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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 27.1912/​1913

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12. Heft
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Kauder, Gustav: Hosenrollen
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https://doi.org/10.11588/diglit.31170#0356

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MODERNE KUNST.

osenrollen.

Von Guslaf Kauder.

Josenrollen sind eigentlich keine Angelegenheit, von der man in guter
Gesellschaft viel spricht. Im Leben sind solche Verkleidungen polizei-
lich verboten und nur für kurze Stunden bei Masken- und Künstlerfesten
erlaubt. Die Frau in Ilosen ist selbst als scherzhafte Verkleidung eine Er-
scheinung von perversem Beigeschmack, und auch auf dem Theater behält sie
den Charakter einer etwas aufdringlichen Sexualität. Es hat oft geistig hoch-
stehende Frauen gegeben, die es liebten, für den Verkehr mit Männern Männer-
tracht und männliches Gebaren anzulegen, um voraussetzungslose Kamerad-
schaftlichkeit zu betonen. Aber zvveifellos hat jede Frau, die sich in Männer-
kleidung steckte, den Kitzel eines seltsamen erotischen Erlebnisses empfunden.
Und wenn es auch stillschweigende Konvention geworden ist, die theatralische
Darstellung von Ilosenrollen als harmlöse Pikanterie anzusehen, so blieb doch
die Diskusion der Materie gesellschaftliches Glatteis.

Die Hosenrolle ist in der Schaupielerei nicht zu alt. Die Frau war bis
zum Ende des 17. Jahrhunderts im allgemeinen von der Bühne aus ethischen
Gründen überhaupt ausgeschlossen. Zwar kennen wir
heute schon in den Shakespeareschen Dramen Hosen-
rollen, aber sie waren vom Dichter wohl kaum als solche
gedacht, und diese Besetzungspraxis dürfte sich erst später
herausgebildet haben. Die ersten Hosenrollen sind wahr-
scheinlich in der italienischen Maskenkomödie kreiert
worden, die* eine Mischung von Ballett, Oper. und Aus-
stattungsstück war. In der Maskenkomödie gab es gewiß
noch keine Hosenrollen als Einzeldarstellung, sondern nur
im Tanzensemble und in der Komparserie. Die Hosen-
rollen waren also damals, was sie später wieder wurden,
lediglich eine sozusagen dekorative und kostümlicne An-
gelegenheit. — Erst das Singspiel und die daraus ent-
wickelte Oper des 18. Jahrhunderts brachte solistische
Hosenrollen. Mozarts Cherubim, Glucks Orpheus (neben-
bei eine Hosenrolle ohne Ilosen), Beethovens Fidelio,

Bellinis Romeo sind bekannte Beispiele. Uebrigens war
für die Ausarbeitung musikalischer Hosenrollen kein dra-
matisches Motiv entscheidend, sondern nur der Wunsch
nach Abwechslung und Mischung menschlicher Stimm-
farben. Eine Ausnahme machte nur Beethovens Fidelio,
dessen Verkleidung dramatisch begründet ist (wie über-
haupt dieses Werk vor andern Opern seiner Zeit durch
einen strengeren dramatischen Sinn ausgezeichnet ist). Mit
der Oper übernahm auch das Schauspiel die Flosenrollen,
und man besetzte gern Knaben- und Jünglingsrollen mit
Frauen. Auf diese Art wurde der Georg in Götz von
Berlichingen eine der ersten klassischen Iiosenrollen. 1m

[N’achdiuck verboten]
eben noch keine dra-
matische Angelegen-
heit, sondern lediglich
ein prickelnder Ko-
stümscherz, so daß man
im P'ranzösischen Ho-
senrollen „travestis“,
d. h. schlechtweg Ver-
kleidungen nannte. —
Das blieb die Hosen-
rolle bis zum Auftre-
ten der Dejazet.

Die Dejazet hat
schon als Kind die
Bühne betreten, und

Magde Lessing a]s King Louis XVI.
Phot. Ernst Schneider, Berlin.

allgemeinen blieb die
Ilosenrolle auf die
harmlose Komödie
beschränkt, da man
ihre sexuellen Neben-
wirkungen fürchtete.
(Es ist z. B. charakte-
ristisch für den ein
wenig biirgerlichen
Dichtersinn Schillers,
daß er die Jungfrau
von Orleans stets nur
imFrauengewand auf-
treten läßt, obwohl
gerade diese Figur
außerordentlich viel
von der pathologi-
schen Tragik des
Mannweibs enthält;
weshalb sie moderne
bildende Künstler am
liebsten in männlicher
Rüstung darstellten.)
Die Hosenrolle war

Maria Labia als Page in Verdis Maskenball.

Phot. Ernst Schneider, Berlin.

es ergab sich von selbst, daß sie viel Knaben- und Pagen-
rollen spielte. Aber diese wirklich geniale Frau, die einen
männlich-kaustischen Witz (es sind von der Dejazet eine
fülle von Bonmots, Epigrammen, prägnant formulierten
Anekdoten überliefert, in denen allen ein einzigartiger
Geist wetterleuchtet) und eine satirische Darstellungskraft
besessen haben soll wie seither keine Schauspielerin mehr,
schuf sich selbst den Typus’ einer Hosenrolle, die zum
erstenmal eine innere Berechtigung, eine dramatische Er-
klärung ihrer Zwitterhaftigkeit mitbrachte. Sie schuf den
Typ des Gamins, der eine ganze Komödienliteratur zum
Aufblühen brachte (z. B. „Der Pariser Taugenichts“). Sie
schuf einen phantastischen, bisexuellen Bühnencharakter,
der unerhörte Zweideutigkeiten, unglaubliche Frechheiten
aus der Natur seines Wesens heraus sagen konnte, Frech-
heiten, die aus dem Munde eines Mannes unerträglich, aus
dem Munde einer Frau unmöglich geklungen hätten. Eine
solche Figur entfesselte aber die erotische Phantasie, den
sinnlichen Witz der romanischen Völker in ungeahnter
Weise, und das ist das literarische Verdienst der Dejazet.
Sie soll auch Frauenrollen vollendet dargestellt haben und
hat später zuerst die bis dahin unbeachteten Sardouschen
Dramen beliebt gemacht; aber ihrenTriumph entschied diese Auffassung der Flosen-
rolle, die ihr Weltruf und Welterfolge brachte. Ihre Beliebtheit in Paris war grenzen-
los. Sie ist noch als fast siebzigjährige Frau nach iängerer Abwesenheit von
Paris dort in einer Ilosenrolle aufgetreten, und diese Vorstellung brachte eine
Einnahme von 60000 Francs und für die Künstlerin einen Erfolg, wie ihn Paris noch

nicht gesehen hatte. Man nannte damals Hosenrollen kurzweg „Dejazets“.-

Fortab war die Iiosenrolle populär und wurde eine Zeitlang fast unver-
meidlich in Oper, Schauspiel und Operette. Z. B. war einer der größten Lust-
spielerfolge, der der „Renaissance“, durch die Hosenrolle des Vittorino bestimmt.
Allmählich verwischte sich aber wieder mit der Häufung ihrer Anwendung ihr
spezieller Charäkter, sie wurde wieder zu einer oberflächlichen, dekorativ-
sinnlichen Spekulation der Btihnenmache (Moser, Bendix, Schönthan). Im selbpn
Maß, in dem eine strengere Wahrung dramatischer Wahrhaftigkeit, eine Ver-
tiefung des künstlerischen Stils in der moderen Produktion angestrebt wurde
fing die Hosenrolle an, aus künstlerischen Bühnenwerken zu verschwinden.

Die Oper hat bis zu Richard Wagner immer Hosenrollen gekannt (z. B.
Mignon, die Meyerbeerschen Opern), und Wagner selbst hat noch in seinem
„Rienzi“ die große Hosenrolle des Adriano geschrieben. Die musikdramatischen
Tendenzen und der Verismus haben sie dann aus der Oper entfernt, in die sie
erst neuerdings seit der Wiederanknüpfung an den Mozartschen Stil zurück-
zukehren beginnt (z. B. Richard Strauß’ „Rosenkavalier“). Übrigens wird die
Hosenrolle in keiner Opernmode ganz aussterben, und zwar aus den erwähnten
klangkoloristischen Gründen, sowie in Kinder- und Pagenrollen, die mangels Ka-
stratenstimmen eine Frauenstimme erfordern (Humperdincks „Hänsel und Gretel“).

Geraldine Farrar als Mignon.

XXVII. 12. Z,Z.
 
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