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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 27.1912/​1913

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17. Heft
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Saltzwedel, Hans von: Frau Mytala, [1]: nach einer wahren Begebenheit erzählt
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https://doi.org/10.11588/diglit.31170#0490

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20/

Frau Mytala.


Nach einer wahren Begebenheit erzählt von Hans von Saltzwedel.

n die tiefe Stille des Sonntagsfriedens hinein läuten die Kirchen-
glocken.

Feierlich ernst und trostverheißend rufen sie die Gläubigen
in das kleine Gottesbaus.

Die ganze, Luft dröhnt und schwingt mit ihnen — im Sonnenlicht
zitternde, herb würzige Herbstluft!

Ja, Herbst ist es geworden, ehe ich’s recht gemerkt! Herbst rings
um mich her und Herbst in mirj

Für den heutigen Sonntag aber hat die alte Sonne noch einmal frei-
gebig die ganze Fülle ihrer Kraft und ihrer Pracht über die Natur aus-
gegossen, als wolle sie dem zagenden Menschengeschlechte Mut und Trost
geben, daß es nicht den Glauben an sie verlieren möchte, wenn sie in
den nun kommenden Wochen und Monden erblassen und ermüden
würde und unfähig sein, das Leben vor der Todesstarre des Winters zu
bev/ahren.

Ich sitze in erinnerungsschweren Gedanken und schaue durch das
weinumrankte Fenster über die mit feinem, weißem Spinngewebe be-
zogene Rosenhecke hinweg auf die im Sonnenlichte grüngoldig schim-
mernde Laubpracht des altehrwürdigen Parkes.

Der letzte Glockenton ist dröhnend verklungen — erwartungsvoll
lauschendes Schweigen ringsum! — Noch wenige Minuten, und der an-
dächtige Gesang der kleinen Dorfgemeinde wird zu mir in das stille
Zimmer klingen.

Ich falte die Hände. — Mir ist so wundersam traumhaft zumute. —
Wie nur bin ich in diesen
schweigenden Herbstfrieden
gekommen? — Wie habe ich,
der Sohn des fernen, rauhen
Masurenlandes, mich hierher
gefunden in das stille Haus
hinter der Rosenhecke ganz
nahe der böhmischenGrenze?

Ach, gar mühsam und
weit war mein Weg von der
Vaterscholle hierher und
mühsam und lang die Zeit
seit der warmen Geborgen-
heit der Kinderstube dort bis
zu diesem stillen Herbst-
frieden! — — —

Wie es nur kommen
mag? — Allemal, wenn ich
zurück an meine früheste
Kindheit denke, fällt mir so-
fort auch unser alter „Pfeiffer“
ein. — Eine Kinderstube ganz
weit dahinten zwischen den
Seen und Wäldern des äußer-
sten Ostpreußens und eine
Weinstube am Marktplatz
einer pommerschen Acker-
stadt!

Merkwürdig, höchst
merkwürdig, wie diese beiden
an und für sich so grund-
verschiedenen Erinnerungs-
bilder schier unzertrennlich
in meinem Innern nebenein-
ander stehen — so untrenn-
bar, daß das eine sich wie
aus Naturnotwendigkeit jedes-
mal zu dem andern gesellt!

Copyright 1913 by Rich. Bong.

Ob es daran liegt, daß beide die gleiche sehnsüchtige Vorstellung
wohligen Geborgenseins in meiner Seele auslösen, oder einfach nur an
dem Umstande, daß sie beide für mich gewissermaßen einen Anfang be-
deuten --- den Ausgangspunkt für einen weiten beschwerlichen Weg?

- Hat doch nun mal -- wie in jener Kinderstube mein Lebensgang
so in dem Pfeifferschen Weinstübchen das seinen Anfang genommen, was
dann mein Schicksal hat werden sollen. —

Nun, mag dem sein, wie ihm wolle, eine so widersinnige Ideen-
verbindung wie die einer Kinderstube mit einer Weinwirtschaft ist über-
haupt nur im Unterbewußtsein eines so querköpfigen alten Junggesellen
möglich, wie ich schon darnals, vor nunmehr fünfundzwanzig Jahren ganz
unversehens einer geworden war.

Du lieber Himmel! Mit vierunddreißig Jahren sollte man eigentlich
noch nicht so alt sein, daß man von den jungen Dachsen mit einem ge-
wissen Rechte der „Uralte“ genannt werden dürfte! — Und doch — und
doch — bei mir war’s so: ich selber fühlte mich schon damals mit meinen
vierunddreißig Jahren „uralt“ — alt, hoffnungslos und innerlich ver-
trocknet.

Wie sowas mögiich ist?

Bitte! Wenn man die schönsten Jugendjahre in einem so kleinen
Neste in dem ewigen Einerlei des Frontdienstes beim langsamen Schritt
und Griffekloppen verbrächt hat, dabei immer von Sorgen um das Aus-
kommen mit den allzukarg bemessenen Geldmitteln gequält; — wenn man
infolge solcher Knappheit auf alles höhere Streben hat verzichten

müssen: auf die Adjutantur,
weil man sich kein Pferd hätte
kaufen können — auf die
Kriegsakademie, weil das
Geld, Unterricht zu nehmen
und sich die notwendigen
Lehrmittel zu beschaffen,
fehlte, dann — nun dann kann
man sich über Hoffnungs-
losigkeit und innere Dürre
nicht wundern — dann ist
man eben mit vierunddreißig
Jahren „uralt“. — — —

Also bei Pfeiffer hat es
angefangen:

Ein scheußlicher Regen-
tag im Schauermonate März!
Da ist eine kleine ver-
räucherte Weinstube nicht zu
verachten, und einem wird
dann in ihr eben warm und
behaglich um das alte, ver-
trocknete Herz — so behag-
lich wie — natürlich, da ist
sie wieder, die.unvermeidliche
masurische Kinderstube mit
all ihrer wohlgeborgenen Ge-
mütlichkeit! Eigentlich hatte
ich wohl Veranlassung, mich
gründlich zu ärgern; denn
die lieben Stammtischge-
nossen fühlten sich wieder
einmal bewogen, mich über
meine ewige Leutnantszeit
damit zu trösten, daß der
Kameke bombensicher noch
in diesem Sommer Major
werden müsse, und ich dann

Otto H. Engel: Wenn’s Abend wird.
 
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