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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 27.1912/​1913

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21. Heft
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Goldstein, Moritz: Die Schönheit der Maschine
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Saltzwedel, Hans von: Frau Mytala, [4]: nach einer wahren Begebenheit erzählt
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https://doi.org/10.11588/diglit.31170#0653

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MODERNE KUNST.

267

gebracht, was wir bisher nicht kannten: die Schönheit der Geschwindigkeit. Der
Reiz dieses neuen Machtgefühls hat sich sogar ein eignes Werkzeug geschaffen:
das Auto. Im Zuge sind wir von einem königlichen Beamten abhängig, der das
Tempo nach staatlich festgesetzten Regeln bemißt. Im Auto haben wir es in
eigner Hand und können dem neuen Dämon Geschwindigkeit nach eignem
Gefallen dienen. Wir alle haben ja die Erfindung dieses Vehikels miterlebt
und haben beobachtet, wie aus einem ungeschickten Wagen, dem die Pferde
fehlen, sich nach und nach die moderne Form entwickelte, in der die Be-
quemlichkeit des Reisenden und die Schnelligkeit der Fortbewegung einen beinahe
klassischen Ausdruck gefunden hat. Schon sind Apostel aufgetreten, die den Ton
der Hupe für die Musik der Zukunft halten, und ohne Zweifel hat dieser rück-
sichtslos hervorbrechende herrische Laut etwas vom Klange unserer Zeit. Denken
wir endlich noch an den Luftsport: die Verbindung von Größe und Schlankheit bei
einem Zeppelinschiff hat uns ebenso überrascht wie die graziösen Wendungen
eines Aeroplans. Übrigens ist hier, trotz unserer Bewunderung, das ästhetische
Wohlgefallen noch nicht sicher genug. Man hat vorläufig das ängstliche Gefühl,
die ruhige Schönheit des blauen Himmels würde uns zerstört
werden, wenn es erst einen richtigen Luftverkehr gibt. Allein
vielleicht weicht diese Sorge, wie sie gegenüber den anderen
technischen Wundern gewichen ist, sobald erst jeder von uns
selber durch die Luft geflogen und sich an das Luftschiff
Erinnerungen an eigne Erlebnisse knüpfen. Und vielleicht
träumen wir einmal dem Aeroplan ebenso nach wie einem am
Horizont verschwindenden Segel.

Der Pionier neuer Schönheit ist immer der Künstler, und
so haben denn auch Künstler uns erst die Augen für die Aesthetik
der Maschine öffnen müssen. Wie die bildende Kunst sich des
neuen Stoffes bemächtigt — man denke etwa an Menzels Eisen-
walzwerk —, so hat von der Mitte des 19. Jahrhunderts an die
Dichtung die Maschine in ihren Bann gezogen und mit ihrem
Zauber geschmückt. Grandios setzt Zola im „Germinal“ der
dumpfen Masse der Bergarbeiter die Maschine entgegen, und
wenn sich die Wut der von Hunger und Not Gepeinigten so
weit steigert, daß sie sich hinreißen lassen, eine Maschine zu
zertrümmern, so wirkt es wie ein Verbrechen begangen an einem
lebenden Wesen. Als finsterer Dämon und böser Geist steht
die Maschine, die die Handarbeit verdrängt, in Hauptmanns
Drama hinter der Weber-
not, und das soziale Ver-
hängnis der überlegenen
Konkurrenz der Dampf-
kraft, der Verdrängungdes
Alten durch das Neue ist
oft genug in Romanen
und Dramen dargestcllt
worden. Überhaupt ist
die vielfache literarische
Verwendung der moder-
nen Technik jedem gegen-
wärtig. Ein Auto darf
in keinem Roman mehr
fehlen, und der neueste
Trick ist das Flieger-
drama, ohne daß dies
Problem bisher künstle-
risch gelöst worden wäre. Merkwürdig schwer sind zwei andere Erfindungen, die
docli aüch das moderne Leben von Grund auf umgestaltet haben, ästhetisch zu ver-
werten: Telegraph und Telephon. Zwar ist die Kriminal- und Detektivliteratur
ohne diese Requisiten nicht denkbar, zwar klingelt die schrille Glocke des Fern_
sprcchers auf der Bühne in jeder modernen Posse. Aber auch wenn ein be-
deutender Lyriker in seinem größten Werke das Telephon allen Ernstes inmitten
einer fast tragischen Handlung benutzt und lyrisch darstellt, ich meine Richard
Dehmel in seinem Gedichtzyklus „Zwei Menschen“: das Wagnis ist doch wohl

nicht gelungen, sondern zwischen Geschmacklosigkeit und Gewaltsamkeit stecken-
geblieben; während die Schönheit des Zweirades und des Radfahrens in dem-
selben Werke zu entschiedener Wirkung gebracht worden ist. Der eigentliche
Entdecker und zugleich Bändiger aller neuen Schönheiten der Technik aber ist
der belgische Lyriker Verhaeren.

Flat also die Poesie durch den Aufschwung moderner Industrie eine Förde-
rung erfahren und ist sie für die Zukunft zu erwarten? Was wir unzweifelhaft
erhalten haben, ist eine Veränderung des Milieus, eine Bereicherung an Farben,
wie sie jede Zeit für Darstellungen aus der Zeit mit sich bringt. Die Schilderung
einer Reise von heute ist natürlich etwas anderes als einer Reise vor hundert
Jahren, und ein Roman in einer modernen Fabrikstadt sieht anders aus als eine
Liebesgeschichte im Versailles der Rokokozeit. Wir haben ferner an neuen
Themen bekommen den Kampf von Ilandarbeit und Maschine, den vierten Stand
und die soziale Frage. Die rein menschliche Ausbeute aber ist keineswegs ebenso
groß. Die Geschichte des Erfinders z. B. ist noch nicht geschrieben und vielleicht,
als ein rein geistiger Vorgang, überhaupt nicht zu schreiben. Gewiß ist es ein

Paul Halke: Im Hippodrom. Das Engelschwingen.

tragisches Schicksal, wenn jemand im Aeroplan auffliegt, abstürzt und zerschellt;
aber nicht neu gegenüber dem Schicksal des Strebens und Scheiterns, wie
es seit jeher Menschenlos gewesen ist. Anderungen im Kostüm — mehr nicht.
Bis zum eigentlich Menschlichen reicht das alles nicht. Und wie der Mensch,
trotz Dampf und Elektrizität, im Grunde der gleiche geblieben ist, so sind auch
die Themen des Dichters im Grunde noch immer dieselben und werden es
voraussichtlich auch bleiben. Denn die echte Poesie hat es nicht mit so oder so
kostümierten Puppen zu tun, sondern mit der Kreatur. Dr. M. Goldslein.

Frau Myfala.

Nach einer wahren Begebenheit erzählt von Hans von Saltzwedel.

[Fortsetzung.] ___

Sjlgüas ist diese Frau anders als seine Geliebte!“ so zürnte ich
|2) mit mir selbst. Und dabei fühlte ich doch ganz genau, daß
dem nicht so sein könnte, daß diese Frau trotz des gegenteiligen An-
scheins etwas ganz, ganz anderes sein mußte wie ein gewöhnliches Ver-
hältnis. Ich aber wollte durchaus die Berechtigung zu meinem sträflichen
Verlangen haben und deshalb mußte ich und wollte ich dem äußeren
Schcine mehr glauben, als meinem sicheren Empfinden. — Ja, aus
Gemeinem ist der Mensch gemacht! —

~~ ' Copyright 1913 by Rich. Bong.

Wie ein Trunkener also schwankte ich durch die helle Mondnacht_
ohne recht zu wissen, was in mir vorging, und was ich wollte, bis ich
mich an derselben Stelle wie vor drei Tagen wiederfand. -— Gleich einem
lauernden Raubtiere stand ich geduckt hinter dem Zaun und sah mit
begehrlichen Blicken nach den drei schwach erleuchteten Fenstern in der
Hinterfront des großen Mietshauses.

Gesehen habe ich in Wirklichkeit hinter den geschlossenen Fenster-
vorhängen wohl so gut wie nichts — — zwei menschliche Schatten, die
 
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