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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 27.1912/​1913

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2. Heft
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Schüler, Paul: Berliner Sommerfreuden
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https://doi.org/10.11588/diglit.31170#0052

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24

erfiner

ommerj’reuden

Von Paul Schüler.

ferlin ist niemals schöner, a!s wenn die Berliner auf Reisen sind: dies Be-
kenntnis kann man selbst aus dem Munde guter und vvaschechter Spreeathener
vernehmen, denen es völlig fernliegt, sich und ihre engeren Landsleute zu
verunglimpfen. Denn wenn Berlin auf Reisen ist, dann sind immer noch genug

Berliner zu Hause geblieben; und
wenn Hunderttausende, flucht-
ähnlich und weil es in Berlin auf
einmal „nicht mehr zum Aus-
halten ist", sich an die See und
ins Qebirge ergießen, dann bleiben
immer noch Hunderttausende zu-
rück, von dem Bestreben erfüllt,
die Lücken zu ergänzen, die sich
etwa in der Leipziger und Frie-
drichstraße, bei Wertheim und
Kempinski, im „Zoo“ und in
der Ausstellung fühlbar machen
könnten. Die zahlreichen Frem-
den, die auf den Anblick eines
weltstädtischen Treibens und
eines ausgebildeten Nacht-
lebens vorbereitet sind, dürfen

äf ;


Berliner Sommerfreuden: Große Fliegerkonkurrenz auf dcm Tempelhofer Felde.

ja doch in ihren Erwartungen nicht getäuscht werden. Wäre Berlin wirklich im Sommer
so unerträglich, wie es ein nur allzu fest eingewurzeltes Vorurteil glauben machen
möchte, würden sich dann wohl die vielen Qäste aus England, Frankreich, Amerika
ausgerechnet den Juli und August für einen Berliner Aufenthalt erkoren haben?

Berlin steckt voller Sommerfreuden; man muß sie nur zu finden wissen. Du
gehst zum Beispiel die Tiergartenstraße entlang und freust dich über ihre Stille: kein
Huppenkonzert, kein Benzingestank, keine Lebensgefahr beim Überschreiten der Dämme;
genau wie einst, da diese Prachtstraße noch nicht den Chauffeuren, sondern den —
Millionären gehörte. Jetzt kommt ein riesiger Wagen daher, gefüllt mit Fremdlingen,
die in Staffelreihen hintereinander sitzen und von dem Manager mit Iauter Stimme
ur.d unentwegt arbeitendem Arm über den Rolandbrunnen, die Rousseauinsel, das

[Nachdruck verboten.]

Wagnerdenkmal orientiert werden. Du aber ziehst deine Straße fürbaß und freust
dich, daß du nicht mit da oben auf dem Wagen sitzest, und freust dich ferner über
die vielen Bekannten, die du — nicht triffst, weil sie sich für eine Weile aus dem
Staube gemacht haben. Wie schön ist doch so ein Spaziergang, wenn nicht alle Nase-

lang jemand kommt, der anschei-
nend kein anderes Interesse hat, als
von dir zu erfahren, wann du reist,
wohin du reist, und warum du noch
nicht weg bist. So ein fanatischer
Reiseonkel, der nur den einen Qe-
danken hat: nun aber raus! kann
es sich ja nicht vorstellen, daß es
Berliner gibt, die freiwillig zu Hause
bleiben. Für ihn ist die Verkündung
eines solchen Entsc'hlusses gleich-
bedeutend mit der Konkursanmel-
dung; und aus dem Blicke, mit dem
er dein Qeständnis entgegennimmt,
geht deutlich hervor, daß er dir
sein Mitleid schenkt, seinen Kredit
aber entzogen hat. Du quittierst
über diesen Blick mit einem still-
schweigenden, aber verachtungsvollen: Haben Sie ’ne Ahnutrg!

Da ist zum Beispiel das Tempelhofer Feld. Nun ja, ein
Paradies ist es ja nicht; auf der öden Sandfläche gedeihen nur
hin und wieder ein paar Qräser, und die einsame Paradepappel
bietet auch weniger vom botanischen als vom militärischen Stand-
punkt aus Interesse. Soldatenstiefel sind das Einzige, was auf
diesem Boden sein Fortkommen findet. Vom Zeitungspapier kann
man das nicht sagen: das bleibt liegen als Wahrzeichen fiir zahl-
reiche Wurst- und Käsestullen, welche hier den Weg ins Freie
gefunden haben. Denn das ist charakteristisch für uns Berliner: wir haben immer
Angst zu verhungern; wir entfernen uns nicht gern von Hause, und wäre es auch nur
stundenweise, ohne uns reichlich mit Proviant versehen zu haben. Wenn Vater mit
Kind und Kegel — der Kegel besteht aus Qattin und Schwiegermutter — aufs Tempel-
hofer Feld zieht, dann ist er vorsichtig genug, allemal eine geräumige Tasche mitzu-
nehmen, die alles enthält, was erforderlich ist, um sich und seiner Familie einen
qualvollen Hungertod vom Leibe zu halten. So folgt man einesteils dem Qebot des
Selbsterhaltungstriebs, andernteils gibt man sich den Aufregungen eines spannenden
Luftsports hin, indem man farbige Ballons und buntbewimpelte Drachen steigen läßt.
„Wir propellern uns so durch", antwortete mir ein Berliner Junge auf die Frage, was
er denn die ganze Zeit auf dem Tempelhofer Feld mache. An Sommertagen, wenn
ein wenig Wind geht, bewegt sich Deutschlands stolzeste Luftflotille über diesem
Fleckchen Erde, lauter Zeppelins und Parsevals und alle unbedingt lenkbar: denn man
hat sie an der Strippe. Jung und alt folgt den Bewegungen dieser bunten Fische, die
das Luftmeer durchkreuzen, und die technischen Ausdrücke, mit denen man sie
begleitet, rühren von geübten Aviatikern her; kurzum, der Flugplatz Johannistal hat
eine gefährliche Konkurrenz erhalten. „Weißt du, Vater, was ich mir wünsche?"
fragt ein Dreikäsehoch, der die Hände in den Hosen dem Zickzackkurse der Drachen-
schwänze nachsieht: „ich wünsche mir ein lenkbares Luftschiff.“ „Und ich", antwortete
der Vater prompt, „ich wünsche mir ein Ienkbares Söhnchen." Und während man
die Hälse reckt und wie gebannt in die Höhe starrt, berichtet er seinen Damen ernst-
haft von def letzten Pariser Neuheit, dem sogenannten Propellerhut, der nicht nur
getragen wird, sondern seine Trägerin selber trägt und in den Stand setzt, sich mühelos
in die Lüfte zu erheben. „So wäre denn die Zeit nicht mehr fern“, schließt er seinen
von Ausrufen des Unglaubens begleiteten Bericht, „wo das Dienstmädchen Minna auf
die Frage, ob die Herrschaft zu Hause sei, nicht mehr antworten wird: ,Die Qnädige
ist ausgegangen 1, sondern: ,Unser Drachen ist ausgeflogen'."

Es muß wohl auf einer Art Naturgesetz beruhen, daß die Freuden der Ein-
heimischen vielfach auf anderm Boden blühen als die Vergnügungen der Fremden.
Diese pflegen sich nach Hotelportiers und Reiseführer zu richten, und so bekommt
das Pensum, das sie abarbeiten, das Aussehen eines ein für allemal feststehenden
Programms, das sie nach Sanssouci und auf die Rennbahn, ins Cafe Bauer und
zu Picadilly fiihrt. Eine Reihe von Lokalen und Oärten sind sozusagen neutrale
Terrains geworden, wie z. B. der Lunapark, der Einheimische und Fremde mit gleicher
Liebe in seine weiten Arme schließt. Aber seine schönsten Freuden erlebt der Berliner
doch an Orten, die kein Baedeker nennt und kein Sternlein verrät, mag es sich nun
um Quellen handeln, daraus ein guter Tropfen fließt — für „kühle Blonden“ hat der
Fremdling im allgemeinen kein Verständnis —, oder um die idealeren Qenüsse, die
eine echte Berliner Landpartie bietet. Da fahren die alten, wackeren Kremser zum
Brandenburger Tor hinaus, einer hinterm andern in gemächlichem Zuckeltrab; auf
der Chaussee fängt schlecht und recht die „Kapelle" an zu spielen, und an der
 
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