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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 27.1912/​1913

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16. Heft
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Loeb, Moritz: Wenn die Lawinen donnern
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https://doi.org/10.11588/diglit.31170#0471

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enn die jTaWinen donnem

Von Moritz Loeb.

/etzt ist die Zeit, in der der Föhn, der heiße, stürmische Gesell, über die
Alpen hereinbricht. Noch tragen die Bergriesen bis weit hinab einen
dichten Mantel von Eis und Schnee; aber unten auf den Matten sprießen,
von der warmen Mittagsonne hervorgelockt, bereits tausende kleiner Frühlings-
blümlein und blicken verwundert in die wild-grandiose Winterlandschaft, die
sich drüben, jenseits des Tals, in bizarren Formen himmelwärts erstreckt.

Weiße, stahlblaue, rostgelbe Wolkenballen wälzen sich von Süden her über
die Riesen des Berner Oberlandes, hüllen den dräuenden Gipfel des Großen
Schreckhorns, das 4080 Meter hoch
in die Lüfte ragt, ein und lassen,
bald hier, bald dort, für Minuten
zackige Schroffen, schimmernde
Firnfelder zwischen zerrissenen
Dunstgebilden hindurchscheinen.

Droben in der Höhe aber tönt
ein seltsamer Gesang. Es ist ein
Singen und Schwirren wie von
tausend zugleich angeschlagenen
Saiten. Dann, wenn die düstere
Wolke näher und näher dem
Zenit rückt, wächst diese himm-
lische Musik zum Brausen an; wie
rauschende Orgelakkorde klingt
es in der Höhe, und dazwischen
heult es wie aus schmerzerfüllten
Menschenkehlen.

Das ist der Föhn. Mit heißern
Odem streicht er an den kahlen
Felswänden, den schneeigweißen
Abhängen hinab. Er stiirzt sich
in die Täler mit jäher Gewalt, und
je tiefer er kommt, um so heißer
wird sein Atem. So hat man
lange, bis in unsere Tage hinein
geglaubt, es sei der Samum der
Sahara, der Scirocco Süditaliens,
der sich als Fölin über die gigan-
tische Mauer schwingt, die den
lachenden Süden vom kalten
Norden trennt. Aber der Schein
trog. Vom Atlantik kommt er
her, der gefürchtete Föhn, und
feucht-kühl steigt er, angesaugt
von den Sturmwirbeln des Nord-
meeres, an der Südwand der
Alpen empor, wo er seine Feuch-
tigkeit in anhaltenden Regen-
güssen zurückläßt. Hat er die
Kammhöhe des Gebirges über-
schritten, so ist der Föhn trocken
und kalt; aber bei dem wilden
Absturz in die Nordtäler der Alpen,
beim Abstieg, der ihn 2000 Meter
und mehr in die Tiefe führt, er-
wärmt er sich, und als trocken-

heißer Wind braust er mit Sturmesstärke durch die Lande, Sparren und Gebälk
ausdörrend, den ungeschützten Funken anfachend zu lodernder Glut.

Drunten im Tal von Grindelwald, wo zur Sommerzeit Fremde aus aller
Ilerren Ländern in Scharen weilen, lierrscht noch die tiefe Stille und Einsamkeit
des Winters. Die Wintersportler sind geflüchtet; denn jetzt ist die Zeit der
Lawinen, und der vom Föhn beleckte Schnee schwindet fast sichtbar unter
den Augen. Vorsorglich sind in den Häusern der Älpler alle Feuer gelöscht;
die Hotels und Pensionen liegen noch im Winterschlaf, und wie ausgestorben
ist das Leben in den lieblichen Orten. Aber in die bedrückende Stille, wie sie
zumal nächtens herrscht, mischen sich wieder und wieder brausende, tosende,
donnernde Geräusche. Droben, zwischen Schreckhorn und Mettenberg, dringt
der obere Grindelwaldgletscher hervor. An seinem riesigen Eisstrom, der sich
in gewaltiger Länge in die Tiefe zieht, leckt gierig der heiße Föhn; er lockert
das Firneis, bis es dem gewaltigen Druck der darüberliegenden Schneemassen
nachgibt und mit furchtbarem Getöse in das Tal hinabstürzt. Es ist ein Krachen,
Schmettern und Brechen von grandioser Wucht; der Höllenlärm übertönt für
Minuten jeden andern Laut, aber es ist auch ein Schauspiel von grandioser
Scbönheit, zu sehen, wie die ungeheuren Eismassen von Fels zu Fels stürzen,

Das Schreckliorn und der obere Grindelvvald-Gletscher.

[Nachdruck verboten ]

wie sie in stiebende Trümmer zcrschellen, wie sie auf ihrem unaufhaltsamen
Absturz Schneeberge mitreißen, daß die ganze Luft von Wolken weißen Staubs
erfüllt scheint. Drunten im Bett der eiskalten schwarzen Lütschine, des allen
Besuchern der Schweizer Zentralalpen bekannten Gebirgsbaches, deren im Früh-
jahr reißend-wilde Fluten nichts anderes sind als der Abfluß des oberen und des
unteren Grindelwaldgletscliers, im Bett der schwarzen Lütschine endet der jähe
Absturz, ungefährlich für Mensch und Tier, für Wald und menschliche Be-
hausung, da diese Grundlawinen stets dem Bett des Gletschers folgen. Ähn-

lich wie diese wählen auch die
Eislawinen, oft von den Grund-
lawinen garnicht zu unterscheiden,
die ihnen vom Verlaufe des Glet-
schers vorgezeichnete Bahn. Sie
lösen sich, wenn der langsam
vorrückende Eisstrom an einen
steilen Absturz gelangt. Eine
Weile schiebt die kompakte Eis-
masse sich noch in die freie Luft
vor, bis sie durch ihr Gewicht
abbricht und zu Tal fährt.

Weit unberechenbarer sind
die Staublawinen, die meist bei
kaltem Wetter niedergehen, aber
auch im Frühling vorkommen.
Der Sommertourist, der im Juli
und August von der Wengernalp
aus die fortwährend sich erneu-
ernden Schneestürze an den Ab-
hängen der Jungfrau gesehen hat,
die, von dem durch sie verur-
sachten Getöse abgesehen, nichts
Großartiges an sich haben, macht
sich von der elementaren Gewalt
dieser oft so verhängnisvollen
Staublawinen, die nur im Winter
und Frühling ihre ganze Macht
entwickeln, gar keine rechte Vor-
stellung. Sie bestehen aus trock-
nem, feinkörnigem Schnee, der
durch den Sturm aufgewirbelt
und in Bewegung gesetzt wird,
um von den hochragenden kahlen
Felsplatten und Hängen zu Tal
zu gehen. Hier ist es weniger
die stäubende Schneewolke, die
bergab fährt, als der vor ihr ein-
hergehende orkanartige Wirbel,
durch dendie Staublawinen Mensch
und Tier bedrohen, zumal ihr
Weg niemals vorher bekannt ist.
Zerbrochene Baumstämme, ein-
gedrückte Sennhütten, verwüstete,
mit Steinhalden überschüttete
Matten bezeichnen noch im Hoch-
sommer den Weg, den sie ge-
nommen haben. Trotzdem sieht man der Zeit der Lawinen nicht tatenlos ent-
gegen. Die Schutzmauern und Dämme in den gefährdeten Gebieten werden,
wenn der Winter naht, verstärkt; beschädigte Galerien und Lawinenbrecher
werden wieder hergestellt, und so gelingt es den Älplern meist, dem schlimmen
Gast des Winters und Frühlings mit Erfolg zu begegnen.

Schlimm freilich ist’s, wenn nach milden, sonnigen Frühlingstagen jene bösen
Rückschläge folgen, die nochmals tiefen Winter über die Alpenlandschaft bringen.
Gewaltig sind die Schneemassen, die dann niedergehen, und so jäh ist oft der
Ubergang, daß der Neuschnee an den Hängen und Matten den schon aufgetauten
alten Winterschnee im Nu überdeckt. Wohl folgt dann stets von neuem der
Frost; aber nicht selten wächst die unaufhaltsam herniederrieselnde Schneelast
so rasch an, daß der aufgeweichte, lockere Untergrund dem Neuschnee keinen
Halt gewährt. Sausend und brausend fährt die lose weiße Masse zu Tal; sie reißt
im Niedergang die Schneedecke mit, die sich bis tief hinab eben gebildet hat,
und erst auf der Talsohle macht die rasende, verheerende Fahrt halt. Straßen und
Bahngleise werden verschüttet, und mancher Zug hat vielleicht kurz zuvor gerade
den schützenden Tunnel erreicht, wenn hinter ihm die Lawine die Strecke ver-
schüttet, deren Freilegung bisweilen viele Stunden harter Arbeit erforJert.

Phot. Aug. Rupp,
Saarbrücken.

XXVII. 16. Z.-Z.
 
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