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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 27.1912/​1913

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23. Heft
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Heilborn, Adolf: Alte Nester
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https://doi.org/10.11588/diglit.31170#0706

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C. Krafft: Das Krantor in Danzig.

Alte Nester.

Von Adolf Heilborn.

n seinem vielbesprochenen Reisebuch „In Deutschland“ sagt Jules Huret,
der geistvolle französische Publizist, einmal etwa: Äm meisten hätte er
^-^43 sich über die vielen, vielen alten Städtchen gewundert, die voll intimster
architektonischer Reize und voll der liebenswürdigsten Kunst wären, und die
doch merkwürdigerweise kein Mensch in Deutschland wirklich zu kennen scheine.
Hätte man in Frankreich derlei Köstlichkeiten, diese lieben alten Nester wären
längst hochgerühmte Wallfahrtsorte aller künstlerisch Empfindenden.

Der Vorwurf dieser Worte trifft uns in der Tat: wir haben allüberall in
Deutschland tausend Herrlichkeiten und stille, rührende Schönheiten, und nur
ganz wenige wissen darurn. Wir suchen allenthalben nur Panoptikumberühmt-
heiten, haben (mit Fontane zu reden) „gröbliche Augen, die gleich einen Gletscher
oder Meeressturm verlangen, um befriedigt zu sein“. Es ist so, als wäre uns
das künstlerische Verständnis unserer Ahnen abhanden gekommen, als fehlte
uns das Organ zur Aufnahme so verinnerlichter Reize, uns, die wir schon zu
lange an die üble Kost des lauten, hohlen Prunks gewöhnt sind. Wir sind bitter
arm an zarterer Empfindung geworden, weil wir zu reich an hartem, blanken
Silber wurden, und nur in feineren, höheren Geistern nagt unablässig die Sehn-
sucht, die aus all der Übersättigung hinausdrängt zu Einfacherem, Schlichtem,
Gesundem. Daß solche Sehnsucht aber, in manchem vorerst ein unklarer Drang
zur Flucht in die „Natur“, zur Flucht aus dem lärmenden Häusermeer der Groß-
stadt, heute wächst und wächst, ist als erfreuliches Symptom beginnender

[Nachdruck verboten.J

Genesung und Selbstbesinnung zu begrüßen. Und wie leicht ist dieser Sehn-
sucht ein Heilquell gefunden: wir brauchen ja nur einmal ein paar Schritte von
der großen Straße abzubiegen! Denn sie sind wirklich überall da, diese
schmucken, alten Nester mit ihren heimeligen Köstlichlceiten, man muß nur Augen
haben, sie zu sehen, sie liebevoll betrachten können.

Ich denke noch mit hellem Entzücken an meine erste Entdeckungsfahrt
solcher Art. Ein sonniger Maienmorgen im Lahntal. Gießen lag hinter mir und
Wetzlar, dem ich in Erinnerung an Goethe und Werther einen kurzen Besuch
abgestattet, und weiter ratterte der Zug: der blaue Strom in mancher Krümme
blitzend, Dörfchen und Felder und Rebenhügel, dahinter verblauend Wälder
und Berge. Und immer weiter ward nun dasTal, .und immer mächtiger rauschte
der Fluß, durch Felsen sich grabend, in Wiesen sich breitend, jetzt plötzlich ein
hohes Wehr, darüber es in Kaskaden schäumt, ein steinernes Brücklein und oben
und mitten im Grün Schloß Runkel. Das trotzt so auf den Fluß hernieder und
schaut doch so behäbig drein. Und auf der Terrasse oben junge Mädel, sie
winken mit weißen Tüchlein und rufen herüber. Und dann bin ich über die
Brücke geschlendert und um die Burg herum und in den Schloßhof heimlich
hineingeschlichen, da kletterte zu allen Fenstern Efeu und Wein empor, und
lustiges Plaudern und Lachen klang hinab, und all die Türmchen und Erker
glänzten vor Behagen. Und weiter ging’s zu Fuß nach Limburg, nach Diez und
seitlich dann nach Katzenelnbogen, ein Nest immer köstlicher als das andere.

XXVII. 73.
 
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