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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 27.1912/​1913

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6. Heft
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Ertel, Jean Paul: Musikplagiate
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https://doi.org/10.11588/diglit.31170#0165

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Paul Herrmann: Studie zu einem Deckengemälde. Große Berliner Kunstausstellung 1912.

Musikplagiate.

Von Dr. Paul Ertel.

Sls die achte Sinfonie Gustav Mahlers in Beriin aufgeführt wurde, ertönten
allenthalben Stimmen, die diesen „genialen Eklektiker“, wenigstens in-
direkt, unzulässiger musikalischer Anleihen bei andern beschuldigten. In
der Tat kann man daran nicht vorübergehen, daß manche ganz frappierende
Anklänge an längst Bekanntes, Feststehendes vorliegen. Das können selbst die
enragiertesten Freunde Mahlers nicht abstreiten. Aber — so müssen wir uns
fragen — ist es denn überhaupt heute noch möglich, eine wirklich originale
Melodie ohne irgendwelche Anklänge zu finden? Alles ist in irgendeiner Form
schon einmal dagewesen. Oft sind es nur zwei oder drei umgestellte Töne, die
die Melodie von einer bereits bekannten unterscheiden, oder nur der Rhythmus,
oder nur das Zeitmaß! Bei modernen Operetten ist es überhaupt kaum noch
möglich, von einer Originalität zu sprechen, so viel Bekanntes und Anerkanntes
tönt an unser Ohr. Zuweilen nur eine kleine, anscheinend neue Nuance, aber
der Kern des Ganzen ist uns wohlbekannt. Dann sagen wir mit einer treuherzigen
Naivität: Das hat er von dem „gestohlen“. Es kommt indessen auf den Fall an.

Zunächst muß einmal zwischen bewußter und unbewußter Entlehnung unter-
schieden werden. Der traurigste Fall ist natürlich der erste, sofern nicht eine
ganz bestimmt erkennbare Absicht oder ein noch näher zu bestimmender künst-
lerischer Umstand dieses eigentümliche Verfahren rechtfertigt. Der direkte
geheime musikliterarische Diebstahl ist natürlich eine Schande für den Entlarvten,
und es müssen schon ganz besondere Umstände sein, die dafür als Entschuldigung
ins Treffen geführt werden können. Die jüngste Zeit kennt zwei hervorragende
Fälle dieser Art. Ließ da jüngst ein junger Komponist einige Kammertnusik-
werke in einer Soiröe vor geladenem Publikum aufführen. Die Stücke waren
gut, und man interessierte sich für den Autor lebhaft, um sein Talent zu fördern,
da stellte sich durch einen Zufall heraus, daß es sich um selten gespielte Kom-
positionen von Sigismund Noskowski handelte. Natürlich hatte der Berliner
„Autor“ nach dieser unerwünschten Entdeckung jeden Halt in der Reichshaupt-
stadt verloren. Noch viel krasser liegt ein Fall, der in Wien entlarvt wurde.
Ein junger, selbstverständlich sehr talentvoller Autor trat mit Sinfonien an die
Öffentlichkeit, die zwar nicht gerade modern genannt werden konnten, aber doch
infolge ihrer vorzüglichen Satzkunst Aufsehen erregten. Man fing an, sich für
den hoffnungsvollen Tondichter zu interessieren, ihn mit Geld zu unterstützen;
da ereignete sich der unangenehme Zwischenfall, daß der berühmte Josef Rhein-
berger mit Sicherheit als ursprünglich wahrer Tondichter festgestellt wurde, dessen
Schöpfungen (Orgelsonaten usw.) mit einigem Geschick von dem Pseudokompo-
nisten instrumentiert waren. Er mußte es an der Hand der drückenden Beweise
selbst zugestehen. Einer der peinlichsten Fälle der Neuzeit. Das „Schmücken

- [Nachdruck verboten.]

mit fremden Federn“ war hier, wo eine Entdeckung doch sehr leicht befürchtet
werden konnte, geradezu wahnwitzig. Fast möchte man an eine psychopathische
Erscheinung glauben, wenn man nicht der reelleren Basis der Wichtigtuerei und
der Eitelkeit das Wort reden müßte. Denn um diese bösen Dinge handelt es
sfch dabei meistens. Der unberühmte und ehrgeizige Komponist will sich schnell
einen Namen auf Kosten eines andern, berühmten machen. Doch Lügen haben
bekanntlich kurze Beine, und gerade deshalb muß man den Mut dieser „Plagia-
toren“ bewundern, daß sie sich vor einer Entdeckung sicher fühlen. Einmal
kommt es doch heraus. Wir haben übrigens merkwürdige historische Beispiele
solcher „musikalischen Diebe“.

Ein zu Pländels Zeiten lebender berühmter Opernkomponist Giovanni
Battista Buononcini hatte sich in London unmöglich gemacht, als bekannt
wurde, daß er ein Madrigal von Lotti unter seinem Namen einfach abgeschrieben
hatte. Aber ein recht seltsames Kapitel muß hier dem „Musikriesen“ Händel
selbst gewidmet werden. Die eingeweihten Fachmusiker kennen es, das große
Publikum weiß davon so gut wie nichts. Der berühmte Georg Friedrich Händel,
dessen unsterbliche Werke (Messias u. v. a.) wir immer bewundern, war einer
der markantesten Musikplagiatoren, freilich nicht oder noch nicht erwiesen in
seinen bedeutendsten Werken. An diese Angelegenheit geht man nicht gern
ohne einiges Zaudern heran; denn niemand, am allerwenigsten der Händel-
Enthusiast, läßt sich seine Verehrung für den geliebten Narnen verkümmern. Aber
die Tatsache an sich läßt sich nicht bestreiten. Im Jahre 1907 hat der Engländer
Taylor in seinem Werke: „The Indebtedness of Haendel to Works of other
Composers“ die Originale mit Händels Plagiaten verglichen. Neulich war auch
in einem Berliner Programmbuche davon die Rede. Es ist leider eine fest-
stehende Tatsache, daß der vielgerühmte Händel ganze Seiten anderer Autoren
wörtlich in seine Werke übernommen hat, ohne die Quelle dabei zu zitieren.
Einige erklären damit beinahe sarkastisch sein schnelles Schaffen. (Den „Messias“
schrieb Händel z. B. in der Zeit von drei Wochen!) Es ist aber immerhin eine
traurige Berühmtheit, auf Kosten anderer „schnelt zu schaffen“. Trotz dieses
anerkannten Defekts, der möglicherweise in der Zeitrichtung lag, dürfen wir die
Kunst eines Händel nicht unterschätzen; er hat aus „Eignem“ nachweislich so
viel Gewaltiges, die Zeit Überdauerndes erfunden, daß man ihm den unangenehmen
Lapsus nicht alizu sehr nachtragen darf. Wenn das „Capriccio Kuku“ (Auto-
gramm in der Königl. Berliner Bibliothek) von Kerll, der als Wiener Hof-
organist in Prag 1679 weilte, nicht nur für das Allegro eines Orgelkonzerts von
Händel, sondern sogar für Sebastian Bach maßgebend geworden ist, so ist
des Staunens kein Ende. Johann Sebastian Bach, dieser genialste aller histo-

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