom.

^och zu Roß! .... Die Sehnsucht des Mannes ist es, auf schnellem Pferderücken
dahinzueilen, über Qräben und Hürden zu springen, als Herr der Fluren, eins
sich fühlend mit dem Tiere: der Zentaur. Solange der Motor noch nicht rasselte und mit

seinem ewig tickenden Gleichklange die Welt in rasendes
Geschwindigkeitstempo gesetzt hatte, war das Pferd dem
Mcnschen das einzige Fortbewegungsmittel. Und der

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regelten
Schuljungen.

Er hüstelte, fuhr
sich mit der hageren,
weißen Hand über die Schläfe
und fing an, Toilette zu machen.

Es nützte nichts, daß er sich seit
zwei Jahren selbständig gemacht hatte. Die
Familie hing immer am andern Ende der Telephon-
strippe.

„Was machst du heute?“ . . . „Wo bist du morgen?“ . .

„Warum kamst du nicht gestern?“

Wenn er abgespannt und nervös vom Gerichte kanr,
hieß es gewiß: „Die Frau Geheimrat“ oder „das Fräulein
Schwester hat angeläutet.“

Manchmal mußte er von Tisch aufstehen.

„Frau Geheimrat ist am Telephon.“

„Ich bin gerade bei Tisch, Mama ..."

„Ja, nur einen Augenblick, mein Junge. Denke dir, der Professor
war da. Ich soll jeden Morgen ein Glas Karlsbader Wasser trinken.“
„So . . . ja, verzeih, Mama . . . das Essen wird mir kalt.“

„Bitte, mein Kind, ich will nicht stören. Ich dacnte nur, du hättest
Interesse an dem Wohlbefinden deiner Mutter.“

„Aber gewiß, Mama, selbstverständlich . . .“

„Herr Doktor, der Fisch ist längst serviert“, sagte das Mädchen.
Thomas mußte am Telephon bleiben. [Fortsetzung foigt.i

Der Hippodrum:

„Wehe, wenn sie losgelassen!“

Reiter der eiligste Bote. Das Pferd zu lenken und es seinem Willen, dem leisesten Druck
des Zügels unterzuordnen, wurde zu einer großen Kunst, die in hohem Ansehen stand.

Man spricht heutzutage vom Reiten wie von einer Angelegenheit, die gut für
unsere Großväter war. Das Automobil hat — man möchte es fast sagen — die
Pferde totgefahren, und die Zeit wird vielleicht wirklich nicht mehr fern sein, wo
man die Witzblattillustration in die Wirküchkeit übersetzt sehen wird: das letzte Roß
im Zoologischen Garten, angestaunt von der Menge wie seine wilderen Kollegen, die
Löwen und Tiger.

Aber vorläufig erfreuen sich die Rosse noch der größten Beliebtheit bei ihren

Von Edmund Edel.

fNachdruck verboten.]

Freunden, den Menschen, die sich ihre Zucht und Pflege mit der allergrößten Sorgfalt an-
gelegen sein lassen. Der Pferdesport ist und bleibt unser liebster Sport (trotz olympischer
Spiele, Golf und Tennis). Seit unserer frühesten Jugend spielt das „Hottehiih" eine große
Rolle in unserm Leben. Mit dem Schaukelpferde fängt es an. Stolz, zwar mit etwas
verkniffener Angst, sitzt der „Stöpsel" von zwei Jahren auf dem ledernen Ungetüm
und wicgt seine kindliche Phantasie, bis cr mit einem Plumps herunterfällt. Dann,
etwas älter, rast er auf dem Steckcnpferde durch die Wohnung, wirft in seinem Drauf-
gängertum alle Stühle um und bläst dabei schrecküche Fanfaren auf der Groschen-
trompete. Nun tritt das Karussellpferd in die Erscheinung, verwandt dem Schaukel-
pferde, doch mit größerer Gefalir fiir den Knirps verbunden und deshalb von noch
größerem Reize. Wetin aber in den Fericn auf Onkels Gut der alte „Chrischan" den
Jungen zum ersten Male auf den Rücken der alten „Liese“ sctzt, ist das Glück vollendet,
und die richtige Pferdelaufbahn des Mannes beginnt.

Diese Liebe zum Pferdc zeigt sich iibcr-
all, beim Volke sowohl wie bei den Aus-
erwählten. Der gefallene Droschkengaul errcgt
ebensolches Mitleid, wie der von einem plötz-
lichen Schlage auf der Straße getroffene Mensch
(manchmal sogar größeres). Man sorgt für das
Pferd wie für einen lieben Angehörigen, man
schützt es vor Kälte und Hitze, man trainiert
es, damit es Gewinn und Ehre einbringt. Man
kennt seine Eltern und Voreltern, man schätzt
seine Eigenschaften und verfolgt seine Indis-
positionen, und man riskiert schließlich sein
Vermögen und verüert es durch seine Beine
oder gewinnt durch sie noch eins dazu. Man
staunt über seine Fähigkeiten, im Zirkus uns
einen Walzer vortanzen oder im spanischen
Tritt graziöse Kunststücke vormachen zu kön-
nen. Man bewundert seinen schönen Kopf, die
schlanke Linie seines Körpers und die Majestät

seines Ganges.-

Das Pferd ist unser Liebling und das
Reiten jedermanns Lust. Nur ist das Reiten
nicht jedermanns Sache — aus verschiedenen
Gründen. Nicht jedermann kann sich ein
Pferd halten. Wer nun seine Lust auf dem
Rücken eines Pferdes austoben will, geht in
einen Hippodrom. Auf allen Rummelplätzen
gibt es solche Arenen. In allen Lunaparks
beider Welten trifft man sie an, und ihr großer
Zuspruch beweist, daß die Freude, ein paar-
mal im Kreise herumzureiten, größer ist als die,
in der „Scherbenküche" Teller und Milchkannen
entzweizuwerfen, um damit seine Wut zu
stillen. Alle sogenannten Attraktionen können
gegen den Hippodrom nicht aufkommen.

Vor der Bude steht der Clown, als Stall-
meister frisiert, durch das blitzende Monokel
das Publikum beäugend: „Herein, meine Herr-
schaften! Das größte Wunder der Welt! (Er
zeigt auf den langohrigen Esel, dem er liebe-
voll den Kopf kraut.) Das grrrrößßßte Wunder
der Welt! Sie werden sehen, wie ein Esel

auf dem andern reitet!“-Ein anderer

Stailmeister im roten Frack führt einen edlen
Andalusier vor und läßt ihn vor der gaffen-
den Menge ein paar Schritte machen. „Herein,
meine Herrschaften!" .... Drin unter dem
Zeltdach ist die richtige Zirkussphäre. Es riecht
nach Zirkus. Dieser eigentümliche Stallgeruch
zieht einem in dic Nase und ist uns fasi
noch angenehmer als das beste Frauenparfüm.
Rings um die Manege sitzen die Menschen
an Tischen und trinken Bier. Hinter ihnen stehen wieder andere, die keinen Platz
mehr gefunden. Die Musik spielt irgendeinen langsamen Marsch. Sechs, acht Reiter
und Reiterinnen zotteln einer hinter dem andern im gleichmäßigen Trab um die
Arena. Die frommen Rosse, die schon in der Mehrzahl ein langes Zirkusleben hinter
sich haben, wissen, was sie sich und den Zuschauern schuldig sind. Immer hübsch
artig und salonfähig, damit vor allem die netten Dainen in ihren Sätteln nicht zu
komische Sprünge machen. Alle Stände reiten da herum. Wer nur irgend den Obolus
im Besitze hat, schwingt sich aufs Pferd. „Halli! Hallo! Aufs Pferd, aufs Pferd!"
Wie in ihrer Kindheit hopsen sie sich eine Phantasie zurecht: hinaus ins frische Grün,
 
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