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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 27.1912/​1913

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2. Heft
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Wohlbrück, Olga: Der eiserne Ring, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.31170#0048

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MODKRNK KUNST.

'9

Ulysse Caputo: Probe.

f)er eiserne T^ing.

Von Olga Wohlbriick.

[Fortsetzuny.] --

lo stancl Thomas am Telcphon und hörte den Vortrag übcr die
mütterliche Leber, während der erste Gang äuf dem Tische
stand und kalt wurde. Da die Mama sehr detailliert erzählte,
konnte er auf die AVeise auch um den Braten kommen. Leise hängte er
ab. Um nachzukommen würgte er den Fisch so schnell hinunter, daß
ihm fast eine Gräte im Halse steckengeblieben wäre.

Eine Stunde später klingelte eine der Schwestern an: M'ämä wäre
aufs höchste gekränkt. Wie hatte er denn nur abhängen können? Mama
hätte sich erst eine halbe Stunde, mit der Telephondame herumgezankt,
weil sie nicht glauben wollte, daß Thomas so ungezogen gewesen wäre.
Das beste wäre schon, er käme selbst, sich entschuldigen.

Er könnte nicht. Er hätte Akten dürchzulesen.

'Dora schmollte.

„Lächerlich, Thomas. Es ist ja zum Einschlafen dasselbe: hundert
Mark Strafe oder eine Woche Gefängnis. Du hast ja nicht einen einzigen
interessanten Fall. Und ob der Angeklagte Schulze oder Miiller heißt —
darüber kannst du dich vor der Sitzung orientieren.“

Dora lachte gern ins Telephon hinein.

„Wenn du kommst, ziehe ich mein neues hellblaues Kleid an. Dir
zu Ehren. Für dich ganz allein, mein Herr Bruder . .

Und er mußte unwillkürlich lächeln, dankte der Schwester die harm-
lose, kleine Koketterie, für die er so empfänglich war, und die bei frem-
den Frauen hervorzurufen, seine Schüchternheit ihn hinderte.

Go.pyright 1912 by Kich. Bong.

„Ich werde mal-sehen, Dorchen, grüß’ Mama . .

Um vier Uhr brachte dhm der Gerichtsbote neue Akten. Die Gleich-
artigkeit der Falle.wareh.er eine Erschwerung als eine Erleichterung.
Dazu kam seine peinliche Gewissenhaftigkeit, ein menschliches Mitleids-
gefühl für den armen Teufel dort auf der Anklagebank, dem er rächen-
des Schicksal sein sollte.

Eigentlich hatte Thomas Delfert Philologe werden wollen. Aber die
Familie hatte ihr Veto eingelegt. Er sollte nur Jus studieren, der gute
l'homas, wie es bei den Delferts Tradition war. Jede Generation mußte
ihre zwei, drei Dr. jur. aufweisen. Auch der Vater war Dr. jur. gewesen.

Thomas hatte bei cliesen Erörterungen geäußert, er wolle mit Men-
schen und nicht mit Aktenmaterial zu tun bekommen. Der Gedanke, im
Bureaudienst sein.Leben zu verbringen, wäre ihm unerträglich. Wenn er
nicht Lehrer sein clurfte, wollte er Rechtsanwalt werden.

Und abermals wurde er von allen Seiten gedrängt, diese Idee auf-
zugeben. Nur die Staatsanwaltskarriere war der Delferts würdig. Ein
Großonkel und ein Vetter mütterlicherseits waren sehr bedeutende Staats-
anwälte gewesen. Die Delferts hatten von jeher dem Staate gedient.
Rechtsanwälte waren eigentlich Frondeure. .

Sie brachten einen unerquicklichen, oppositionellen Geist in die
Familie. Und überbaupt ...

Er war zu jung damals, um gegen den Willen der Familie aufzu-
kommen. Und wenn er später wie ein störrisches Pferd manchmal sein
 
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