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Moderne Kunst: illustrierte Zeitschrift — 27.1912/​1913

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Stiehler, Arthur: Zur Psychologie der Flimmerkiste
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Zup Ps9ehologie dep plimmepJ^iste.

Von Dr. Arthur Stiehler.

3.

[Nachdruck verboten.]

Xjb/on allen technischen Fortschritten und Erfindungen unserer Tage kommt
keine der Zeitstimmung so sehr entgegen als der Kinematograph. Moderne
Menschen beten die Schnelligkeit an, Weltrekorde werden mit und ohne Draht
um den Erdball telegraphiert, der rasche Wechsel ist Mode; man wechselt
seine Kleidung, seine Vergnügungen, seine Wohnung, seinen Beruf, seine An-
sichten, seinWeib, seinen Glauben, sein Vaterland; alles schnellt
durcheinander. Für den heutigen Aschingerbrotschlin-
ger, den Telegraphenstilschreiber, den Autoraser.

Luftflieger und D-Zugfahrer, der durch die
Welt springt wie ein Grashüpfer über
die bunten Wiesenblumen, konnte es
gar nichts Netteres geben als die
Erfindung der Flimmerkiste, die
die Nervenzuckungen wie ein
eilfertiger Schrittmacher be-
schleunigt, die Phantasie auf-
scheucht, daß sie durch Zeit
und Raum saust — mit ge-
.waltiger Schnelle vom Him-
mel durch die Welt zur■Hölle.

„Icli habe keine Zeit, du
hast keine Zeit, er hat keine
Zeit,-wir, ihr, sie — alle ha-
ben- keine Zeit“ — das ist das
Motto unserer Tage; das ist auch
der Inbegriff der Lichtspielbühne.

Ein ganzes Jahrhundert in zwei Minu-
ten abdrehen!. Donnerwetter nochmal,
das ist famos, das ist Kunst, das ist — nun,
wie ist es.denn? —- das ist modern!

Na, und wie ist es mit der Vertiefung, mit dem
Durchdringen, mit der geistigen Sammlung, mit dem Reifen-
lassen, tnit der organischen Entwicklung?

Unmodern!

In der Filmsmaschine wird die Poesie nach dem Meter gemessen. Für
1200 m „Opfer der Pflicht“ Uh-ess-weh zahlt der Kinopächter wöchentlich
35—50 Mark. — Das ist ein Geschäft!

Händeringend stehen die Theaterdirektoren an der Erfolgrennbahn und
flehen: „Gesetze gegen den Kintopp! Aber möglichst mit Zuchthausparagraphen!
Unsere Bude ist leer! Die Klappstuhllädchen sind voll, übervoll, nachmittags
schon und abends wieder! Wo bleibt der Reichstag? Wo die Polizei? Wo
bleibt Sitte, Anstand, Kunst?“

Denken wir einmal über die psychologischen Grundlagen des Ivinoerfolges
und der Bühne nach.

Die Lichtspiel-
bühne gibt selten die
Farbe, nie das Plasti-
sche. Sie sprichtnicht,
sie gibt nicht den hei-
ßenSchrei derLeiden-
schaft, nicht das süße
Liebesgeflüster. Ihre
schäumenden Meeres-
we'llen sind stumm;
ihre hingemordeten
Menschen stöhnen
nicht auf in ihrer
Qual; ihre rauchen-
den Flinten knallen
nicht; ihre Gestalten
haben keinen Kör-
per. Auch der dickste
Kinomensch ist in
Wirldichkeit nur eine
Fläche. Die Films-
kuns.t ist nicht einmal
konsequent in ihrer
Erscheinungsform;
sie nimmt, wenn ihre
Ausdrucksmöglich-
keit zu Ende ist, zum
erklärenden Wort
ihre Zuflucht.

Asta Nielsen im Kinoschauspiel „Totentanz“
Phot. Xlt.-Büro Moritz Pordes, Charlottenburg,

„Adolf erkennt in dem armen Bettelweib seine verlassene Geliebte“ oder
so etwas Ahnliches bekommt man zu lesen. Es ist wie auf den frühmittelalter-
lichen Gemälden, wenn die Künstler ihren Gestalten Spruchbänder aus dem
Munde schießen lassen, auf denen steht, was sie sagen.

Und doch, wmlch eine unendlich reiche Fülle von Eindrücken, Spannungen,
Bildern und Vorstellungen vermag die stumme und doch so
geistreiche Erfindung Edisons auch in kürzester Zeit
auf die Leinwand zu zaubern!

Und was seine Moral betrifft: nichts hindert
ihn, ein warmherziger Verteidiger Armer
und Elender, ein scharfer Verspotter
der Scheingrößen, ein Beleuchter
dunkler Abgründe des Lebens,
ein Prediger in der Wüste des
trockenen Daseins zu sein. Er
kann dem romantischen Zau-
berer, dem vielgereisten Eth-
nographen, dem kenntnisrei-
chenHistoriker seine Dienste
weihen. •— Langweilig zu
sein braucht er nie, weii
die Schnelligkeit im Wechsel
seiner Bilder, die Leichtigkeit,
mit der er die Einbildungskraft
seine.r Zuschäuer. von Ort zü. Ort
führt, fast unbegrenzt sind. —- Er
täuscht ein wohltuendes Gefühl geisti-
ger Frische ünd Elastizität vor; er ist
reicher und bupter als das.Leben selbst.. Er
schlägt die kühnste Kolportageroman-Phäntasie,
wie ja auch schon zahlenmäßig nachgewdesen ist, daß
seit dem Auftreteri des Kinos der Vertrieb der Hintertreppen-
romane zurückging.

Es ist sicher ganz aus-sichtsloS, die Hochflut der kinemato-
graphischen Neigung im Publikum nur durch „Schimpfen“ ünd „Schreien“ nach
luftabschneidenden Gesetzesvorschriften, wie es ein .Teil der Bühnenleute tut, be-
kämpfen zu wollen.

Die Wahrheit ist: die heutige Bühne, wie sie nun, einmal ist, hat. selbst
viele Fehler; eine Reihe von Verstößen gegen guten Geschmack und Sitte,
ernste Kunst und ästhetische Gefühle, die man dem Kino vorwirft, hat sich die
Bühne seit Jahren selbst zu Schulden kommen lassen.

Die Domäne des Theaters ist das Dramatische — sollte es sein!

Was ist dramatisch? Auch die schnellste Aneinanderreihung von Gescheh-

nissen braucht noch
kein Drama zu sein.

Und das, was man
im Bühnenleben ein
„Stück“ nennt, wird
kein Drama, wenn es
noch so viele lyrische,
epische, dekorative,
dialogische Vorzüge
und Schönheiten auf-
weist; es muß drama-
tische Vorzüge haben.
Dramatisch sind die
Seelenbewegungen,
welche eine schöpfe-
rische Intelligenz bis
zum Aüsbrechen eines
'l'uns verdichtet und
in Konflikt gesetzt
hat. Nicht dramatisch
ist die Veranschau-
lichung der Aktion an
sich, und sei sie noch
so lebhaft; durch ihre
Lebhaftigkeit könnte
sie höchstens „thea-
tralisch“ werden.

Ein Verwechseln
und Vermischen des
äußerlich Theatrali-

Phot. III -Büro Moritz
Pordes, Charlottenburg.

XXVII 2. z.-z.

Asta Nielsen im Kinoschauspiel „Die Verräterin“, Episode aus dem Kriege 1870/71-
 
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