L. Loiix: Goethc-Laube, altes Pfarrhaus und alte Kirche in Sesenheim.
- Friederike Brions Heimat.
Zur hundertjälirigen Wiederkehr ihres Todestags am 3. April 1913.
Vü)jas kleine Dörfchen Sesenheim im unterelsässischen Ried wäre wohl außer-
lialb der näheren Nachbarschaft wenig bekannt, wenn sein Name nicht
mit goldenen Buchstaben auf den schönsten Seiten verzeichnet stünde, die
Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ seiner Jugendzeit gewidmet hat. Dadurch
kam der Name in aller Mund, und entziickt von dem Zauber der Goetheschen
Schilderung haben sich schon bald nach dem Erseheinen des ersten Teils von
„Dichtung und Wahrheit“ zahlreiche Wallfahrer auf den Weg gemacht, um den
Spuren nachzugehen, die des größten Dichters Erlebnis und Kunst geweiht
hatte. Im Pfarrhaus und in den Gasthöfen des Dorfes, im „Ochsen“ und im-
„Anker“ kehrten begeisterte deutsche Studenten, aber auch viele Ausländer,
namentlich Söhne Britanniens, ein. Sie wurden ziemlich enttäuscht, wie wir
aus den zeitgenössischen Berichten entnehmen können, z. B. aus demjenigen
Ludwig Tiecks, der schon 1822 als einer der ersten namhaften Besucher in
Sesenheim gewesen ist und seine Beobachtungen aufgezeichnet hat. Sie
hatten ein paradiesisches Wunder zu schauen gehofft und ein kleines Elsässer
Bauerndorf wie viele andere gefunden. Heute liegt der Ort, bequem mit der
Eisenbahn erreichbar, an der
längs dem Rheine führenden
kleinen Strecke von Straßburg
nach Lauterburg. Die Bahn
folgt beinahe dem Wege, der
Goethe als Student oft zu lang
für ein mit Liebessehnsucht
erfülltes Herz erschien, wenn
er ihn auf gemietetem Pferde
zurücklegte. Man hat auf der
kurzen Reise Gelegenheit, das
landschaftliche und landwirt-
schaftliche Bild dieses Teils
des Elsasses kennen zu lernen;
man fährt zwischen Tabak-
feldern und großen Hopfen-
gärten hindurch, und im Spät-
herbste trocknen zu Bündeln
gebunden die blanken Mais-
kolben unter den kleinen Uber-
hangdächern derBauernhäuser.
Man nehme von diesen Bildern,
so viel sich bietet, in sich
auf, so hat man den Gewinn
erworben, den einem klugen
Wanderer jeder neue Eindruck
bieten soll, und braucht später
den verlorenen Tag nicht zu
beklagen; denn die meisten,
die heute die Reise nach dem
elsässischen Goethedorf un-
ternehmen, kehren wenig be-
friedigt zurück. Sie haben wenig
__ [Nacluiruck verboten.J
Goelhesches mehr entdecken können. Als Goethe im Oktober 1770 mit seinem
Freunde Weyland zum ersten Male das Haus aufsuchte, dessen Gastfreiheit und
Anmut ihm immer höchlich gerühmt worden waren, bereitete ihn der Begleiter
auf den schlechten baulichen Zustand der Pfarrei vor, die nach seiner Angabe
einem alten und schlechten Bauernhaus ähnlich sah. Goethe dagegen gefiel das
Ganze wohl, da cr es malerisch fand und es das besaß, was ihn „in der nieder-
ländischen Kunst so zauberisch angesprochen halte“. „Haus, Scheune und Stall
befanden sich in dem Zustande des Verfalls gerade auf dem Punkte, wo man
unschlüssig, zwischen Erhalten und Neuaufrichten zweifelhaft, das eine unterläßt,
ohne zu dem andern gelangen zu können.“ Wir wissen aus „Dichtung und
Wahrheit“, daß das Familienoberhaupt, der Pfarrer Johann Jacob Brion, nichts
weniger als erbaut von diesen niederländisch-malerischen Qualitäten seines Wohn-
sitzes war. Ihn beschäftigte der notwendige Neubau so sehr, daß er davon bei
jeder Gelegenheit sprach und seine Gäste mit seinen Baugedanken langweiite.
Goethe hatte diese schwache Seite des aiternden Herrn bald entdeckt und benutzte
sie, indem er auf die endlosen Baugespräche freundlich einging, um sich däs Herz
des Vaters der Liebsten zu
gewinnen, noch ehe er sich
ihrer selbst versichert hatte.
Sein Versprechen, einen Bau-
plan auszuarbeiten, wobei ihm
die zeichnerische Schulung, die
er zu Hause empfangen hatte,
zustatten kam, bot ihm den
willkommenen Anlaß, sich Frie-
derikensKreisen alsbald wieder
nähern zu können. Aber seine
Mtihe, mit Hilfe des in derlei
Arbeiten ebenfalls unerfah-
renen Dorfschulmeisters den
Bauplatz abzumessen und dann
d urch einen befreundeten StrafT
burger Baukundigen einen rich-
tigenPlan ausarbeiten zu lassen,
war umsonst. Der Pfarrer
Brion ist in dem alten Hause
bald nach seiner Gattin ge-
storben, und noch sein über-
nächster Amtsnachfolger mußte
sich gedulden, ehe die Gemeinde
die Mittel zu dem iängst unauf-
schiebbaren Neubau aufzu-
bringen vermochte. Dem Neu-
bau im einfachen Stile des
späten ländlichen Empires
fehlte der Reiz der Erinnerung
sowohl wie der einer male-
rischen Wirkung. Die kleine
Kirclie, in der Pfarrer Brion
|
L. Loux: Straße in Sescnheim.
- Friederike Brions Heimat.
Zur hundertjälirigen Wiederkehr ihres Todestags am 3. April 1913.
Vü)jas kleine Dörfchen Sesenheim im unterelsässischen Ried wäre wohl außer-
lialb der näheren Nachbarschaft wenig bekannt, wenn sein Name nicht
mit goldenen Buchstaben auf den schönsten Seiten verzeichnet stünde, die
Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ seiner Jugendzeit gewidmet hat. Dadurch
kam der Name in aller Mund, und entziickt von dem Zauber der Goetheschen
Schilderung haben sich schon bald nach dem Erseheinen des ersten Teils von
„Dichtung und Wahrheit“ zahlreiche Wallfahrer auf den Weg gemacht, um den
Spuren nachzugehen, die des größten Dichters Erlebnis und Kunst geweiht
hatte. Im Pfarrhaus und in den Gasthöfen des Dorfes, im „Ochsen“ und im-
„Anker“ kehrten begeisterte deutsche Studenten, aber auch viele Ausländer,
namentlich Söhne Britanniens, ein. Sie wurden ziemlich enttäuscht, wie wir
aus den zeitgenössischen Berichten entnehmen können, z. B. aus demjenigen
Ludwig Tiecks, der schon 1822 als einer der ersten namhaften Besucher in
Sesenheim gewesen ist und seine Beobachtungen aufgezeichnet hat. Sie
hatten ein paradiesisches Wunder zu schauen gehofft und ein kleines Elsässer
Bauerndorf wie viele andere gefunden. Heute liegt der Ort, bequem mit der
Eisenbahn erreichbar, an der
längs dem Rheine führenden
kleinen Strecke von Straßburg
nach Lauterburg. Die Bahn
folgt beinahe dem Wege, der
Goethe als Student oft zu lang
für ein mit Liebessehnsucht
erfülltes Herz erschien, wenn
er ihn auf gemietetem Pferde
zurücklegte. Man hat auf der
kurzen Reise Gelegenheit, das
landschaftliche und landwirt-
schaftliche Bild dieses Teils
des Elsasses kennen zu lernen;
man fährt zwischen Tabak-
feldern und großen Hopfen-
gärten hindurch, und im Spät-
herbste trocknen zu Bündeln
gebunden die blanken Mais-
kolben unter den kleinen Uber-
hangdächern derBauernhäuser.
Man nehme von diesen Bildern,
so viel sich bietet, in sich
auf, so hat man den Gewinn
erworben, den einem klugen
Wanderer jeder neue Eindruck
bieten soll, und braucht später
den verlorenen Tag nicht zu
beklagen; denn die meisten,
die heute die Reise nach dem
elsässischen Goethedorf un-
ternehmen, kehren wenig be-
friedigt zurück. Sie haben wenig
__ [Nacluiruck verboten.J
Goelhesches mehr entdecken können. Als Goethe im Oktober 1770 mit seinem
Freunde Weyland zum ersten Male das Haus aufsuchte, dessen Gastfreiheit und
Anmut ihm immer höchlich gerühmt worden waren, bereitete ihn der Begleiter
auf den schlechten baulichen Zustand der Pfarrei vor, die nach seiner Angabe
einem alten und schlechten Bauernhaus ähnlich sah. Goethe dagegen gefiel das
Ganze wohl, da cr es malerisch fand und es das besaß, was ihn „in der nieder-
ländischen Kunst so zauberisch angesprochen halte“. „Haus, Scheune und Stall
befanden sich in dem Zustande des Verfalls gerade auf dem Punkte, wo man
unschlüssig, zwischen Erhalten und Neuaufrichten zweifelhaft, das eine unterläßt,
ohne zu dem andern gelangen zu können.“ Wir wissen aus „Dichtung und
Wahrheit“, daß das Familienoberhaupt, der Pfarrer Johann Jacob Brion, nichts
weniger als erbaut von diesen niederländisch-malerischen Qualitäten seines Wohn-
sitzes war. Ihn beschäftigte der notwendige Neubau so sehr, daß er davon bei
jeder Gelegenheit sprach und seine Gäste mit seinen Baugedanken langweiite.
Goethe hatte diese schwache Seite des aiternden Herrn bald entdeckt und benutzte
sie, indem er auf die endlosen Baugespräche freundlich einging, um sich däs Herz
des Vaters der Liebsten zu
gewinnen, noch ehe er sich
ihrer selbst versichert hatte.
Sein Versprechen, einen Bau-
plan auszuarbeiten, wobei ihm
die zeichnerische Schulung, die
er zu Hause empfangen hatte,
zustatten kam, bot ihm den
willkommenen Anlaß, sich Frie-
derikensKreisen alsbald wieder
nähern zu können. Aber seine
Mtihe, mit Hilfe des in derlei
Arbeiten ebenfalls unerfah-
renen Dorfschulmeisters den
Bauplatz abzumessen und dann
d urch einen befreundeten StrafT
burger Baukundigen einen rich-
tigenPlan ausarbeiten zu lassen,
war umsonst. Der Pfarrer
Brion ist in dem alten Hause
bald nach seiner Gattin ge-
storben, und noch sein über-
nächster Amtsnachfolger mußte
sich gedulden, ehe die Gemeinde
die Mittel zu dem iängst unauf-
schiebbaren Neubau aufzu-
bringen vermochte. Dem Neu-
bau im einfachen Stile des
späten ländlichen Empires
fehlte der Reiz der Erinnerung
sowohl wie der einer male-
rischen Wirkung. Die kleine
Kirclie, in der Pfarrer Brion
|
L. Loux: Straße in Sescnheim.