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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 27.1912/​1913

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13. Heft
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Ostler, Rudolf: Theater-Neuheiten
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https://doi.org/10.11588/diglit.31170#0382

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MODERNE KUNST.

^pheatep--

Deuheiten. -e-e^

xEg|w as Märchen ist auf der modernen Bühne
längst keine Seltenheit mehr. Seit das
™Kind des rohen, ewig betrunkenen Mau-
rers Mattern, Hannele, sich in Gerhart Haupt-
manns Drama kraft seiner Fieberträume über
die schmutzige Armenhäuslerumgebung erhob
und an der Hand des Heilands in die Pforten des
Paradieses einging — wurde das Märchen sogar
vom Realismus willkommen geheißen. Aber
zum Tierstück, das eine Art dramatisches Gegen-
spiel zu Goethes epischem „Reinecke Fuchs“
wäre, hat sich kein deutscher Dichter verstanden.

Wohl aber ein Franzose. Rostand erhob be-
kanntlich den Hahn „Chanteclair“ als Symbol
Frankreichs zum Helden seines gleichnamigen
Stückes, dessen handelnde „Personen“ eben Tiere
sind. Nun kommt ein Dichter, der gleichsam
zwischen Frankreich und Deutschland steht, der
Vläme Maurice Maeterlinck, irn Berliner Deutschen
Theater mit einem Märchen zu Wort, das Mensch,

Tier und unpersönliche Dinge auf die Bühne stellt.

An das alte Märchen naiven Stils knüpft
Maeterlinck an. Ähn'ich wie Ilänsel und Gretel
sind der Knabe Tyltyl und das Mädchen Mytyl
die Kinder armer Leute, die ihnen nichts zu
Weihnachten bescheren können. Ihre dadurch
erregte Traumphantasie verwandelt ihnen die
Nachbarin in eine Zauberin. Sie reicht ihnen
den Stein, durch den sie die Seele aller Dinge,
d. h. ihre vermenschlichte Pcrsönlichkeit und
ihren Charakter erkennen. So steht der Hund in seiner Treue, die Katze mit
ihrer Klugheit und unehrlichen List vor ihnen. Das parvenühafte, feige, aber
gutmütige Brot schneidet sich Stücke für die Kinder aus seinem Leib, der
gezierte Zucker bricht ihnen seine Finger ab, die immer wieder nachwachsen.
Ferner begleitet sie die freundliche Milch, das sanguinische Feuer und das
larmoyante, tränenselige Wasser.

Mit ihnen ziehen sie unter der Führung des Lichtes durch das Fenster aus,
um den blauen Vogel zu suchen, der an die blaue Blume der Romantik erinnert.
Dabei führen ihre Traumerlebnisse sie in das Reich der Nacht, die nicht nur
den blinkenden Sternenreigen, sondern auch die Kriege und Gespenster be-
herbergt, ferner auf den Friedhof, in das Land der Erinnerung, zu den wilden
Tieren und in das Schloß der falschen und wahren Freuden. Schon hieraus
erkennt man, wie das naive Märchen für Maeterlinck nur eine Unterlage bietet.
Seine Allegorien, die oft recht komplizierter Art sind, dienen ihm zur weisen
Deutung all des Wunderbaren, mit dem die Menschenseele umgeben ist, und das
in ihr wohnt. Von
diesen Szenen ist das
I.and der Erinnerung
die schönste. Aus
dem Grauen des
Kirchhofs gelangen
Tyltyl und Mytyl zu
ihren verstorbenen
Großeltern und ver-
storbenen Geschwi-
stern. Die aber leben
fort, wie einst über
der Erde. Großvater
raucht seine Pfeife,

Großmutter kocht
Krautsuppe, und die
Geschwister balgen
sich und lärmen wie
einst. Gewöhnlich
schlafen die Verstor-
benen; aber sie er-
wachen, wenn die
Lebenden ihrer ge-
denken. Das Wort
„tot“ verstehen sie
nicht; „es gibt keine
Toten“, so klingt
Maeterlincks tiefes
Wort. — Jn dieser
Szene hat der Dichter

die Mischung zwischen Ernst und Humor, die
dem Märchen oft eigen ist, in naiver, glücklicher
Gestaltung erreicht.

Sentimentaler und verstandesmäßiger ver-
fährt er in dem Schloß der wahren Freuden,
doch weiß er auch hier mit dichterischer Besee-
lung zu erschließen. Da nennt er lachende
Kinderfreuden, die z. B. von dem Spielzeuge aus-
gehen, ernstere stille Freuden des reiferen Men-
schen und Freuden so schwer, daß die Thräne
in ihnen lebt. Die Mutterliebe tritt den Kindern
in verklärter Gestalt entgegen. Ihr Kleid, das
ihnen von Seide gefertigt erscheint, besteht in
Wahrheit aus Blicken, Küssen und Zärtlichkeiten.
Von nun ab werden es die Kinder auch durch
den groben Kittel der Mutter daheim erkennen.
Das Licht, das vielen falschen Freuden, wie z. B.
der Völlerei und dem Nichtstun nicht nahen
konnte, darf sich der Mutterliebe getrost ent-
hüllen. Dabei blinken beider Augen voll Tränen,
als sie sich umarmen.

Auch in solchen glücklich erfundenen Sze-
nen muß sich der Betrachter mit dem lyrischen
Stimmungsgehalte begnügen. Dadurch ermüden
die schwächeren Stellen des Märchenspieles leicht.
Der Schluß zeigt die Kinder am Morgen beirn
Erwachen. Nach ihrer langen Traumwanderung
finden sie den blauen Vogel daheim in ihrer
Stube, wo er im Bauer schon immer war. In ihrern
Glücksgefühl schenken sie ihn einem kranken
Mädchen, das sofort gesundet. Der Vogel entflattert; aber er wird neu gesucht
und neu gefunden werden, denn ohne ihn und ohne das Suchen nach ihm können
die Menschen nicht leben.

* *

*

Ist schon dieses Märchen im Grunde undramatäsch, so hat Thomas Manns
„Fiorenza“ noch weit weniger Eigenschaften, die ihm auf der Bühne zum Siege
verhelfen. Dieser feinempfindende Dichter begnügt sich hier mit Charakter-,
Kultur- und Milieuschilderungen, um das Florenz Lorenzo Magnifico’s abzuspiegeln.
Ein dramatischer Kontrast findet sich erst am Schluß, der ein Anfang und die
Grundlage des Dramas hätte sein sollen. Da steht der düstere, fanatische Mönch
Savonarola der weltfrohen Renaissancenatur Lorenzo gegenüber. Zwei unver-
söhnliche Gegner. Und doch deutet Thomas Mann auf ihr Gemeinsames. Denn
ist das Ideal, das der Mensch verficht und für das er stirbt, nicht häufig sogar
der Gegensatz seiner Natur? Gehört ferner mehr Mut, Kraft und Ernst zur Lebens-
auffassung der Freude als der Entsagung? — Florenz wird in Manns Drarna

durch Fiore, das
schöne, buhlerische,
berechnendeWeib mit
dem Sphinxlächeln
symbolisiert, das sich
dem Mächtigsten hin-
gibt. Bisher war sie
die GeliebteLorenzos.
Nun, da er auf den
Tod erkrankt liegt,
sieht sie sich nach
dem Mächtigsten als
ihren neuen Geliebten
um. Lorenzos Sohn
Piero weist sie ab,
da er kein Held sei.
Der Zuschauer weiß,
daß sie dafür Savo-
narola kurze Zeit zu
eigen war, sich dann
aber wieder von
ihm wandte. Es sind
also rnehr nur Uber-
legungen und Ge-
danken anstatt un-
mittelbarer Empfin-
dungen, die Thomas
Mann zu erwecken

Maurice Maeterlinck: „Der blaue Vogel".
Mytyl (Mathilde Danegger) und Tyltyl (Lia Rosen).
Phot Hans Bühm.

vermag.

Dr. Rudo/J Ostler.

XXVII. 13. Z.-Z.

-t-, iiY r-' - , ,r ■ , Phot. Hans Elöhm.

Ihomas Manns „biorenza tn den Kammerspielen:

Die Auseinandersetzung zwischen dem sterbenden Lorenzo Magnifico (Paul Wegener) und Girolamo Savonarola (Lothar Koerner).
 
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