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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 27.1912/​1913

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11. Heft
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Krell, Max: Die andere Natur
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https://doi.org/10.11588/diglit.31170#0318

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Die andere Tlatur.

Von Max Krell.

[Naclidruck verboten.]

den wiisten Haufen. Kein königliches Posaunenschmettern hetzt sie in die Schlacht.
Die Wut, die Lust, der Hunger und im Herzen das gewaltige Fieber nach dem
Großen, das erscheinen soll.

Abel Verlot begreift nicht, was er mit dem Bajonett soll. Man hat es ihm an
die Schulter gedrückt — fort! Stiirmen, schießen? Er hätte mit dem Grabscheit ge-
stürmt, mit dem Stocke geschossen. Es war ja alles ganz gleich. Nur vorwärts
drängen, mittun, Haß entladen gegen irgendwen.

Sie sagen, gegen die Kartätschen der Bastille. Ganz gleich. Fort! Fort! Er ist
ganz voran im Zug. Alle seine Glieder sind eine Bewegung, ein Drängen nach einem
Ziele, das irgendwo liegt. Andere werden es wohl wissen.

Und durch die Gassen bricht die
wälzende Flut. Schrille Lieder und
Flüche schlagen in die sonnige Juliluft.
Wieder ruckweise — aber schneller —
stößt sich der Keil durch die Stadt.
Ein Puls, der klopft und qualvoll
drängt. Die Ordnung zerreißt sich.
Es wird ein wüstes Laufen. Die Zweiten
stoßen die Vorderen — eine Jagd nach
einem Phantom, von dem sich niemand
ein Bild macht. Sie überstürzen sich,
rollen, schlagen, fallen zurück — raffen
sich auf, stürmen nach. Nur die Ersten
bleiben. Sie führen die Blindheit und
die Leidenschaften.

Abel Verlot.Hei, Abel

Verlot, woher hast du Bauernjunge
deinen Zorn? Was brennst du lichterloh
in Haß? Ist dein Marquis nicht ein
lieber, sanfter Herr? Abel Verlot, wohin
willst du mit dem zertrümmerten Ge-
wehr? Abel, Kind, was rnacht dich
zum Helden? Zum Herrn eines hundert-
tausendarmigen Pöbels?

Sturmglocken bellen in den Orkan.
Hat der Satan sich den jüngsten
Tag vonGott gestohlen? Pfaffen, warum
heult ihr nicht zum Himmel?

GraueGreisewarnen. IhreStimmen
versinken unter Hohn. Denn es gibt
keine Hemmung, keine Macht, auf die
ein einziger hört — es sei denn das
maßlose Fieber, das alle peitscht.

Ein vieltürmiges, finsteres Haus,
grau und alt und mit manchen neuen
Zubauten, die Bastille.

An den Luken stehen breitmäulige
Kanonen. Aber noch ehe sie zu singen
beginnen, brüllt der wilde Schrei der
Masse, ein breiter Donner, auf. Die
dreißigtausend Gewehre werfen sprü-
henden Hagel gegen die Mauer, die
so ruhig, so ungerührt, so fett und
dick dasteht.

Eine Kartätsche rollt zur Antwort.
„Heraus, ihr Hunde", schreit Abel
Verlot. „Laßt die Brücke herab! Laßt
die Gefangenen frei. Die Kanonen von den Scharten!"

Der Graukopf de Launay will nicht. Sein König hat ihm gesagt: „Du mußt das
alte Haus erhalten." Er bleibt.

„Launay, heraus mit deiner Bande! Heraus! Wir lassen dir den Hals. Aber
heraus. Es soll keine Mauer gegen uns mehr sein. Wir befehien es dir, Launay,
wir, die Pariser, die Franzosen!"

Der Alte schickt die Parlamentäre fort. Und läßt die Kanonen richten.

Die Masse, die zum Meere geströmt um die feste Mauerinsel brandet, zittert, als
sei ein Gewittersturm in ihren Körper gedrungen. Die Gewehre jagen tausende
Schüsse . . .

Steinern steht die Bastille.

Die Führer des Haufens, die anerkannten und die hitzigen Sprecher wie Abel
Verlot, fordern den alten Baron zur Übergabe auf.

„Ihr habt keine Leute, keinen Proviant, keine Munition. Wenn ihr schießt, tötet
ihr zwanzig von uns, und neue tausend füllen das Leck. Und eure Kugeln gehen
nutzlos aus. Wehe, wenn euch unsere Wut erschlägt. Gebt euch jetzt, jetzt!“

Saris, die Stadt, war ein gewaltiger Schoß. Unter Gären und Drängen wollte
sich eine Frucht zum Leben ringen. Seltsames Rufen gellte durch die Straßen,
. tausend Männerschreie, in denen die Tränen eines Jahrhunderts zitterten . . .
Waffen! Waffen! Waffen!

Wir wollen nicht Vieh sein, das ihr totschlagt!

Wir wollen nicht eure Knechte sein, ihr Fresser, Säufer und Weibergesindel!

Wir wollen uns nicht länger schänden lassen! . . .

Dieser Morgen kannte keine langsame Ernüchterung. Ein Sturm warf das
Leben in die Stadt. Aus den Straßenadern flossen Menschenfluten zueinander.
Horden, Trupps, Ziige, lose Ketten, einzelne, unregierte Bataillone.

Der Hausbesorger Abel Verlot —
ein Kind der Bauern, des frühen Tages
und der Frische — schlenderte durch
die Vorstadt. Er war verärgert über
den gestörten Morgengang. Bekleidet
mit dem blauen Staatsfrack und der
Grandezza eines Subalternen war er
durch die Rosengärten seines Herrn ge-
stelzt. Wie immer, wenn der Marquis
de Reveillaud verreist war. Er hatte
den Geruch der Erde geschlürft und
in die Ferne gestarrt, wo, weit hinter
der Isle de France, ein Stück Land,
ein ganz bestimmtes Stück Land lag.

Er hatte nicht weiter gedacht, wann
— wie — auf welchem Weg er einmal
nach Hause gelangen wiirde. Aber an
den Acker und an die Ochsen und an
die Lieder, die er dann beim Pflügen
singen und pfeifen wollte. Nun brach
dieses Pöbellärmen in seine Fröhlich-
keit. Die Stadt war wild und konvul-
sivisch wie ein Nest von Ungeziefer.

Seine Einfalt verstand die Massen nicht,
die dem König die Fäuste unter die
Nase fuchtelten, die brüllten, tobten,
die die Königin mit Schimpf besudelten,
die mit Fußtritten und Kolbenstößen
eine zweifelhafte Gerechtigkeit auf einen
Blutthron stießen. Sie lockten ihn
schon lange. Sie quälten ihn, daß er
helfen solle ihren Hungerbrand mit
adeligem Blut zu löschen.

Da sind sie wieder. Und er
kann nicht vor ihnen ausweichen. Ein
Schreien und Dröhnen ist um sie. Sie
schieben sich, ein zusammengepreßter
Koloß, vorwärts, stoßweise, wie der
Keil, den der Hammer treibt. Bald
haben sie den einzelnen erreicht. Abel
Veriot ist unter ihnen. Verschlungen,
begraben in der ungehemmten Flut.

Willenlos. Schwach und ein steuer-
loser Kahn. Seine Träume sind ver-
flogen. Er kennt keine Gedanken
mehr. Er sieht und fühlt das Ganze,
das Große, das Treibende, das jeden
Widerstand zerbricht. Das ist die Woge eines mächtigen Stroms.

Ein geheimes Fieber, eine ansteckende Krankheit, springt von den andern Kör-
pern auf ihn über. Es frißt sich in seine Hautporen. Das Auf und Ab ihres Bluts
stößt durch seine Adern. Von Sein und Geschehen weiß er nichts. Eine milch-
neblige Wolke liegt um sein Bewußtsein. Er sieht nur, daß welche stürzen und
von dem vielfüßigen Ungeheuer zertreten werden. Ihr Blut sprenkelt Kleider und
Hände. Und das Blut ist wie ein Lebendiges, wie ein kreisendes Signal, das Gier,
Rache, Angst und Glauben auslöst, einen unerhörten Glauben: es müsse etwas Großes
kommen. Die Millionen Schreie dröhnen wieder: „Waffen! Waffen!“, als sollten davon
die Mauern des Invalidenhauses stürzen. Menschen, Offiziere des Königs, stehen an den
Fenstern des grauen Gebäudes. Rufe springen herab, hinauf. Worte plänkeln. Zu-
stimmung und Ablehnung. Aber sie wollen die dreißigtausend Musketen haben.
„Waffen! Waffen!" Sie alle schließen sich zu einer rasenden leibgewordenen Drohung,
die nicht zu mißachten und zu brechen ist.

Das Knarren der sich öffnenden Tore verknirscht in dem großen Atemzuge, den
der einbrechende Strom tut. Ein ungesprochener Befehl armiert das Volk und ordnet
 
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