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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 27.1912/​1913

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Steinweg, Walter: Berlin bei Nacht
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https://doi.org/10.11588/diglit.31170#0139

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Berlin bei Nacht.

Von Walter Steinweg.

lerlin bei Nacht. Wie sehr wird es oft mißverstanden mit seinem bunten ver-
wirrenden Getriebe. Das Berliner Nachtleben, so heißt es, habe in den letzten
Jahren das Nachtleben aller andern europäischen Großstädte übertroffen. Es
steht so einzig da, wie Berlin überhaupt mit seiner Entwicklung während des letzten
Jahrzehnts einzig dasteht. Berlin ist Weltstadt geworden. Das Riesengetriebe bei
Tage verlangt seine Abspannung bei Nacht. Der Berliner schläft von allen Groß-
städtern am wenigsten. Er schließt spät sein Geschäft und kommt in den ersten
Nachtstunden erst dazu, sich etwas zu erholen. Unter diesen Gesichtspunkten bildeten
sich die Anfangsstadien des Beriiner Nachtlebens aus. Dann nahmen es die Berlin
von Jahr zu Jahr mehr überströmenden Fremden auf, und ihnen eigentiich rnehr
wie den Berlinern verdankt die Reichshauptstadt jenes Berliner Nachtleben, von dem
man in der Provinz sich so
pikante Dinge schmunzelnd
erzählen läßt. Viele meinen
ja, es sei gar nicht so schlimm.

Aber zum mindesten ist es
charakteristisch, einmal zu be-
obachten, wie das Berliner
Nachtleben seine Entwicklung
fortsetzt. In Paris hat das
Nachtleben mit dern Nieder-
gange des Montmartre nacli-
gelassen und ist auch in keinem
andern Stadtteile neu aufge-
taucht. In Berlin beginnt für
den aufmerksamen Kenner das
Nachtleben der Friedrichstadt
gleichfalls stark nachzulassen.

Aber dafür tut es sich in
Berlin W., in der Gegend
zwischen Kurfürstendamm und
Nollendorfplatz, in einer Un-
geniertheit auf, der gegenüber
Berlin bei Nacht in der
Friedrichstadt bald als oller
ehrlicher Seemann erscheinen
wird.

Um 10 Uhr abends, wenn
in London und Wien die
letzten Menschen durch die
Straßen gehen, ist dieFriedrich-
straße zu Berlin in ein in hun-
dert Farben zuckendes Liclit-
nteer getaucht. Die Läden
sind geschlossen, die Kontore
desgleichen, trotzdem ist die
Menschenmenge, die die Straße
entlangflutet, gegen den Tages-
verkehr noch angewachsen.

Ueber ihr blitzt der Wirbel der Lichtreklamen, der in der Gegend der Jägerstraße
den Höhepunkt seines Tautnels erreicht: In Feuerrädern, Feuerschlangen, langen
Streifen, die sich zuckend erhellen, in grellen Transparenten, in allen möglichen
Formen, die den Sehnerv verblüffen sollen, datnit das Auge darauf reagiert,
drehen sich die Reklamen, klettern sie die Fassaden der Häuser hoch oder werfen sie
hoch oben von den Dächern ihr Licht herab. Um 11 Uhr ist der Betrieb überall
eröffnet und im Gange. Zwischen deti „Linden" und der Jägerstraße entwickelt sich
jetzt das Berliner Nachtleben. Denn hier liegen die großen mondainen Ballsäle wie
das Palais de danse, Moulin rouge, die Rosensäle, hier liegen die Bars wie Maxim,
Unionbar und Palastbar, die Kasinos wie Lindenkasino, Riche, Pavillon Mascotte, und
hier entrollt sich das harmlosere Leben derer, die nichts wie eine flotte Bierreise durch
Berlin bei Naclit machen wollen und schon bei einer Kanne Pilsner in „Wiett-Berlin"
oder Brady oder gar bei einem Kruge gewöhnlichen Bieres in der „Bierritze“ oder
in den Bauernschänken Berliner Nachtluft zu atmen vermeinen. Wer dann in der
Jägerstraße aufmerksam beobachtet, der kann geradeüber von Moulin rouge sehen,
wie bei Dreher, gen. Drahrer, die Stühle auf den Tischen stehen und Stubenmädchen
und Kellner damit beschäftigt sind, das Lokal zu reinigen und herzurichten. Der
Provinzler denkt: Aha, die haben ihr Lokal schon geschlossen! Er irrt siclt; denn
sie wollen’s erst öffnen. Wenn die Ballsäle und Bars um 2 Uhr nachts ihre Gäste
entlassen, dann geht der Kavalier in die Kasinos wie Pavillon Mascotte, Lindenkasino
und Riche. Hat er dort fiir seine Nerven den Bedarf gedeckt, so setzt er sich in der
Jägerstraße in die Lokale, die seit den letzten Jahren ein ganz eignes Genre für Berlin
abgeben. Es sind jene intimer ausgestatteten Restaurants (wie Toni Grünfeld,
Monbijou u.a.),deren gedämpfte Musik das Propfenknallen der Sektflaschen nicht stört.

Heinrich Harder: Haus auf Hallands Vaderö.

In ihnen beginnt der Betrieb erst gegen 3 Uhr morgens, und dann, wenn gegen
5 Uhr auch diese Schale des Genusses geleert ist, tut der Kavalier, der etwas auf sich
hält, Einkehr beim Drahrer in der Jägerstraße. Bis dahin haben die Stubenmädchen
und Kellner das Lokal blitzblank hergerichtet.

Berlin bei Nacht hat’s in sich. Aber der Provinziale soll nicht denken, daß nur
der Berliner derjenige ist, der sie Nacht fiir Nacht heimsucht. Im Gegenteil, der
richtige Berliner ist ein Spießbürger und wird zum Bummeln nur immer durch die
Provinzler verfiihrt. Wenn so ein Besuch aus der Provinz kommt, dann ahnt der
Berliner allemal sein Schicksal. Er weiß, daß die Provinzonkels nicht zu halten sind.
Ein solider abendlicher Schoppen beim Klaußner in der Krausenstraße oder bei Siechen
in der Behrenstraße geniigt ihnen nicht. Sie sind losgelassen und wollen Berün bei

Nacht sehen. Sie haben ja
zum Teil ganz recht, derin
das Berliner Nachtleben ist in
der Tat höchst charakteristisch.
Es ist auch gar nicht teuer.
In keinem der Berliner feu-
dalen Nachtlokale ist man ge-
zwungen, Sekt zu trinken.
Eine Flasche Mosel oder Rot-
wein tut’s auch schon. In
dem oft zitierten „Maxim“
kann man bei einem Whisky
mit Soda für eine Mark sich
ungestört und ohne aufzufallen
die Blüte des Berliner mon-
dainen Lebens ansehen. Im
Baedeker steht das allerdings
nicht, aber für beobachtende
Nachtschwärmcr und iiber-
haupt für die, die Berlin
wirklich kennen lernen wollen,
ist jtingst ein Führer erschienen,
der sich „Berlin für Kenner“
nennt und mit ausgiebigster
Sachkenntnis und mit prak-
tischen Fingerzeigen den
Fremden durch Berlin und
vor allem durch Berlin bei
Nacht führt. An der Hand
dieses Führers kann der Fremde
in Berlin nicht hereinfallen.

stets das Charakteristische ge-
zeigt wird, selir bald Kenner
sein, auch im Sinne des ab-
schmeckenden Genießers.

Berlin bei Nacht! Uner-
schöpflich ist auch dieser Teil
des Berliner Lebens. Vom Höchsten bis zum Tiefsten kann man das menschliche Dasein
darin vorüberziehen sehen.

Aber wir wollen hier nicht tiefsinnig werden. Man muß nur das Verständnis und
den Humor zur Sache mitbringen. Wer wird das Leben im Palais de danse ernst
nehmen? Es kommt gar nicht in Betracht, wenn die geistige und sittliche Höhe
des ganzen Volkes in Frage steht.

Der Luxus, der in den Berliner Nachtlokalen allein schon in der Ausstattung
entfaltet wird, ist im ersten Augenblicke verwirrend. Die Garderobe zum Pavillon
Mascotte wird überdacht von einem mäßig hohen Sternenhimmel. In der Mitte
des Raums steht ein Apfelbaum, der seine Blütenzweige nach allen Seiten hin
ausstrahlt. Im Palais de danse ist die Barockarchitektur, die hier von Künstler-
hand geschaffen worden ist, geradezu beriickend. Wohl erscheint inmitten solchen
Milieus der Sekt als das passendste und stimmungsvollste Getränk. Er fließt
denn auch hier in Strömen. Da wir wissen, wie ungerecht der Mammon vielfach
verteilt ist, und da wir anderseits ebenfalls wissen, daß sich der deutsche Spieß-
bürger diesen Spaß wohl einmal im Palais de danse, aber nicht jedesmal, wenn
er nach Berlin kommt, leisten wird, so können wir über Berlin bei Nacht und seine
Folgen beruhigt sein.

Der Wissenschaft wegen kann man ruhig einmal Berlin bei Nacht sehen. Man
wird dann als ruhiger Beobachter kennen lernen, was diese Stadt im letzten Jahrzehnt
geworden ist, wie ihr Leben bei Tage rastlos und gewaltig rollen muß, wenn es des
Nachts noch solche Wogen der Erregung schaffen kann. Möge man Berlin bei Nacht
den Schatten nennen. Man bedenke, welche Fülle von Licht dazu gehört, diesen
Schatten zu werfen!

XXVII. 16.
 
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