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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 27.1912/​1913

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10. Heft
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Buss, Georg: Frau Germania
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https://doi.org/10.11588/diglit.31170#0301

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MODERNE KUNST.

Frau

Germania.

[ nsere Kunst hat die Personifika-
tion des Deutschtums durch eine
hehre Frauengestalt erst im 19. Jahr-
hundert unternommen. Zwar wurden
schon frühzeitig „fromme Deutsclie“,

„deutsche Christen“ und „die deutsche
Nation“ in Poesie und Prosa zum Wider-
stande gegen dieTücke der Welschen und
die Raubzüge der Moslems angefeuert,
aber die Kunst ließ trotz ihrer Neigung
zum Allegorisieren eine Germania nicht
erstehen. Ganz natürlich, denn das na-
tionale Bewußtsein und der Gedanke an
eine gefestigte Reichseinheit waren in
jenen Tagen politischer Zerrissenheit
und Ohnmacht nicht stark und lebendig
genug, um die Künstler zu solcher alle-
gorischen Verkörperung zu begeistern.

Zwar haben Dürer, Burckmair, Baldung-
Grien und Cranach mit ihrer Kunst
Kaiser Maximilian reichlich gehuldigt,

aber in den Ehrenpforten, Triumphzügen und stofflich sehr frei behandelten
Zeichnungen zu den kaiserlichen Gebetbüchern ist von der Darstellung einer
stolzen und hoheitsvollen Germania nicht das geringste zu finden.

Um so seltsamer berührt es, daß von einer Germania im 16. Jahrhundert auf

italienischem
Bodcn die Rede
ist. Giorgio Va-
sari,derberühm-
te Verfasser der
im Jahre 1550
herausgegebe-
nen „Künstler-
biographien“, ist
es, der in der
Lebensbeschrei-
bung des Gior-
gione andeutet,
daß eine von
dem Künstler al
fresco gemalte
Frauengestalt an
der Fassade des
Fondaco dei Te-
deschi in Vene-
dig eine Germa-
nia darstellen
könne. DerFon-
daco dei Tede-
schi,jetztFinanz-
intendantur, war
das von der ve-
nezianischen Re-
publik unterhal-
tene Kauf- und
Gasthaus der

Deutschen, denen ausdrücklich vorgeschrieben war, nur hier Wohnung zu nehmen
und Handelsgeschäfte abzuschließen. Im Jahre 1505 wurde das Gebäude durch
einen Brand vernichtet, aber so schnell durch einen Neubau ersetzt, daß schon
am 1. August 1508 die feierliche Einweihung stattfinden konnte. Sechsundzwanzig
Warenlager umfaßte das Erdgeschoß, zwei Hallen und mehr als achtzig Zimmer
die. anderen Geschosse. Noch ist der Mietzins überliefert worden, den die Kauf-
leute jährlich für ein Zimmer zu zahlen hatten: zelm Dukaten für ein solches im
ersten und zweiten Stockwerk, acht Dukaten für ein solches im dritten. Gespeist
wurde gemeinschaftlich, und zwar im Sornmer in einem luftigen großen Saale,
im Winter in einem kleineren, der vorsorglich für warme deutsche Gemütlichkeit
mit einem gewaltigen Kachelofen ausgestattet war. Der Hof wies ringsum Galerien
auf, unten mit zwanzig, oben mit vierzig Bogen. Jetzt sieht der Bau, der an der
Rialto-Brücke liegt und eine seiner Fassaden dem Canale grande, eine andere
der Merceria, der Haupthandelsstraße der Stadt, zuwendet, recht düster aus, aber
damals muß er einen freundlichen, einladenden Eindruck gemacht haben — damals,
als die Fassaden noch mit der bunten Pracht ihrer Fresken prunkten.

Auch der junge Tizian ist an der Herstellung der Fresken beteiligt gewesen
— Vasari ist es ebenfalls, der diese Tatsache im Leben des Meisters mitgeteilt
hat. Urkundlich ist dann nachgewiesen worden, daß Tizian gerade den Teil der

Die Germania vom Fondaco dei Tedeschi in Venedig. Angeblich von Tizian.

Lorenz Clasen: Germania auf dem Meere.

Malereien am Fondaco ausgefiihrt hat,
zu dem die über dem Portal befindliche
„Germania“ gehörte. Erhalten ist von
den Fresken fast nichts mehr — was von
ihnen um die Mitte des 18. Jahrhunderts
noch zu sehen war, hat damals M. A. Za-
netti aufgenommen und in einigen Sti-
chen der Nachwelt überliefert. Dazu ge-
hört auch die „Germania“.

Von dem Typus, unter dem die hohe
Frau bei uns volkstümlich geworden
ist, hat jene Gestalt nichts an sich. Sie
stellt sich als jugendliches Weib mit.
schlicht frisiertem, perlendurchzogenem,
kurzem Haar und halbentblößter Brust
in leichter, phantastisch aufgebauschter
Gewandung dar. Am Eckrisalit eines
Monumentalbaues sitzend, hat sie den
Fuß ihres bis zunr Knie nackten linken
Beines auf das abgeschlagene Haupt
eines Mannes gesetzt, zu dem sie nieder-
blickt, während ihre Rechte eiu mächtiges Schwert schwingt. Vor ihr, tiefer als
sie, steht die fast vom Rücken gesehene Halbfigur eines zu ihr aufschauenden
Kriegers — eines Deutschen, wie Vasari sagt — in Plarnisch mit Armschienen
und Kappe, der mit der Rechten das Haupt des Getöteten gefaßt hat und mit der
Linken eine Waffe, anscheinend einen Dolch, hinter sich birgt.

Die Ansicht, ob diese judithartige Frauengestalt wirklich eine Germania dar-
stellen solle, sind geteilt: manche Kunsthistoriker halten sie für eine Justitia, die
den Zweck gehabt habe, den deutschen Kaufleuten vor dem Betreten des Fondaco
die Achtung vor dem Gesetze einzuschärfen. Es hält schwer beizupflichten,
denn das einzige Attribut der Gestalt, das Schwert, genügt nicht, um in ihr die
Personifikation der Gerechtigkeit zu sehen. Schon in alter Zeit wurde die
Justitia als eine der vier Kardinaltugenden mit Schwert und Palme, Wage und
Krone in den Händen dargestellt. Und wenn auch nicht alle vier Attribute bei-
gegeben wurden, so hat doch niemals die Wage gefehlt. Lieber läßt der Künstler,
wie schon aus den Miniaturen der Karolingerzeit hervorgeht, das Schwert fort,
ehe er auf die Wage verzichtet. Und von einer Wage ist bei der Gestalt am
Fondaco nichts zu sehen. So erscheint denn Vasaris Hinweis auf eine Germania
gar nicht so unbegründet, zumal das Gebäude selbst den Deutschen gewidmet war.

Ehe die Germania auf deutschem Boden erstand, vergingen Jahrhunderte.
Unter dem herrschenden Partikularismus, den Drangsalen verheerender Kriege
und der wachsenden Macht der französischen Mode wurde der nationale Stolz
geknickt und das Streben nach einem kraftvollen Ausbau des Reiches vollkommeii
unterbunden. Erst als kurz vor und nach den Befreiungskriegen die Arndt, Rückert,
Schenkendorf, Uhland und andere Sänger mit ihren Liedern das Deutschtum
weckten und begeisterten, begann sich der Bann zu lösen. Und als schließlich
gegen Mitte des
19. Jahrhunderts
derWunschnach
einem neuen
Kaiser, nach
einem solchen
aus dem Hause
der Hohenzol-
lern, lebendig
wurde, als die
Schleswig -Hol-
steinsche Frage
die Gemüter mit
einer gewaltigen
Machtergriff und
dann aufs neue
Frankreichs Ge-
lüste auf das
linke Rheinufer
hervorzutreten
begannen, als es
galt, deutsche
Erde und deut-
sche Ehre zu
schützen, da
hub auch das
Deutschtum an,
sich zusammeln,
sich gemeinsam

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XXVII. 10. Z.-Z

Lorenz Clascn: Gcrmania auf der Waclit am Rhein.
 
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