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Humoreske von Carl von Schimmelpfennig.
s war in den ersten Tagen des März. Freundlich sah die Friihlingssonne auf
das kleine Städtchen mit seinem altertümlichen Rathause, dem schiefen Kirch-
turme, seinen schmucken Straßen; alles verschönte sie und verklärte sie, so
daß selbst das altersgraue Gymnasium einen traulichen Anblick gewährte. Aber das
war nur äußerlich; drinnen in den Klassenzimmern tobten noch Winterstürme, und
wie einst Zeus von den Höhen des Olympos, so sandten hier die Herren Professoren
von der Höhe des Katheders Donnerkeile auf das erschreckte Volk zu ihren Füßen.
Besonders gewitterschwanger war aber die Atmosphäre in der Obersekunda; da be-
sprach der junge Dr. Hellmut das letzte lateinische Extemporale, welches für die
Versetzung nach Prima maßgebend werden sollte.
„Nun aber kommt das Schlimmste, ein wahres Majestätsverbrechen an der edlen
Sprache des Cicero und Tacitus“, donnerte er. Ein hübscher, schlank und sehnig ge-
wachsener Schüler auf der dritten Bank senkte den roten Kopf noch tiefer und zeigte
dadurch an, daß ihm die Philippika des Philologen galt. „Ja, ein Staatsverbrechen!
Wenn man so etwas schreibt, dann beweist man nicht nur, daß man kein Stilgefühl,
kein Organ für die Sprachästhetik hat; nein, man beweist auch, daß man in der
simplen Grammatik ein roher Barbar ist. Wildner, treten Sie vor die Klasse, damit
jedermann Sie anstaunen kann! Dieser Mensch hat — man halte es für möglich! —
als Passiv von facio das ungeheure Wort ,facior‘ gebildet! Ja, ,facior‘, obwohl
schon jeder Quintaner weiß, daß es natürlich, selbstverständlich, ordnungsgemäß ,fio‘
heißen muß!"
Die ganze Obersekunda tat entrüstet, obwohl viele still bei sich dachten, das
hätte ihnen auch passieren können. Dr. Hellmut aber fuhr mit einem vernichtenden
Blick auf seinen Schüler fort: „Unter solchen Umständen kann ich nicht umhin, Sie,
Wildner, darauf aufmerksam zu machen, daß ich Ihnen in Latein ein genügendes
Zeugnis zu erteilen nicht in der Lage bin!“
Sonst war Hans Wildner der Tollste der Tollen, und wenn irgendwo innerhalb
der Schule oder draußen ein kecker Streich verübt war, so konnte man sicher darauf
wetten, daß er ihn ausgeheckt und vollführt hatte. Heute aber schlich er kleinmütig
nach Hause. Die Donnerrede des jungen Philologen, der in seinem Elternhause ver-
kehrte und mit seiner Schwester Elise so gut wie verlobt war, berührte ihn zwar
nicht sehr tief, aber das Fatale an der Geschichte war dies, daß sie gerade vor der
Versetzung nach Prima passierte. Wie, wenn Dr. Hellmut seine Drohung wahr-
machte? Mit einem „Ungenügend“ in Latein war die Versetzung so gut wie aus-
geschlossen.
Hans, mit seinen fast achtzehn Jahren, war schon etwas Menschenkenner; er
hatte nicht vergebens Tanzstunde gehabt, nicht umsonst bei dem würdigen Direktor
Professor Schmiedeberg in der Literaturstunde die Klassiker gelesen. „Der Mann
wird durch ein Wort der Frauen weit geführt!“ Ja, so sagt der Dichter, und der
windige Obersekundaner beschloß danach zu handeln. Kaum war das Mittagessen
vorbei, dem der Hausherr, Geheimrat Wildner, wegen einer Operation in seiner KHnik
nicht hatte beiwohnen können, kaum hatte die Mutter eine gesegnete Mahizeit ge-
wünscht, da pürschte sich Hans an seine Schwester heran: „Ist’s dir recht, Lieschen,
wenn ich zu dir in dein Stübchen komme? Wie weit ist denn das neue, reizende
Aquarell, an dem du malst?"
Die Geschwister gingen die Treppe hinauf nach der Giebelklause, die Elise zu
ihrem Atelier umgestaltet hatte, Hans etwas beklommen, Elise aber verwundert über
das plötzliche Interesse des Bruders an ihrer Malerei; denn sonst fragte er nie danach
und sprach höchst verächtlich von „Farbenklexen" und „Pinselbonzen". Es war eine
kleine Landschaft — Durchblick durch ein Stadttor auf die Anlagen —, welche Elise
nicht ungewandt auf die Leinwand geworfen hatte.
„Ein famoses Ding," sagte Hans, indem er sich eine Zigarette ansteckte, „riesig
natürlich! Wer kriegt das?“
„Tante Martha zum Geburtstage."
„So? — Ich dachte eigentlich, es wäre für eine ganz andere Person bestimmt;
der Perspektive wegen. Denn ich kenne einen Jemand in der Stadt, der in ,Per-
spektiven', ,Stilgefühl‘ und ,Ästhetik‘ groß ist und auch sonst ein famoser Kerl wäre,
wenn ihn nicht die unsterblichen Götter zu einem traurigen Philologen gemacht hätten.
Na, sag mal, Liesel, wann verlobt ihr euch eigentlich?“ Er legte den Arm keck um
die schlanke Taille der Schwester, die ihn errötend abwehrte.
„Du jedenfalls könntest von ihm viel lernen, Hans," sagte sie, „zunt mindesten
Zartgefühl. So wie du würde er niemals fragen.“
„Ach nö, das glaub’ ich schon! Er würde vieles besser machen als ich! Er
würde beispielsweise nicht .facior' schreiben!“
„Facior? Was ist das, Hans?“
„Garnischt ist es, Liesel, und doch etwas! Ein Nichts, das mir die Versetzung
nach Prima, den Eintritt in die Marineschule, bei der ich doch schon so gut wie an-
genommen bin, die Zukunft, mein Gliick, mein Leben kosten kann! Ein Fehler ist
es, den Hellmut zu einem Staatsverbrechen macht, um dessenwillen er mir in Latein
.ungenügend' geben wird. Zwar in Englisch und Mathematik bin ich gut, aber wenn
ich in Latein versage — du begreifst, teures schwesterliches Haupt —, dann bin ich
glattweg verratzt, verpatzt — ex, einfach ex! Noch ein Jahr in Obersekunda sitzen —
lieber sterben!“
[Nachdruck verboten.]
„Aber was ist denn da zu machen, Hans, du armer Junge?!"
„Oh — zu machen wäre schon etwas — — — tja —■ sieh mal, wenn etwa —
wenn beispielsweise jemand, auf dessen Urteil Dr. Hellmut großes Gewicht legt, ihm
gut zuredete, ihm vorstellte, daß Irren menschlich ist, daß ein elendes Wort, sechs
erbärmliche Buchsfaben, nicht über Sein oder Nichtsein entscheiden dürfen, daß Nach-
sicht eine der edelsten Tugenden ist — wenn du, liebes Schwesterlein, ihm vor-
stelltest — —"
„Ich, Hans, ich?“
„Natiirlich du, Liesel, du, seine dereinstige Penelope, die er anbetet. Wenn du
,facior‘ schreiben würdest, ich glaube, er würde alle römischen Historiker für Esei
halten und einen Eid darauf ablegen, die feingebildeten Damen Roms bätten immer
,facior‘ gesagt — lieber Gott, ich finde, es klingt wirklich ganz nett!"
Elise Wildner sträubte sich einige Zeit gegen die ihr zugemutete Rolle, aber
schließlich versprach sie, ihr Bestes zu tun. Hans aber beschloß, seine Sache auch
noch auf andere Weise sicherzustellen. Mit zerknirschter Miene schlich er zu seiner
Mutter und beichfete ihr das mißglückte Extemporale.
„Du siehst, Mamachen, daß es mit der Versetzung nichts wird. Bitte, bereite
den Papa vor! Ich will ja gern noch ein Jahr in der Obersekunda sitzen, aber das
Schlimme ist nur, daß ich dann zur Marine zu alt werde; du wirst leider niemals
deinen Jungen in der schmucken, blauen Seemannstracht erblicken! Ach — und zu
allen andern Berufen habe ich gar keine Lust! Und in Mathematik und Englisch
bin ich doch auch gut. Und der alte, gute Direktor nennt mich jetzt schon immer
den ,kleinen Nelson' — ach — ich könnte heulen, und das alles wegen ,facior‘!"
Die Geheimrätin war eine sehr energische Dame und sehr ehrgeizig. Es genügte
ihr nicht an dem anerkannten Ruf ihres Gatten als trefflichen Chirurgen, sie wollte
auch die Kinder in der Welt vorwärts bringen. Und wo liegen in unserer Zeit die
Aussichten günstiger als in der Marine? So hielt sie dem Sohne zunächst eine Straf-
predigt, an der gemessen die Donnerrede des Dr. Hellmut ein sanftes Frühlingssäuseln
war. Dann aber schellte sie nach Umhang, Hut und Schirm und begab sich zu einer
Kaffeevisite zu ihrer Freundin, der Frau Direktor Schmiedeberg. Unterwegs, bei
Konditor Dolcetti, wurden einige Einkäufe gemacht, und eine Viert'elstunde später
saßen die beiden Damen einander gegenüber am behaglichen Kaffeetische.
„Und Sie nehmen es mir nicht übel, liebe gnädige Frau, wenn ich zu diesem
improvisierten Kaffeebesuch auch meinerseits etwas beisteuere — ich habe von unserm
guten Dolcetti ein paar Kuchen mitgebracht."
„Ah, Sahnentörtchen, mein Lieblingskuchen — nein, wie aufmerksam — in der
Tat, Kranzler in Berlin hat sie nicht besser.“
„Ja — ich esse sie auch gern, und meine Kinder schwärmen dafiir. A propos,
Kinder — was macht denn Ihr Jüngster, liebe Frau Direktor, der Mediziner?"
„Paul sitzt tief in der Arbeit, er steht dicht vor dem Physikum; der arme Junge,
hätte er es erst hinter sich — in Berlin wird auch so schwer geprüft.“
„Mein Mann hat viele Freunde in der Berliner Fakultät — wenn wir Ihnen mit
einer Empfehlung helfen könnten — lieber Gott, ein gutes Wort gibt persönliches
Interesse, und wem man menschlich näher steht-"
„Sie sind überaus gütig; eine Empfehlung von Geheimrat Wildner, die öffnet
natürlich alle Türen und alle Herzen. Wir wären Ihnen außerordentlich dankbar, und
was in unsern Kräften steht — aber Sie, liebe Freundin, bedürfen niemals einer Hilfe!"
„Doch, doch, Liebste, sorgenlos ist niemand. Sehen Sie, mein Hans, ein so be-
gabter Junge, tüchtiger Mathematiker — und Englisch liest er wie Wasser — aber
Latein — Latein ist seine schwache Seite."
„Aber ich bitte Sie, liebste Wildner, Hans ist doch der Versetzung sicher — ich
will natürlich heute abend sofort mit meinem Manne sprechen — — darf ich noch
einmal eingießen?"
„Bitte sehr — nein, dieses Aroma! Ein unvergleichlicher Kaffee!“ — —
Eine Woche später fand im Gymnasium die Versetzungskonferenz statt. Um den
großen Tisch saßen die Lehrer, in der Mitte Professor Schmiedeberg, der Direktor,
ihm schräg gegenüber Dr. Hellmut. Jeder einzelne der Schüler wurde geistig vor
diesen Äropag gestellt, und wehe dem, der nicht als völlig tadellos befunden wurde;
so kam auch der Obersekundaner Hans Wildner an die Reihe. Seine Pädagogen
stellten ihm im gänzen ein leidliches Zeugnis aus, nur die antiken Sprachen ließen zu
wiinschen übrig.
„Griechisch möchte ich noch gelten lassen," sagte Dr. Hellmut, „aber Latein?“
„Ist der Schüler da wirklich so auffallend schwach?“ fragte der Direktor. Der
junge Philologe kämpfte einen schweren Kampf. Elisens liebliches Gesichtchen stand
vor seinem Geiste, das so flehend und so traurig ausgesehen hatte, als kürzlich auf
die Leistungen des Bruders die Rede gekommen war. Sie hatte ihn zwar in taktvoller
Weise nicht geradezu gebeten, aber er hatte doch aus ihren schönen dunkeln Augen
gelesen, was sie verschwieg. Aber dann tauchte vor seinen geistigen Blicken das
ernste Minervenhaupt auf, das daheim auf seinem Schreibtische stand: die Wissen-
schaft und die Wahrheit über alles! Atnicus Plato, magis amica — veritas!
„Wildner ist sehr schwach,“ sagte er. „Ich kann für die Versetzung nicht
stimmen. Wer noch als Obersekundaner ,facior‘ schreibt, ist für die höchste Stufe
des humanistischen Gymnasiums nicht reif."
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Humoreske von Carl von Schimmelpfennig.
s war in den ersten Tagen des März. Freundlich sah die Friihlingssonne auf
das kleine Städtchen mit seinem altertümlichen Rathause, dem schiefen Kirch-
turme, seinen schmucken Straßen; alles verschönte sie und verklärte sie, so
daß selbst das altersgraue Gymnasium einen traulichen Anblick gewährte. Aber das
war nur äußerlich; drinnen in den Klassenzimmern tobten noch Winterstürme, und
wie einst Zeus von den Höhen des Olympos, so sandten hier die Herren Professoren
von der Höhe des Katheders Donnerkeile auf das erschreckte Volk zu ihren Füßen.
Besonders gewitterschwanger war aber die Atmosphäre in der Obersekunda; da be-
sprach der junge Dr. Hellmut das letzte lateinische Extemporale, welches für die
Versetzung nach Prima maßgebend werden sollte.
„Nun aber kommt das Schlimmste, ein wahres Majestätsverbrechen an der edlen
Sprache des Cicero und Tacitus“, donnerte er. Ein hübscher, schlank und sehnig ge-
wachsener Schüler auf der dritten Bank senkte den roten Kopf noch tiefer und zeigte
dadurch an, daß ihm die Philippika des Philologen galt. „Ja, ein Staatsverbrechen!
Wenn man so etwas schreibt, dann beweist man nicht nur, daß man kein Stilgefühl,
kein Organ für die Sprachästhetik hat; nein, man beweist auch, daß man in der
simplen Grammatik ein roher Barbar ist. Wildner, treten Sie vor die Klasse, damit
jedermann Sie anstaunen kann! Dieser Mensch hat — man halte es für möglich! —
als Passiv von facio das ungeheure Wort ,facior‘ gebildet! Ja, ,facior‘, obwohl
schon jeder Quintaner weiß, daß es natürlich, selbstverständlich, ordnungsgemäß ,fio‘
heißen muß!"
Die ganze Obersekunda tat entrüstet, obwohl viele still bei sich dachten, das
hätte ihnen auch passieren können. Dr. Hellmut aber fuhr mit einem vernichtenden
Blick auf seinen Schüler fort: „Unter solchen Umständen kann ich nicht umhin, Sie,
Wildner, darauf aufmerksam zu machen, daß ich Ihnen in Latein ein genügendes
Zeugnis zu erteilen nicht in der Lage bin!“
Sonst war Hans Wildner der Tollste der Tollen, und wenn irgendwo innerhalb
der Schule oder draußen ein kecker Streich verübt war, so konnte man sicher darauf
wetten, daß er ihn ausgeheckt und vollführt hatte. Heute aber schlich er kleinmütig
nach Hause. Die Donnerrede des jungen Philologen, der in seinem Elternhause ver-
kehrte und mit seiner Schwester Elise so gut wie verlobt war, berührte ihn zwar
nicht sehr tief, aber das Fatale an der Geschichte war dies, daß sie gerade vor der
Versetzung nach Prima passierte. Wie, wenn Dr. Hellmut seine Drohung wahr-
machte? Mit einem „Ungenügend“ in Latein war die Versetzung so gut wie aus-
geschlossen.
Hans, mit seinen fast achtzehn Jahren, war schon etwas Menschenkenner; er
hatte nicht vergebens Tanzstunde gehabt, nicht umsonst bei dem würdigen Direktor
Professor Schmiedeberg in der Literaturstunde die Klassiker gelesen. „Der Mann
wird durch ein Wort der Frauen weit geführt!“ Ja, so sagt der Dichter, und der
windige Obersekundaner beschloß danach zu handeln. Kaum war das Mittagessen
vorbei, dem der Hausherr, Geheimrat Wildner, wegen einer Operation in seiner KHnik
nicht hatte beiwohnen können, kaum hatte die Mutter eine gesegnete Mahizeit ge-
wünscht, da pürschte sich Hans an seine Schwester heran: „Ist’s dir recht, Lieschen,
wenn ich zu dir in dein Stübchen komme? Wie weit ist denn das neue, reizende
Aquarell, an dem du malst?"
Die Geschwister gingen die Treppe hinauf nach der Giebelklause, die Elise zu
ihrem Atelier umgestaltet hatte, Hans etwas beklommen, Elise aber verwundert über
das plötzliche Interesse des Bruders an ihrer Malerei; denn sonst fragte er nie danach
und sprach höchst verächtlich von „Farbenklexen" und „Pinselbonzen". Es war eine
kleine Landschaft — Durchblick durch ein Stadttor auf die Anlagen —, welche Elise
nicht ungewandt auf die Leinwand geworfen hatte.
„Ein famoses Ding," sagte Hans, indem er sich eine Zigarette ansteckte, „riesig
natürlich! Wer kriegt das?“
„Tante Martha zum Geburtstage."
„So? — Ich dachte eigentlich, es wäre für eine ganz andere Person bestimmt;
der Perspektive wegen. Denn ich kenne einen Jemand in der Stadt, der in ,Per-
spektiven', ,Stilgefühl‘ und ,Ästhetik‘ groß ist und auch sonst ein famoser Kerl wäre,
wenn ihn nicht die unsterblichen Götter zu einem traurigen Philologen gemacht hätten.
Na, sag mal, Liesel, wann verlobt ihr euch eigentlich?“ Er legte den Arm keck um
die schlanke Taille der Schwester, die ihn errötend abwehrte.
„Du jedenfalls könntest von ihm viel lernen, Hans," sagte sie, „zunt mindesten
Zartgefühl. So wie du würde er niemals fragen.“
„Ach nö, das glaub’ ich schon! Er würde vieles besser machen als ich! Er
würde beispielsweise nicht .facior' schreiben!“
„Facior? Was ist das, Hans?“
„Garnischt ist es, Liesel, und doch etwas! Ein Nichts, das mir die Versetzung
nach Prima, den Eintritt in die Marineschule, bei der ich doch schon so gut wie an-
genommen bin, die Zukunft, mein Gliick, mein Leben kosten kann! Ein Fehler ist
es, den Hellmut zu einem Staatsverbrechen macht, um dessenwillen er mir in Latein
.ungenügend' geben wird. Zwar in Englisch und Mathematik bin ich gut, aber wenn
ich in Latein versage — du begreifst, teures schwesterliches Haupt —, dann bin ich
glattweg verratzt, verpatzt — ex, einfach ex! Noch ein Jahr in Obersekunda sitzen —
lieber sterben!“
[Nachdruck verboten.]
„Aber was ist denn da zu machen, Hans, du armer Junge?!"
„Oh — zu machen wäre schon etwas — — — tja —■ sieh mal, wenn etwa —
wenn beispielsweise jemand, auf dessen Urteil Dr. Hellmut großes Gewicht legt, ihm
gut zuredete, ihm vorstellte, daß Irren menschlich ist, daß ein elendes Wort, sechs
erbärmliche Buchsfaben, nicht über Sein oder Nichtsein entscheiden dürfen, daß Nach-
sicht eine der edelsten Tugenden ist — wenn du, liebes Schwesterlein, ihm vor-
stelltest — —"
„Ich, Hans, ich?“
„Natiirlich du, Liesel, du, seine dereinstige Penelope, die er anbetet. Wenn du
,facior‘ schreiben würdest, ich glaube, er würde alle römischen Historiker für Esei
halten und einen Eid darauf ablegen, die feingebildeten Damen Roms bätten immer
,facior‘ gesagt — lieber Gott, ich finde, es klingt wirklich ganz nett!"
Elise Wildner sträubte sich einige Zeit gegen die ihr zugemutete Rolle, aber
schließlich versprach sie, ihr Bestes zu tun. Hans aber beschloß, seine Sache auch
noch auf andere Weise sicherzustellen. Mit zerknirschter Miene schlich er zu seiner
Mutter und beichfete ihr das mißglückte Extemporale.
„Du siehst, Mamachen, daß es mit der Versetzung nichts wird. Bitte, bereite
den Papa vor! Ich will ja gern noch ein Jahr in der Obersekunda sitzen, aber das
Schlimme ist nur, daß ich dann zur Marine zu alt werde; du wirst leider niemals
deinen Jungen in der schmucken, blauen Seemannstracht erblicken! Ach — und zu
allen andern Berufen habe ich gar keine Lust! Und in Mathematik und Englisch
bin ich doch auch gut. Und der alte, gute Direktor nennt mich jetzt schon immer
den ,kleinen Nelson' — ach — ich könnte heulen, und das alles wegen ,facior‘!"
Die Geheimrätin war eine sehr energische Dame und sehr ehrgeizig. Es genügte
ihr nicht an dem anerkannten Ruf ihres Gatten als trefflichen Chirurgen, sie wollte
auch die Kinder in der Welt vorwärts bringen. Und wo liegen in unserer Zeit die
Aussichten günstiger als in der Marine? So hielt sie dem Sohne zunächst eine Straf-
predigt, an der gemessen die Donnerrede des Dr. Hellmut ein sanftes Frühlingssäuseln
war. Dann aber schellte sie nach Umhang, Hut und Schirm und begab sich zu einer
Kaffeevisite zu ihrer Freundin, der Frau Direktor Schmiedeberg. Unterwegs, bei
Konditor Dolcetti, wurden einige Einkäufe gemacht, und eine Viert'elstunde später
saßen die beiden Damen einander gegenüber am behaglichen Kaffeetische.
„Und Sie nehmen es mir nicht übel, liebe gnädige Frau, wenn ich zu diesem
improvisierten Kaffeebesuch auch meinerseits etwas beisteuere — ich habe von unserm
guten Dolcetti ein paar Kuchen mitgebracht."
„Ah, Sahnentörtchen, mein Lieblingskuchen — nein, wie aufmerksam — in der
Tat, Kranzler in Berlin hat sie nicht besser.“
„Ja — ich esse sie auch gern, und meine Kinder schwärmen dafiir. A propos,
Kinder — was macht denn Ihr Jüngster, liebe Frau Direktor, der Mediziner?"
„Paul sitzt tief in der Arbeit, er steht dicht vor dem Physikum; der arme Junge,
hätte er es erst hinter sich — in Berlin wird auch so schwer geprüft.“
„Mein Mann hat viele Freunde in der Berliner Fakultät — wenn wir Ihnen mit
einer Empfehlung helfen könnten — lieber Gott, ein gutes Wort gibt persönliches
Interesse, und wem man menschlich näher steht-"
„Sie sind überaus gütig; eine Empfehlung von Geheimrat Wildner, die öffnet
natürlich alle Türen und alle Herzen. Wir wären Ihnen außerordentlich dankbar, und
was in unsern Kräften steht — aber Sie, liebe Freundin, bedürfen niemals einer Hilfe!"
„Doch, doch, Liebste, sorgenlos ist niemand. Sehen Sie, mein Hans, ein so be-
gabter Junge, tüchtiger Mathematiker — und Englisch liest er wie Wasser — aber
Latein — Latein ist seine schwache Seite."
„Aber ich bitte Sie, liebste Wildner, Hans ist doch der Versetzung sicher — ich
will natürlich heute abend sofort mit meinem Manne sprechen — — darf ich noch
einmal eingießen?"
„Bitte sehr — nein, dieses Aroma! Ein unvergleichlicher Kaffee!“ — —
Eine Woche später fand im Gymnasium die Versetzungskonferenz statt. Um den
großen Tisch saßen die Lehrer, in der Mitte Professor Schmiedeberg, der Direktor,
ihm schräg gegenüber Dr. Hellmut. Jeder einzelne der Schüler wurde geistig vor
diesen Äropag gestellt, und wehe dem, der nicht als völlig tadellos befunden wurde;
so kam auch der Obersekundaner Hans Wildner an die Reihe. Seine Pädagogen
stellten ihm im gänzen ein leidliches Zeugnis aus, nur die antiken Sprachen ließen zu
wiinschen übrig.
„Griechisch möchte ich noch gelten lassen," sagte Dr. Hellmut, „aber Latein?“
„Ist der Schüler da wirklich so auffallend schwach?“ fragte der Direktor. Der
junge Philologe kämpfte einen schweren Kampf. Elisens liebliches Gesichtchen stand
vor seinem Geiste, das so flehend und so traurig ausgesehen hatte, als kürzlich auf
die Leistungen des Bruders die Rede gekommen war. Sie hatte ihn zwar in taktvoller
Weise nicht geradezu gebeten, aber er hatte doch aus ihren schönen dunkeln Augen
gelesen, was sie verschwieg. Aber dann tauchte vor seinen geistigen Blicken das
ernste Minervenhaupt auf, das daheim auf seinem Schreibtische stand: die Wissen-
schaft und die Wahrheit über alles! Atnicus Plato, magis amica — veritas!
„Wildner ist sehr schwach,“ sagte er. „Ich kann für die Versetzung nicht
stimmen. Wer noch als Obersekundaner ,facior‘ schreibt, ist für die höchste Stufe
des humanistischen Gymnasiums nicht reif."