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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 27.1912/​1913

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21. Heft
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Happrich, Viktor: Auf ins Hippodrom!: Plauderei
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Goldstein, Moritz: Die Schönheit der Maschine
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https://doi.org/10.11588/diglit.31170#0652

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266

MODERNE KUNST.

zuzurennen und bleibt in der Mitte gelassen
stehen, die andern schieben sich langsam
aber sicher daneben und so streikt die ganze
Kolonne. Allgemeines Gelächter der Zu-
schauer! „Fräulein, können Sie linksrum
reiten?" fragt ein Spaßvogel. Lange dauerts,
ehe sich der Ritt von neuem formiert.

So wechselt kaleidoskopisch das Bild!
Keine Type fehlt! Da ist vor allem die
Jeanne d’arc, die im Herrensattel sich als
eine Königin dünkt und in diesem Moment
mit keiner Heroine tauschen möchte, da
ist der Portokassen-Jüngling, der stolz wie

ein Spanier sich dem Cid gleich dünkt, dem edlen Ritter, der mit gesenkter Stange
in die Turnierschranken einreitet, der Onkel aus der Provinz, der seiner „Nichte“ zu
Gefallen den edlen Renner des Hippodroms besteigt und vor allem die kleinen
Mädchen, denen das Reiten, speziell im Herrensitz, unbändiges Vergnügen bereitet.

Die schönste Note aber im Hippodrom-Konzert ist das Engelschwingen oder
das Preisstehendreiten, welches so ziemlich alle Stunden einmal stattfindet. Die
Damen und Herren stehen dabei, an einer Longe befestigt, auf dem sogenannten
Nudelbrett, nun werden sie, kurz bevor sie zum dritten Mal die Manege umkreisen,
von einigen handfesten Leuten an der Longe heruntergerissen, so daß sie, gleich den
lieben Engelein, hoch oben in der Luft umhersausen. Wenn dann ein Spaßvogel,
wie es schon vorgekommen ist, einen dressierten Bulldogg losläßt und dieser dann
jauchzend und bellend zu den schwebenden Engelein emporspringt, kennt der Jubel
der Menge kein Ende. Also lieber Leser — geh ins Hippodrom und — reite!

Die Schönheit der Maschine.

Paul Halke: Im Hippodrom.
Bravo, bravo, bravissimo.

Ver von uns hat nicht von irgend-
q7xv> einem freundlichen Herrn aus der
Generation unserer Großeltern die be-
wegliche Klage vernommen, daß die Welt
häßlicher gevvorden sei? Die guten Leute,
die ihre Reisen noch in der Postkutsche
machten — oder nicht machten, sahen
alle Poesie der Landschaft zerstört, sobald
die Ingenieure mit ihrem Heer von Ar-
beitern anrückten, um über ungezählte
quergelegte Balken hinvveg durch Feld und Wald die vier parallelen Eisen-
schienen zu legen, auf denen alsbald qualmend und lärmend die Züge hin und
her rollen sollten. Und nicht nur jene altmodischen Leute, auch wir selbst
haben wohl unter einem Gefühle der Angst, einem wahren Albdruck gelitten,
wenn wir die Silhouette irgendeiner Stadt betrachteten und nun sahen, wie
die Schönheit einer gotischen Kirche oder eines alten Wachtturmes sich nur
mühsam behauptete inmitten eines ganzen Waldes von gleichförmigen Fabrik-
schloten oder neben der unsäglichen Trivialität eines Gasometers. Mit der
Industrialisierung der Erde schien ihre Verhäßlichung gleichen Schritt zu
halten, und ein Zeitalter schien sich vorzubereiten, welches die Schönheiten
der Natur nur noch aus den Dichtungen toter Poeten kannte. Heute freilich
halten wir diese Gefahr für überwunden, nicht nur, weil wir begonnen haben,
die Natur gegen die Werkzeuge der Zivilisation zu schützen, sondern mehr
noch, weil jene häßlichen Dinge selbst ihre Häßlichkeit zu verlieren anfangen,

Es ist das Verdienst des Naturalismus, die Schönheit der Maschine und
was mit ihr zusammenhängt, entdeckt zu haben; jener Kunstrichtung also,
die die Wirklichkeit darstellen will ohne Rücksicht auf Schönheit. Aus den
krassen Schilderungen des Arbeiters und der Fabrik, wie sie Meunier und
mancher andere in Skulptur und Malerei, des Proletarierschicksals, wie es
Zola im Roman zum Entsetzen der Zeitgenossen gab, sprang plötzlich und
unerwartet als Geschenk der Götter ein neuer Reiz, der eigentümliche Zauber
dieser neuen Dinge, Mit einem Male empfanden wir, welch ein Zauber in
dem Mechanismus etwa einer Schiffsmaschine steckt, in den rhythmischen
ünd fast lautlosen Bewegungen ihrer spiegelglatten Eisenmassen. Etwas
von dem Hochgefühl, das der Anblick des bewegten Meeres oder eines
Wasserfalles erzeugt, überträgt sich auf uns, wenn wir die ungeheure Kraft
der schwingenden Kolben und Räder nachempfinden, ein Gefühl, das doch
wieder verstärkt oder verändert wird durch das ganz neue Schauspiel voll-
ständig beherrschter und in den Dienst menschlicher Zwecke gezwungener
Urkräfte. Schließlich fragen wir uns, was denn an einer Postkutsche so viel
poetischer gewesen sein soll als an einem Eisenbahnzuge. Die Alten, die
noch kein anderes Reisemittel kannten, hatten von der Romantik jenes
Vehikels jedenfalls eine andere Meinung, sie setzten sich nur ungern in
den engen rüttelnden Kasten und betrachteten das Reisen selbst als den
unangenehmsten Teil einer Reise. Aber freilich knüpfte sich für sie an die
primitive Postkutsche der wundervolle Zauber der Ferne. Für uns hat sie
den nicht minder hohen Reiz der Vergangenheit; jener andere Reiz dagegen
ist längst auf die Eisenbahn übergegangen. Der Schienenweg ist für uns
der Weg in die Welt, und der Geruch der Bahnhofshalle
ist verknüpft mit den Eindrücken von Ausspannung und
Erholung, von freier Natur und fernen Ländern. So
haben diese Dinge eine innere Schönheit gewonnen, und
wir haben gelernt, ihnen auch äußere Wohlgestalt zu geben.

Der Bahnhof großen Stils gehört heute zu den schönsten
Aufgaben moderner Architektur, und kaum irgendwo sonst
drückt sich der Wille der Gegenwart so klar aus wie in
dieser R ;esenhalie aus Glas und Eisen, die aus einem
breit hingelagerten Empfangsgebäude hervorwachsen. Der
Blick auf die Gleisanlagen bei der Einfahrt in die Groß-
stadt, mit dem Gewimmel von farbigen Lichtern, die an
der Erde hocken, und von strahlenden Bogenlampen, die

[Naclidruck verboten.]

auf riesigen Masten fast am Himmel hängen, mit dem verwirrenden Netz von
Schienensträngen, das sich unter diesen Lampen hinbreitet und die Züge unbe-
greiflich sicher verteilt, dieser Blick hat kaum seinesgleichen an vielfältigem
Reiz der Farben und Formen. Durchaus nicht braucht der Schienenweg eine
Landschaft zu zerstören; und wenn wir an der Natur einmal ihre Unberührtheit
schätzen und genießen, so kann es ein andermal doch sein,’ daß jene in
schlanken Windungen durch die Täler eilenden Eisenstraßen, die so leicht
über eine Schlucht setzen, hier aus dem Walde heraustreten und dort im Berge
verschwinden, erst die letzte Schönheit einer Gegend hervorlocken. Das Eben-
maß der Lokomotive, rnehr Organismus als Mechanismus, wird jeden entzücken,
der den Koloß in Ruhe betrachtet, wenn er gelassen an der Spitze seiner Wagen
auf das Signal wartet, das ihm den Lauf geradeaus, immer geradeaus freigibt, oder
wenn er im Schoß der Bahnhofshalle nach glücklich vollbrachter Reise mit
fliegendem Atem ausruht. Und der Zug in Fahrt hat uns etwas ganz Neues

v


Hans Stubenrauch: Im Iiippodrom.

1. Ziehet, ziehet, hebt! 2. Stolz lieb ich den Spanier.
 
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