Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 27.1912/​1913

DOI Heft:
10. Heft
DOI Artikel:
Anwand, Oskar: Traum und Dichtung
DOI Artikel:
Lessy, H.: Von der "Stillen Auster"
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.31170#0291

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
122

MODERNE KUXST.

MODERNE KUNST.

1 2 3

V

Leben empfangen, geschieht durch eine Macht
außer uns — eben das Leben; im Traume da'-
gegen und in der Dichtung vollzieht sich die
Verknüpfung und Umformung der Lebensele-
mente in neuer, selbständiger Weise — durch
die Seele des Menschen. Wie seltsam also: der
Traum, der den Menschen fremdartig anmutet,
stammt aus den Tiefen seiner Seele. Es ist,
als ob jemand im Spiegel seine eignen Züge
interessiert und befremdet beobachtet

Zugleich bieten Traum und Dichtung über
die Wirklichkeit erhöhtes Leben. Läßt nicht
das Drama im kurzen Rahmen eines Abends
Menschenschicksale reifen, die sich über Monate
und Jahre erstrecken, komplizierte Charaktere
sich enthüllen, ebenso wie der Traum eine
Fülle von Ereignissen und Erwägungen in wenig
Sekunden vor sich her jagt? In einer der
tiefsten und einfachsten Erklärungen, die es über
das Wesen des Dichters und der Dichtung gibt,
ruft Goethe aus, daß dies Leben der Wirklic.h-
keit für unsere Seele viel zu kurz sei. Deshalb
habe ein Dichter wie Shakespeare seine Existenz
über die vieler anderer, über Könige, Ritter,

Edeldamen, Greise, Jünglinge, Kinder, Mörder,

Strolche und Dirnen ausgedehnt. Daß sie ihm
das Leben „zur Ewigkeit erweitern“ soll, hat
Goethe von der Dichtung gefordert.

Ist es also wunderbar, daß die reichere,
vornehmere Schwester die andere gelegentlich
an ihre Tafel lädt! Besonders der Dramatiker
muß oft zum Traume greifen, um Seelenwand-
lungen, die scheinbar unvorbereitet und iremd-
artig kommen, dennoch aber aus der tiefstenSeele
stammen, auszudrücken. Tiefinnerliches zu ge-
stalten, das sich dem Zwiegespräch, der Hand-
lung und Gebärde entzieht, bleiben dem Dra-
matiker im Grunde nur zwei Ausdrucksmöglich-
keiten: der Traum und der Monolog. Hierbei
hat der Traum, der dem Zuschauer sichtbare
Bilder vor Augen stellt, als bühnengemäß vor
dem lyrischen, an sich undramatischen Mono-
loge den Vorzug.

Kein Wunder also, daß der größte Dra-
matiker aller Zeiten dem Traum in seinen
Werken eine bedeutsame Rolle zuweist. Dabei
klingt die uralte Bedeutung der Gesichte als
Wink des Schicksals mit dumpfem Ton an, ja
sie werden in Shakespeares Werken oft zu
einem Strafgerichte Gottes, zum Strafgerichte der eignen Seele über sich selbst.
Wer dächte hier nicht an den Traum des gekrönten Mörders Richard III. vor
der Entscheidungsschlacht, die ihm den Tod bringen soll. Als die Geister der
Ermordeten gegen ihn aufstehen und ihm ihr „Verzweifl’ und stirb!“ zurufen,
ist die grausige Kraft seiner Sicherheit, die ihn vor der Wirklichkeit niemals
zagen ließ, gebrochen; die Selbstverachtung und der Zweifel an der Treue
anderer werden in ihm wach. Daß diese Träume, die seherhaft auf das nahe
Verderben hindeuten, bei Shakespeare nicht selten vorkommen, beweist in dem-
selben Drama „Richard III.“ ein ganz ähnlicher Traum des Clarence, ehe er den
Mördern Richards anheimfällt. Dabei macht es im Grunde nichts aus, ob das
Scheinbild durch den Schlaf oder eine Art Halluzination hervorgerufen wird;
kann doch auch für den Wachenden Erregung oder Zerrüttung der Seele oder
ein Fieberausbruch die Quelle der Gesichte sein. Bei Shakespeare bildet auch
hier das Schuldgefühl vielfach den dunklen Untergrund, von dem sich die Geister-
erscheinungen mit fahlem Glanz abheben. So steigt vor Macbeth der Geist des
ermordeten Banquo beim Festmahl empor; ja schon der blutige Dolch, der ihn
zum Gemache des Königs hinweist, ist nichts anderes als sein Mordgedanke, der
Gestalt angenommen hat. So verkündet der Geist Cäsars seinem Mörder Brutus
vor der Schlacht bei Philippi in verschleierten Worten den Tod. Gleich der
Erinnys heftet sich das Gespenst des Erschlagenen an die Fährte des Täters.
Unter dem Einflusse Shakespeares beschwört Schiller in seinen Räubern auf
Franz Moor die grandiose Vision des jüngsten Gerichts herab, die freilich so
gewaltig ist, daß sie auf keiner Bühne dargestellt werden könnte, weshalb der
Dichter sie Franz Moor nur als Erzählung in den Mund legen mußte. Aber durch
die Wucht des biblischen Pathos hat sie eine fast religiöse Weihe bekommen,
aus der wiederum die Vorstellung des Traumes als göttlichen Gerichts wie mit
Posaunen hervordröhnt.

Um schließlich auch aus unserer modernen Literatur die Traumvision einer
von Schuld belasteten Menschenseele herauszugreifen, sei hier als Beispiel die
Szene aus Gerhart Hauptmanns „Versunkener Glocke“ genannt, in der sich dem

.

Glockengießer Ileinrich die Nebel des Abends zu den Gestalten seiner Kirnler
verdichten. In ihren Iländen tragen sie das Ivrüglein mit den Tränen, die ihre
Mutter, das von dem Glockengießer verlassene Weib, vergossen hat, ehe sie sich
im Gebirgssee den Tod gab. Auch hier tritt für die Hauptfigur des Dramas der
Wendepunkt zum Verderben mit der Traumszene ein.

Aber nicht allein als vernichtendes Gericht nach vollbrachter Tat, auch als
segensvolle Warnung, die von ihr abhält und somit wiederum einen Schicksals-
wink bedeutet, ist der Traum wiederholt von den Dichtern verwandt worden.
Ein klassisches Beispiel bietet Grillparzers „Der Traum ein Leben“, dieses aus-
gesprochene Traumdrama, in dem der Wirklichkeit vor dem Entschlummern des
Ilelden und nach seinern Erwachen r.ur ein kleiner Raum gegeben ist. Bei
weitem der größte Teil enthält die Gesichte des Jünglings Rustan, in denen er
selbst als der leidenschaftlich Ilandelnde auftritt. Der Traum verstrickt ihn
immer tiefer in Schuld und Verbrechen, bis der teuflische Dämon, der ihn zu
allen Untaten trieb, sich ihm in seiner wahren Gestalt offenbart. Das christliche
Moment, die Warnung vor eitlem Ruhm und verderbender Größe und der Ilin-
weis zur Bescheidung, die sich bei Grillparzer häufig finden, sprechen aus diesem
Traume mit voller Klarheit.

Gerade das Allerverschwiegenste und Heimlichste kann der Dichter aus der
Seele seiner Menschen durch den Traum Gestalt werden lassen; denn mit dem
scharf denkenden Geist und den Rücksichten, die er uns auferlegt, entschlummert
in uns auch der Selbstzwang. Die Seele legt ihre Schamhaftigkeit ab, als wüßte
sie, daß sie nur mit sich selber spricht. Gedanken und Bilder, Hoffnungen und
Ängste, die unsere Energie beim Wachen nicht über die Schwelle des Bewußt-
seins treten lassen würde, werden vom Stabe des Magiers Traum zum Leben
erweckt. Das wußte vor allem Heinrich von Kleist, der auch noch ein anderes
Moment aus dem Bereiche des Traums in seine Dichtung hinüberzieht. Da er
nämlich selbst wie ein Traumwandler, unter starkem inneren Zwange, weit mehr
vom Gefühl als vom Verstande geleitet, seine Werke schuf, gibt er auch seinen
?ern einen traumwandlerischen Zug. Dem Prinzen von

Homburg und Kätchen von Heilbronn. Jener windet sich als Traumwandler in
der Nacht vor der Schlacht bei Fehrbellin seinen eignen Lorbeerkranz und
flüstert der Prinzessin Natalie die Worte seiner heimlichsten Sehnsucht zu: „Mein

Mädchen, meine Braut“. Wachend hätte er
seine übervolle Seele wohl zu wahren gewußt.
Kätchen von Heilbronn, die der Ritter vom
Strahl bisher wie einen Hund aus seiner Nähe
gewiesen hat, antwortet in ihrem Traum
unter dem Hollunderbusch auf seinen Hinweis,
daß er sie nicht lieben könne, mit der vollen
Sicherheit des vorausahnenden Gefühls: „Ver-
liebt ja wie ein Käfer bist du mir“. Ähnlich
entringt sich auch aus der Seele des fieber-
kranken, in Visionen schwebenden Hannele bei
Gerhart Hauptmann, trotzdem es noch mehr
Kind als Mädchen ist, die erste Regung sinn-
licher Liebe, die gleichfalls beim Wachen kaum
zum Ausdruck gelangt wäre.

Die tiefste Ähnlichkeit zwischen Traum
und Dichtung liegt aber in der gleichen Art
des Schaffens, indem sie Phantasievolles, Un-
bekanntes aus Bekanntem heraus bilden. Für
Gerhart Ilauptmanns Hannele, das in Fieber-
visionen liegt, verwandelt sich die Gestalt des
Lehrers Gottwald mehr und mehr in Christus.
Dessen Lehre hat das Kind aus Gottwalds
Munde empfangen und diesen dabei angeschaut,
so daß die Gedankenverbindung eine immer
engere wurde und jetzt im Traume die letzte
Scheidewand fällt. Ganz ähnlich arbeitet die
Phantasie des Dichters und Künstlers, der
gleichfalls seine Eindrücke und Persönlichkeiten
dem Leben entnimmt, sie aber durch seine
Phantasie in Poesie umwandelt. Die Wirklich-
keit ist also zum Traumspiele tür den Dichter
geworden.

„All Dichtkunst und Poeterei ist nichts als
Wahrtraumdeuterei“ nach Richard Wagner.
Das wußte besonders die Romantik, ja sie hat
dieses Wort am tiefsten gefühlt. Im Gegensatz
zu dem wachen Menschen schien ihr die Natur,
schienen ihr Tiere und Dinge im Traume zu
schlummern, aus dem sie aber Dornröschen
gleich erweckt werden konnten. Das hat Eichen-
dorff in den Versen ausgesprochen:

„Schläft ein Lied' in ailen Dingen,

Die da träumen fort und fort,

Und die Welt hebt an zu singen,

Triffst du nur dies Zauberwort.“

Wie einst sind auch heute noch die Dichter —
Scher und Traumdeuter. Zwar legen sie nicht
mehr die Gefühle der Könige aus, aber König-
lieheres, Zukunftsträchtiges. Neue Träume, Hoffnungen, Gedanken, Gefühle,
Ängste und Sehnsüchte, die in der Menschenseele dunkel und verworren wogen,
heben sie in fester Gestalt zu lichtvoller Klarheit empor.

"\?on der „Sfillen Ausfer“.

v

Von H. Lessy (Lubinus).

Ss war das Wattenmeer — das Wattenmeer um die nordfriesischen
Inseln. Flach und grau am Strande, nach draußen, zum Horizont,
sich immer tiefer verfärbend, gleichsam aufschwellend zu der
dunkel schwarzblauen Linie der offenen See.

Und nun fegt die Regenböe lierab, eine dieser schnellen, wie Wogen
einander jagenden Böen, welche die aufkommende Flut begleiten, un-
erwartet heftig, wie ein jähzorniger Wutausbruch.

Es knatscht wie brutale Peitschenhiebe auf das zuckende Muskelspiel
dieser kurzen Wellchen. Der Strandhafer wühlt platt am Boden als ge-
schleiftes, gezerrtes Haar und als Läufer rast der Wind vorher, drückt
nieder, biegt zur Seite, packt flatternde Gewänder, schiebt vorwärts, dcm
stürzenden Wasser den Weg zu bereiten. Heiho, weiter, das gehört uns
jetzt, Bahn frei!

Die Tür kracht auf — der schmale, backsteinrote Flur der „Stillen
Auster“ is.t angefüllt mit Länn, I.achen, Rufen, raschelndem Absprühen
heller Kleider, klappernden Schritten.

[Nachdruck verboten.]

An der Tonbank steht er, der Herr der „Stillen Auster“, Yan Yannen.
Den so überraschend hereingeschwenimten Trupp Badegäste aus dem
Nachbardorfe beobachtet er mit der scharfäugigen Ruhe eines Fischers,
der plötzlich in einen gewaltigen Zug Schellfische geraten ist. Wie dieser
nach dern Angelgerät, tastet er hinter sich nach den Gläsern und Flaschen,
ohne einen Blick von seiner Beute zu wenden.

Das glattrasierte Gesicht ist ausgepolstert und glänzt wie eine ein-
farbige, hellrote Riesenbirne, die Stirn ist lächerlich schrnal gegen die
mächtige Kieferpartie. Die brutalen roten Stiernackenwulste deckt das
blaue Halstuch und in deni glühend wohlwollenden Wangenrund bemerkt
man nur beim genauen IJinsehen den lauernd eiskalten Ausdruck der
hellblauen Äuglein.

Und wer sieht dich so genau an, Yan Yannen? Die Badegäste nicht,
deren origineller Spaßvogel er ist, und die Fischer sind zu müde, wenn
sie hereinkommen, und der ewige blaue Hecht macht die niedrige Stube
noch dämmeriger und unsichtiger.
 
Annotationen